Interview
Christiane Reinecke: »In historischer Perspektive wird deutlich, wie folgenreich Ungleichheiten im urbanen Wohnen sind«
26. Januar 2022 | Konstantin Maier
Die Historikerin Christiane Reinecke stellt in Ihrem neuen Buch »Die Ungleichheit der Städte« die städtische Peripherie ins Zentrum und entwirft daraus einen neuen Blick auf soziale Ungleichheit. Reinecke ist Professorin an der Universität Osnabrück.
Frau Prof. Dr. Reinecke, in Ihrem neuesten Buch »Die Ungleichheit der Städte. Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik« beschäftigen Sie sich mit einem Thema, das viele in ihrem Alltag vermutlich lieber ausklammern würden. Warum haben Sie das nicht getan? Würden Sie uns etwas mehr darüber verraten, was die Hintergründe dieses Buches sind und was Sie dazu bewegt hat, sich gerade dieses Thema vorzunehmen?
Reinecke: Als Historikerin befasse ich mich zwar mit der Vergangenheit, aber die Fragen, die mich umtreiben, haben viel mit unserer Gegenwart zu tun. Dabei sind es vor allem drei Beobachtungen, die mich dazu bewegt haben, dieses Buch zu schreiben.
Nachdem ich mich davor lange mit migrationsgeschichtlichen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts befasst habe, hat mich erstaunt, wie häufig Migration und die Diversität städtischer Räume in aktuellen politischen Debatten als irgendwie neue Phänomene dargestellt werden. Und das, obwohl westeuropäische Gesellschaften wie die deutsche oder französische im 20. Jahrhundert durchgehend von Migration geprägt waren und es aus historischer Sicht gute Gründe dafür gibt, urbane Probleme zunächst einmal auf den unterschiedlich verteilten Zugang zu Chancen und Ressourcen zurückzuführen und nicht einfach auf «die Migration».
Und das ist die zweite Frage oder das zweite Wundern, das am Anfang meines Buchs stand: Ich kannte Studien über Armut, Wohnungleichheit und Segregation in Großstädten des ausgehenden 19. Jahrhundert. Auch wusste ich, wie viel sich anhand der damaligen Faszination für sogenannte Slums über den Umgang mit «Klasse» und «Rasse», über Expertenwissen, kolonial geprägte Sozial- und Segregationspolitiken und gesellschaftliche Selbstbeschreibungen lernen lässt. Aber ich wusste deutlich weniger darüber, wie sich Ungleichheiten im urbanen Wohnen bzw. wie sich die Auseinandersetzung damit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten. Ob es im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert Äquivalente zu den viel besuchten und viel diskutierten Slums des späten 19. Jahrhunderts gab, diese Frage hat mich fasziniert.
Drittens schließlich fiel mir auf, wie häufig aktuell in den Medien und in politischen Diskussionen konkrete Wohnsituationen herangezogen werden, um deutlich zu machen, was Armut, Ungleichheit oder Diversität konkret bedeuten. Oft sind solche Konkretisierungen, bei denen, sagen wir mal: die im Weddinger Sozialwohnungsbau lebende migrantische Hartz-4-Familie der im Prenzlauer Berg wohnenden nicht-migrantischen Akademikerfamilie gegenübergestellt werden, klischeehaft. Es sind klischeehafte Darstellungen, die aber viel darüber aussagen, wie wir unsere Gesellschaft verstehen und ordnen. Und die Frage, wer oder was Einfluss darauf hat, wie wir Gesellschaft verstehen und was wir als gesellschaftliches Problem betrachten: Diese Frage interessiert mich besonders. Zumal gerade historische Analysen zeigen, dass sich zwar permanent verschiebt, was als «Problem» gilt, dass solche Problemdefinitionen aber massiv politische Entscheidungen beeinflussen – und damit auch die Realität in den Städten, in denen wir leben. Wie Expert:innen, Journalist:innen und kommunalpolitische Akteure, durchaus aber auch Aktivistinnen und Aktivisten urbane Probleme definierten und auf diese Weise städtische Sozial- und Wohnpolitiken prägten, das ist jedenfalls ein zentrales Thema meines Buchs.
Villenvororte, moderne Hochhauskomplexe, Arbeitersiedlungen und Plattenbau oder sogar die völlig in Verruf geratenen Banlieues – daran denken vermutlich viele Leser, wenn von Ungleichheit im urbanen Raum die Rede ist. Ihr Blick ist jedoch viel weiter. Könnten Sie uns kurz die von Ihnen untersuchten Räume kartieren und uns einen Überblick darüber geben, wie sich soziale Ungleichheit im urbanen Raum wortwörtlich zementiert oder auch reproduziert?
Reinecke: Eigentlich beschäftige ich mich in meinem Buch durchaus mit genau solchen Räumen, die für viele Leute zum Inbegriff sozial benachteiligter oder irgendwie problematischer Wohnviertel geworden sind: mit den Großsiedlungen am Rande deutscher und zumal französischer Großstädte in der jüngeren Zeit etwa, mit Obdachlosen- und Barackensiedlungen in der Peripherie französischer, algerischer und westdeutscher Städte der 1960er Jahre oder auch mit innerstädtischen Sanierungsvierteln, die in den 1970er oder 1980er als sogenannte «Ghettos» oder «Ausländerquartiere» Schlagzeilen machten.
Nun gibt es, allgemein gesprochen, eine Reihe von Faktoren, die erklären helfen, wie es dazu kommt, dass in bestimmten Vierteln überdurchschnittlich viele Haushalte wohnen, die mit einer Ballung sozialer Probleme zu tun haben. Die Entwicklung städtischer Immobilienmärkte in ihrem Zusammenspiel mit Stadtplanungs-, Wohn- und Sozialpolitiken gehört dazu. Gleiches gilt für die Entwicklung lokaler Arbeitsmärkte, für infrastrukturelle Probleme oder für die Diskriminierung bestimmter Gruppen (wie etwa Großfamilien) auf dem Wohnungsmarkt. Das alles sind Faktoren, die dazu beitragen können, dass in bestimmten Vierteln nur diejenigen wohnen, die keine andere Wahl haben.
Tatsächlich gehe ich auf diese Faktoren in meinem Buch auch ein, aber ich hebe darin vor allem den Einfluss städtischer Modernisierungspolitiken hervor, die Mitte des 20. Jahrhunderts global bedeutsam wurden. Die in sehr vielen Ländern meist unter staatlicher Ägide erbauten Großsiedlungen sind ebenso ein Produkt dieser Modernisierungspolitiken wie Kahlschlagsanierungen und damit der Umbau innerstädtischer Altbau- und Arbeiterviertel. Die vollkommene Umgestaltung von Städten im Namen der Moderne, die mit grundlegenden Annahmen zur «Modernisierungsbedürftigkeit» von Gesellschaft und zur «Modernität» und «Integration» bestimmter sozialer Gruppen verknüpft war, wirkte sich besonders nachhaltig darauf aus, wer in einer Stadt wo wohnte und wie mit dort mit Ungleichheitsproblemen umgegangen wurde.
Eingangs zitieren Sie den französischen Schriftsteller und Filmemacher Georges Perec, der für die Betrachtung des Raums als solchen wirbt, doch muss man bei ebendieser Betrachtung – gerade der französischen Räume – eher an Michelle Houellebecq mit seinen Schilderungen sozialer, baulicher und individueller Isolation und Abgrenzung denken. Was macht denn einen Ort nun zur Problemzone? Und wie sind die von Ihnen untersuchten Problemzonen zu diesen geworden?
Reinecke: Wichtig ist zunächst die Beobachtung, dass sich permanent ändert, was für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen eine urbane Problemzone ist. Sicher, die Wohnverhältnisse in den selbst erbauten Barackensiedlungen am Rande französischer Großstädte oder in den westdeutschen Obdachlosensiedlungen der 1960er Jahre würden heute wie damals als schlecht gelten. Weil sie beengt waren, marode, schädigend für die Gesundheit ihrer Bewohner, weil diese Siedlungen schlecht angebunden waren und weil sie stark stigmatisierend wirkten. Die Hochhausiedlungen am Stadtrand hingegen waren in ihrer Anfangsphase keineswegs Problemzonen. Der Umzug dorthin wurde zunächst eher als sozialer Aufstieg gerahmt, während in den heute so beliebten innerstädtischen Altbauvierteln in erster Linie einkommensschwache Schichten wohnten. Das hing nicht nur mit dem unterschiedlich hohen Wohnkomfort in diesen Räumen zusammen, sondern hatte auch etwas mit wechselnden Wohnvorlieben und gesellschaftlichen Konstellationen zu tun. Am Beispiel der randstädtischen Großsiedlungen etwa lässt sich gut nachvollziehen, dass die schlechte Presse dort zuerst kam und die Probleme vor Ort deutlich später; in jedem Fall war die Wohnzufriedenheit dort lange deutlich höher als es der schlechte Ruf vieler Siedlungen nahelegte. Ein anders gelagertes Auseinanderstreben von überregionalem Diskurs und lokalen Dynamiken lässt sich an zahlreichen sogenannten «Ausländervierteln» beobachten, in denen die Wohnbevölkerung deutlich heterogener war als in politischen Debatten suggeriert und in denen die sozialen Probleme häufiger weniger ausgeprägt waren als es die verdichteten Warnungen vor der «Herausbildung von Ghettos» in kommunalpolitischen Kreisen nahelegten.
Hoch medialisierte städtische Problemzonen dienten in Frankreich und Westdeutschland seit den 1950er Jahren eben immer wieder als zentrale Schauplätze gesellschaftlicher Selbstverständigungsdebatten. Vergleichsweise losgelöst von den konkreten lokalen Verhältnissen dienten sie unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren dazu, sich mit übergreifenden gesellschaftlichen Entwicklungen, wie der schwindenden Bindekraft der «Arbeiterklasse» oder der Diversität der eigenen Gesellschaft als Migrationsgesellschaft zu befassen.
In Ihrem Buch legen Sie eine postkoloniale Perspektive an und überschreiben Ihr letztes Kapitel sogar mit «Von der ‚sozialen Frage‘ zur ‚question raciale‘?». Dabei fällt auf, dass die beiden Schlagwörter die von Ihnen verglichenen Länder spiegeln, aber trotzdem eine Entwicklungslinie suggeriert wird. Wie hängen diese Fragen zusammen und vor allem, wie spiegeln sich die doch sehr unterschiedlichen historischen und kolonialen Hintergründe der beiden Länder Frankreich und Deutschland konkret in diesen Problemen wider?
Reinecke: Für beide Länder kann gelten, dass am Ende des von mir untersuchten Zeitraums, in den 1990er Jahren, Migration und das konzentrierte Beieinanderwohnen von als ethnisch oder rassisch Anders Eingeordneten als ein zentrales stadtpolitische Problem galt, während es noch in den 1950er Jahren eher die «Arbeiterfrage» war, die wohnpolitisch gelöst werden sollte. Und mir geht es auch darum zu zeigen, dass dieser Wandel in den wohn- und stadtpolitischen Debatten nicht einfach eine Reaktion auf eine sich wandelnde städtische Realität darstellte, sondern auch etwas damit zu tun hatte, wer urbane Probleme wie definierte. Kurz: die Verschiebung von der «sozialen Frage» zur «question raciale» (oder auch von klassenbasierten zu ethnisierenden und rassifizierenden Grenzziehungen) ist eine Verschiebung in den stadtpolitischen Debatten, die in beiden Ländern zu beobachten ist. Sicher, französische Stadtgesellschaften waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker von kolonialer Migration geprägt als westdeutsche, und koloniale Verwaltungspraktiken und Kategorien wurden dort unmittelbarer in den metropolitanen Raum übersetzt. Auch gab es zu der (spätestens seit 1990) hoch medialisierten Problematisierung der banlieues im deutschen Kontext kein wirkliches Pendant. Dennoch betone ich mehr die Gemeinsamkeiten der westdeutschen und französischen Entwicklung, weil auffällt, wie ähnlich urbane Konflikte dort gerahmt wurden, wie ähnlich damit umgegangen wurde – und wie sehr das etwas mit transnationalen Verflechtungen zu tun hatte. Konkret hatte es etwas damit zu tun, dass Expert:innen und Kommunalpolitiker:innen, Stadtplaner:innen und auch Aktivist:innen dort oftmals auf die gleichen Wissensbestände, politischen Vorbilder und Praktiken zurückgriffen und ihre Stadtgesellschaften auf diese Weise ähnlicher machten.
Ihr Sujet hat gerade im Zuge der Debatten um Migration, Integration, Mietexplosion, Wohnungsknappheit und Klimawandel an Brisanz gewonnen. Was würden Sie sich wünschen, dass Ihre Leser und vielleicht auch Aktivisten, Planer und die Politik von Ihrem Buch mitnehmen?
Reinecke: In der historischen Perspektive wird gut deutlich, wie folgenreich Ungleichheiten im urbanen Wohnen sind – und wie behäbig, wenn es sie einmal gibt. Umso mehr Interesse sollten die politisch Zuständigen daran haben, die aktuellen Entwicklungen an den urbanen Mietmärkten und zumal den Mangel an preiswertem Wohnraum als tiefgreifendes und gesellschaftlich folgenreiches Problem ernst zu nehmen. Die aktuell verschiedentlich zu beobachtende Entmischung innerstädtischer Quartiere, die nur noch für einkommensstarke Haushalte erschwinglich sind, sowie die damit verknüpfte Verdrängung einkommensschwacher Gruppen ist gesellschaftlich fatal. Auch hilft ein differenzierender Blick: In der Regel ist es nicht eine spezifische Gruppe allein, die ein Viertel zu einem Problemviertel werden lässt, sondern ein ganzer Komplex an Faktoren. Dieser Komplexität sollten sich alle bewusst sein, denn die Verkürzung auf ein Schlagwort oder eine Problemgruppe führt in der Regel weder zu angemessenen politischen Lösungen noch hilft sie den Bewohnerinnen und Bewohnern. Auch macht es Sinn, die Stigmatisierung bestimmter Viertel bewusst zu vermeiden und darüber hinaus nicht allein über die Bewohnerinnen und Bewohner urbaner Problemzonen zu sprechen – sondern auch mit ihnen.
Das Interview ▸erschien zuerst auf L.I.S.A., dem Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Konstantin Maier ist Mittelalter-Historiker und Redakteur des Wissenschaftsportals L.I.S.A.