Das EU-US-Freihandelsabkommen – Entdemokratisierung und Sozialabbau durch die Hintertür
9. Januar 2014 | Patrick Schreiner
Als US-Präsident Barack Obama im Februar 2013 eine „transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ („Transatlantic Trade and Investment Partnership“, TTIP) zwischen der Europäischen Union und den USA ankündigte, war die öffentliche Aufmerksamkeit größer als bei solchen Themen üblich. Freihandelsabkommen scheinen meist Sache von SpezialistInnen zu sein. Und doch haben sie Konsequenzen, die mehr als aufhorchen lassen sollten.
Es dürften drei strategische Gründe sein, die die europäischen Staaten zur Aufnahme entsprechender Verhandlungen mit den USA motivierten. So hat die aktuelle Wirtschaftskrise die politischen Eliten Europas unter ziemlichen Handlungsdruck gesetzt; mit dem TTIP möchten sie aus der Defensive kommen. Hinzu kommt, dass Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit anderen Partnern (der asiatischen ASEAN oder dem lateinamerikanischen Mercosur) jüngst ins Stocken geraten sind. Das gleiche gilt für Gespräche im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO. Sollten die Verhandlungen mit den USA zum Vertragsschluss führen, wovon auszugehen ist, so wird dies – angesichts der ökonomischen Bedeutung beider Wirtschaftsräume – den Druck auf andere Staaten und Staatenbündnisse erhöhen, gleichfalls entsprechende Abkommen mit den USA und der EU zu schließen.
Bei Freihandelsabkommen geht es heute nicht mehr in erster Linie um den Abbau von Zöllen. Gerade zwischen der Europäischen Union (EU) und den USA sind sie kaum mehr der Rede wert. Auch der Schwerpunkt des TTIP liegt daher bei den so genannten „nicht-tarifären Handelshemmnissen“: Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte sollen durch den Abbau von Vorschriften und Anforderungen, durch das Prinzip der Nichtdiskriminierung ausländischer Unternehmen sowie durch Öffnung für privates Kapital dereguliert werden. Daraus sollen Arbeitsplätze und Wohlstand resultieren. Tatsächlich aber dürfte TTIP den Abbau von ökologischen und sozialen Standards, die Zunahme prekärer Beschäftigung, Privatisierung und Liberalisierung und den Abbau von Demokratie zur Folge haben. Dies soll hier anhand der wichtigsten Aspekte des geplanten EU-USA-Freihandelsabkommens skizziert werden.
1. Umwelt- und Verbraucherschutzstandards: Die in vielen Fällen höheren Umwelt- und Verbraucherschutzanforderungen in Europa stoßen bei zahlreichen Unternehmen beiderseits des Atlantiks auf Kritik. Das TTIP stellt eine Möglichkeit dar, Standards anzugleichen, und zwar in der Regel auf dem niedrigsten Niveau: Sei es beispielsweise das Verbot von Fracking in vielen Ländern Europas, seien es strikte Regeln für genmanipulierte Lebens- oder Futtermittel oder Vorschriften zur Energieeffizienz bei Verbrauchsgütern – sie und noch viele weitere stehen als vermeintliche Handelshemmnisse und diskriminierende Praktiken auf der Kippe.
Im Bereich der Lebensmittelsicherheit hat die US-amerikanische Verhandlungsseite vorgeschlagen, einen europäisch-amerikanischen Ausschuss einzurichten, der über gemeinsame Standards entscheiden soll; die europäische Seite hat diesbezüglich ihre Offenheit signalisiert. Die Argumente hinter solchen Vorstellungen sind immer die gleichen: Nicht „populistische“ Motive von PolitikerInnen, sondern „wissenschaftliche“ Gründe sollen den Vorschriften zur Lebensmittelsicherheit zu Grunde liegen. Entsprechend ist im Verhandlungsmandat der EU-Kommission verallgemeinernd formuliert, dass Regulierungen (nur noch) bestehen bleiben sollen, soweit sie „legitim“, „angemessen“ und nicht „unnötig“ sind.
In der medialen Berichterstattung in Deutschland spielen solche Umwelt- und Verbraucherschutzstandards eine zentrale Rolle. Zu Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, dass hier eine Absenkung der meist höheren europäischen Standards droht („Chlorhühner“, „Hormonfleisch“ usw.) Allerdings wird damit zugleich unterschlagen, dass die EU in vielen anderen TTIP-Themenbereichen niedrigere Standards und/oder deutlich radikalere Deregulierungsvorstellungen hat als die USA.
2. Liberalisierungen im Dienstleistungsbereich: Da die Liberalisierung von Dienstleistungen auf globaler Ebene seit längerem nicht so recht vorankommt, dürfte gerade dieses Thema für die TTIP-BefürworterInnen von strategischer Bedeutung sein. Insbesondere die Vorstellungen der EU gehen deshalb weit über das hinaus, was bislang in der EU-Dienstleistungsrichtlinie oder auf globaler Ebene im Rahmen des GATS vereinbart ist. Es ist zu befürchten, dass gerade öffentliche Dienstleistungen in Bereichen wie Verkehr, Wasserversorgung oder Gesundheit deutlich stärker als bisher unter Liberalisierungsdruck geraten – denn in den Augen der Freihandels-FanatikerInnen gelten ein freier Marktzugang und privates Engagement gerade auch in jenen Sektoren als Mittel der Wahl, die bislang noch stark von öffentlichen Unternehmen oder öffentlicher Regulierung geprägt sind. Hierbei ist die europäische Seite die treibende Kraft, die US-amerikanische hingegen eher zurückhaltend.
Im Bereich der Finanzdienstleistungen sind so genannte Stand-Still-Klauseln im Gespräch, die es unmöglich machen würden, einmal erfolgte Deregulierungen an Finanzmärkten wieder zurückzunehmen oder Maßnahmen wie Finanztransaktionssteuern und Kapitalverkehrsbeschränkungen einzuführen. Dies erscheint gerade angesichts der aktuellen Finanzkrise als eine völlig aus der Zeit geratene Maßnahme – und ist doch ernst gemeint.
3. Staatliches Beschaffungswesen: Ausländische Anbieter sollen beim Zugang zu öffentlichen Aufträgen (beispielsweise im Bau oder öffentlichen Verkehr) den inländischen gleichgestellt werden. Dazu sollen soziale und ökologische Kriterien wie Tarifbindung, lokale Herkunft oder ökologische Verträglichkeit untersagt werden, da sie angeblich ausländische Anbieter diskriminieren. So will die EU beispielsweise gegen die in Amerika verbreiteten „Buy-American“-Klauseln vorgehen, die es öffentlichen Beschaffern erlauben, nur lokale oder US-amerikanische Waren und Dienstleistungen zu kaufen.
4. Investitionsschutz: Freiheit des Kapitalverkehrs und Schutz von Investoren stellen wesentliche Elemente von Freihandelsabkommen dar. Auch im TTIP soll es dazu Regelungen geben. Besonders problematisch sind dabei die so genannten „Mechanismen zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten“, die schon bisher in zahlreichen Freihandelsabkommen verankert wurden. Es handelt sich dabei um einseitig gegen Staaten gerichtete Klagemöglichkeiten, durch die Investoren Entschädigungen für entgangene Gewinne einklagen können; verhandelt wird nicht vor ordentlichen Gerichten, sondern vor privaten, geheimen Schiedsgerichten. Aktuell setzt sich vor allem die EU-Kommission dafür ein, entsprechende Regelungen auch in das TTIP aufzunehmen. Dies hätte einmal mehr zur Folge, dass intransparente und kapitalnahe Gremien Entscheidungen demokratisch gewählter Parlamente oder Regierungen mit empfindlichen Strafen belegen können.
Aktuell klagt der Energiekonzern Vattenfall vor einem Schiedsgericht gegen die Bundesrepublik mit dem Ziel, Entschädigung in Höhe von 3,7 Milliarden Euro für den Atomausstieg zu erhalten.
5. Sozialstandards: Sozialstandards stehen hier nicht deshalb an letzter Stelle, weil sie am wenigsten bedroht wären, sondern weil ein Gutteil dieser Bedrohung aus den voranstehenden Punkten resultiert. So macht es beispielsweise die Liberalisierung des staatlichen Beschaffungswesens unmöglich, bei öffentlichen Aufträgen Sozialstandards (wie etwa Tarifbindung) vorzuschreiben. Liberalisierungen bei öffentlichen Dienstleistungen schwächen die Beschäftigten und die Gewerkschaften in den entsprechenden Branchen, wie sich in Deutschland etwa bei der Liberalisierung des Bahn- und Postwesens sowie bei den Flughafen-Bodendiensten gezeigt hat. Regelungen zum Investitionsschutz können zu Strafzahlungen führen, wenn sich Profitmöglichkeiten für Investoren durch staatliche Maßnahmen verschlechtern – etwa, weil soziale Anforderungen verschärft oder auch nur strikter durchgesetzt werden.
Hinzu kommt, dass durch den Wettbewerb zwischen „Wirtschaftsstandorten“ – und genau der soll durch TTIP angeheizt werden – der Druck auf die Staaten wächst, Sozialstandards abzubauen. Dies dürfte für Europa gerade vor dem Hintergrund der in den USA oft niedrigeren Sozial- und Arbeitsmarktstandards von Bedeutung sein.
Zum Weiterlesen:
Harald Schumann (2013): Der transatlantische Freihandelsbluff. http://www.tagesspiegel.de/meinung/handelszone-zwischen-usa-und-eu-der-transatlantische-freihandelsbluff/9037908.html.
Stefan Beck / Donna McGuire / Christoph Scherrer (2013): Das transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. http://www.gegenblende.de/-/Xxb.
Rundbrief Forum Umwelt & Entwicklung 3/2013: Globalisierung und Freihandel - Pokerspiel mit ungewissem Ausgang. http://www.forumue.de/fileadmin/userupload/rundbriefe/FORUM_Rundbrief0313_web23092013.pdf.
Dieser Text erschien in einer überarbeiteten Fassung zuerst in Lunapark21 Ausgabe 24. Wir danken für die Genehmigung zur Übernahme des Textes. Er ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.