Rezension
Das andere 1968
6. Mai 2022 | Bernd Hüttner
1968, das waren nicht nur Studierende: Dieses Interviewbuch zeigt am Beispiel der beiden späteren Arbeitswissenschaftler Wolfgang Hien und Herbert Obenland, wie sich damals auch Auszubildende politisierten.
Peter Birkes Interviewpartner sind die beiden Arbeits- und Umweltwissenschaftler Wolfgang Hien (geboren 1949) und Herbert Obenland (geboren 1950). Gegenstand ist vor allem ihre Zeit als Lehrlinge bei BASF in Ludwigshafen Mitte der 1960er Jahre und ihr direkt daran anschließender Aufenthalt am so genannten Speyer-Kolleg, an dem sie Mitte bzw. Ende 1972 das Abitur ablegen.
Beide kamen aus der Provinz, Hien aus dem Saarland, Obenland aus dem Schwäbischen . Die BASF war für sie zuerst die »weite Welt«, die dann allerdings schnell auch ihre zutiefst autoritären Strukturen zeigte. Beide engagierten sich, aus dem kirchlichem Milieu kommend, in der sozialistischen Lehrlingsbewegung. Sie knüpften Kontakte zu Linken in Ludwigshafen und Heidelberg. Untergebracht waren sie - und das wird dann in Speyer sehr ähnlich und wichtig sein - in einem Jugenddorf. Dort lebten hunderte Lehrlinge der BASF wie in einer Art Jugendherberge zusammen. Sie hatten dadurch vielfältige Möglichkeiten, sich zu treffen, sich auszutauschen und zu organisieren.
Mit Anfang 20 gingen die beiden (Hien musste erst noch in einem Vorkurs die mittlere Reife nachholen) an das Speyer-Kolleg. Dort gab es schnell Konflikte um die Lehrinhalte (etwa den Religionsunterricht) und allgemeine Fragen der Demokratie und Mitbestimmung (»Alles drehte sich um die Frage: ‚Wer bestimmt hier was`«, S. 153). Der Konflikt endete mit einer Niederlage. Die Zeit am Kolleg bzw. in Speyer, in der sie auch Kontakte zu Betrieben in Speyer hatten, eine kleine Zeitung mit herausgaben, und eine, wie Birke es nennt, »Barfuß-Soziologie« betrieben, war für das weitere Leben der beiden »Arbeiterintellektuellen« trotzdem wichtig. Beide gingen nach dem Abitur erst einmal mit politischer Motivation im Rahmen der APO für einige Jahre in den Betrieb, den sie dann Ende der 1970er wieder verließen. Obenland etwa arbeitete bis 1981 bei Degussa in Frankfurt/Main. Die Themen Gesundheit, Gesundheitsschutz und Arbeit/Betrieb beschäftigte die beiden ihr ganzes Leben: Hien als politischen Bildner und prekären Wissenschaftler, Obenland als Inhaber eines kleinen Forschungsbüros.
Jenseits der Ereignisgeschichte geht es immer wieder um Erfahrungen im Betrieb und wie diese verarbeitet werden und das weitere Leben prägen. Das Bedürfnis nach Emanzipation besteht bei den beiden bis heute, und es ist Richtschnur für sie. Ein zweites Thema ist das Verhältnis von Wissen, Bildung und Selbstorganisation. Wie entsteht Wissen, wie kann es »angewendet« werden, und wie ist das mit der Herkunft der beiden verknüpft?
»Das andere 1968« ist ein spannendes, persönliches Buch — und es ist nicht zuletzt Zeugnis von und Ergebnis der über fünfzigjährigen Freundschaft zwischen Hien und Obenland. Birke und die beiden stellen ein lebendiges Stück Sozial- und Zeitgeschichte zur Verfügung, das seinen Titel zurecht trägt und absolut lesenswert ist.
Bibliografische Angaben
Wolfgang Hien, Herbert Obenland, Peter Birke: Das andere 1968; Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2022, 260 Seiten, 15 Euro
Bernd Hüttner ist Politikwissenschaftler. Er lebt und arbeitet in Bremen und ist Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Webseite: www.bernd-huettner.de.