Da ist es wieder: Das rassistische „Das-Wird-Man-Doch-Mal-Sagen-Dürfen!“
29. Januar 2013 | Patrick Schreiner
Anfang des Jahres hat der Thienemann-Verlag bekanntgegeben, dass er seine Kinderbuch-Klassiker durchforsten werde, um sie an den sprachlichen Wandel anzupassen. So würden beispielsweise Worte wie „Negerlein“ oder „Neger“ aus Otfried Preußlers „Kleiner Hexe“ gestrichen. Im losbrechenden Mediensturm wurde auch die Information breitgetreten, dass der Verlag Friedrich Oetinger Selbiges schon vor Jahren mit Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ gemacht habe. Und natürlich durfte ein Begriff in all dem Gegeifere nicht fehlen: Jener der „politischen Korrektheit“.
Da wird „Zensur“ und da werden „Säuberungsaktionen“ gewittert, da wird die „politische Korrektheit“ beschimpft. Da spielen sich plötzlich ausgerechnet Konservative zur Avantgarde der Werktreue, zu Paladinen der Autorinnen und Autoren, zu Rettern der abendländischen Kultur auf.
Ein Beispiel aus der Wirtschaftswoche:
Wenn nun aber auch rückwirkend ein Buch aus den Fünfzigerjahren wie „Die kleine Hexe“ „durchforstet“ werden soll, wie der Verlag ankündigt, um seine Textgestalt dem sprachlichen und politischen Wandel anzupassen, kann man getrost von einer Säuberungsaktion unter dem Deckmantel pädagogischer Fürsorge sprechen.
Oder in der Zeit:
Artikel 5 des Grundgesetzes behauptet: »Eine Zensur findet nicht statt.« Was aber, wenn sie doch stattfindet?
Was natürlich an den irren „Tugendwächtern“ der „politischen Korrektheit“ liegt:
Es ist nicht Orwells Großer Bruder, der interveniert, sondern der Kleine Bruder politische Korrektheit. Dessen rastlose Tätigkeit sollte man aber nicht unterschätzen. Er realisiert sich im Tun jener zahllosen, oftmals staatlich bestallten Tugendwächter, die in höherem Auftrag, sei es Feminismus, Antisemitismus oder Antirassismus, agieren und die mit ideologisch geschärftem Nachtsichtgerät dunkle Abweichungen vom Pfad der Gerechten unverzüglich aufdecken.
Abschließend ein Leserbrief aus dem Tagesspiegel:
Ich finde es schade, dass Literatur nicht im Kontext gesehen werden kann, sondern dass auch in Texten verstorbener Autoren herumverbessert wird. Wann kommen wir bei Schiller und Goethe an, wann wird der Minnesang politisch korrekt nachbearbeitet?
Hier – wie überhaupt in der gesamten Debatte – wird seitens der konservativen Verteidiger der Werktreue so getan, als diene das „Herumbessern“ an den Texten „verstorbener Autoren“ einzig der Durchsetzung „politischer Korrektheit“. Mir scheint aber, dass ein entscheidender Umstand in dieser Debatte völlig aus dem geifernden Blick gerät: Nämlich der Umstand, dass Literatur permanent überarbeitet und angepasst wird. Angepasst an sprachliche Veränderungen, angepasst an veränderte Geschmäcker, angepasst an neuere Erkenntnisse, und, ja, bisweilen auch angepasst an gesellschaftlichen Wandel. Manchmal machen es die Verlage selbst, manchmal die Autorinnen und Autoren. Auch Goethe und Schiller haben dies längst durchgemacht. Von Grimms Märchenbüchern gibt es mehrere Auflagen, die extrem voneinander abweichen. Und schon vor der ersten Veröffentlichung unterliegen Bücher sprachlich und inhaltlich einem Aushandlungs- und Anpassungsprozess, an dem mindestens LektorInnen und AutorInnen beteiligt sind.
Es gibt vor diesem Hintergrund gute Gründe dafür, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beispielsweise unter hohem finanziellem Aufwand historisch-kritische Ausgaben bestimmter Werke anfertigen. Wikipedia klärt auf:
Als historisch-kritische Ausgabe […] bezeichnet man in der Editionswissenschaft eine Ausgabe eines Textes, die auf der Grundlage aller zur Verfügung stehenden Textträger die Entstehungsgeschichte des Textes nachzeichnet und einen möglichst authentischen, von Fehlern bereinigten Text präsentiert. […] Das Attribut historisch bedeutet hier, dass alle überlieferten Textträger (Manuskripte, Typoskripte, Drucke) gesichtet und bezüglich ihrer Rolle für die Textgenese bewertet werden. Daraus lassen sich in der Regel verschiedene Bearbeitungsstufen rekonstruieren, die in die Biographie des Autors eingeordnet werden können. Es müssen allerdings nicht alle Textstufen komplett abgedruckt werden. Es ist ausreichend, eine Version (üblicherweise entweder die Editio princeps oder die Ausgabe letzter Hand) als Vergleichsbasis auszuwählen und als Lesetext zu edieren. In einem textkritischen Apparat werden dann die Abweichungen der anderen Textstufen dokumentiert. Ergänzend dazu werden oft Manuskripte (zumindest in Auszügen) als Faksimile abgedruckt und/oder transkribiert.
Nun wird es historisch-kritische Ausgaben von Kinderbüchern zugegebenermaßen eher selten geben. Allerdings wurde beispielsweise von Pippi Langstrumpf vor wenigen Jahren eine „Ur-Pippi“ veröffentlicht. Sie weicht deutlich von der bekannten Pippi ab – der Verlag hatte Lindgren damals nahegelegt, die Erstfassung/Urfassung zu entschärfen. Das zeigt: Auch von Kinderbüchern existieren bisweilen mehrere Fassungen nebeneinander, ohne dass Kinderseelen Schaden nehmen.
Genau an solchen Gegebenheiten aber stören sich die konservativen Verteidiger der Werktreue allerdings nicht. Es stört sie nicht, dass von sehr vielen Texten mehrere Fassungen existieren, oft auch veröffentlicht wurden. Und vor allem: Selbst sprachliche Anpassungen in späteren Fassungen stören sie nicht wirklich. Goethe lieben sie dennoch. Die taz weist zu Recht darauf hin, dass die Änderungen an der „Kleinen Hexe“ über das Tilgen des Begriffs „Neger“ weit hinausgehen. Es geht eben nicht um „politische Korrektheit“, sondern um eine sprachliche Anpassung an den heutigen Sprachgebrauch:
In der Neuausgabe der „Kleinen Hexe“ soll auch nicht mehr von „Schuhe wichsen“ die Rede sein, sondern von „Schuhe putzen“. Außerdem soll die kleine Hexe nicht mehr damit drohen, Kinder mit ihrem Besen „durchzuwichsen“, sondern sie zu verhauen, wie man das heute sagen würde. Auch die schönen Originalillustrationen werden erstmals in Farbe erscheinen. Über all das hat sich seltsamerweise noch niemand beschwert.
Die Beispiele aus der taz beziehen sich allerdings, anders als suggeriert, auf zurückliegende Ausgaben – die bevorstehenden Änderungen sind also keineswegs die ersten, wie uns der Verlag aufklärt. Schon in der Vergangenheit wurden sprachliche Anpassungen vorgenommen. Wir erleben aktuell aber die ersten Änderungen, bei denen es zu einem solchen Mediensturm kam.
Halten wir also fest: Literatur – auch Kinderliteratur – wird beständig überarbeitet. Darüber echauffiert sich jahrzehntelang niemand. Erst, als es darum geht, das Wort „Neger“ aus Kinderbüchern zu entfernen, bricht breites Entsetzen aus. Da liegt die Frage nahe: Warum darf man in den Augen der geifernden Konservativen „wichsen“ streichen, nicht aber „Neger“?
Das Interview, das ich im Dezember mit Marc Fabian Erdl zu „politischer Korrektheit“ geführt habe, mag in diesem Zusammenhang aufschlussreich sein:
Der Mythos von der politischen Korrektheit erlaubte den Rechtskonservativen (aber auch anderen) die gleichzeitige Ausstrahlung mehrerer, eigentlich schwer vereinbarer Botschaften: „Wir sind viele, aber wir werden unterdrückt.” – “Wir haben eigentlich Recht, aber wir werden unterdrückt.” – “Es gibt oberlehrerhafte, politisch korrekte Herrscher und Sprachmanipulierer, die aus falsch verstandenem, moralisierendem Gutmenschentum etc. (und hier können die Leser sämtliche diesbezüglichen Floskeln einfügen) die Wahrheit unterdrücken bzw. die eigentlichen Probleme ignorieren oder schönreden. Entweder sie sind gefährliche Verbrecher oder Idioten.“
Im Kern geht es all jenen, die sich jetzt aufregen, um ihren alten verlogenen Streit; es geht ihnen um jene Auseinandersetzung, die Erdl hier beschreibt. Sie streiten für rassistische Begriffe und für das mit ihnen verbundene ausgrenzende Denken. Und zwar ausschließlich für diese. Und sie stellen sich als von „politischer Korrektheit“ und "Zensur" verfolgte Minderheit dar, wenn andere ihnen diese verwehren wollen.
Man mag sich gar nicht vorstellen, welche Reaktionen der Thienemann-Verlag in den letzten Tagen erhalten haben muss. Der Verleger Klaus Willberg äußert sich dazu auf der Verlags-Homepage zurückhaltend, und doch lässt sich vermuten, mit welcher Wucht der rassistische Mob fernab der Medien zu wüten scheint:
Was mich bedrückt ist die Vehemenz, mit der in der Überzahl der in der Regel per E-Mail eingegangenen Pamphlete für die Benutzung von diskriminierenden Begriffen eingetreten wird und welche Ressentiments sich entladen, wenn ein solcher Begriff aus einem Buch genommen wird, das Mittelpunkt des täglichen Vorleserituals mit Kindern ist. Diese Schreiben reichen, um bei harmlosen und unpersönlichen Beispielen zu bleiben, vom Hinweis, es gingen jeden Tag Flüge nach Afrika, bis zur geäußerten Hoffnung auf den Sieg der politisch Unkorrekten über die Gutmenschen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.