Rezension
Das Imperium des Kapitals
5. April 2018 | Jens Zimmermann
Ellen Meiksins Woods historische Studie zeigt die Funktionsweisen eines neuen Imperialismus, in dem ökonomische Zwänge koloniale Praktiken der Gewalt ersetzen.
Mit dem »Imperium des Kapitals« legt der Laika-Verlag eine weitere Studie der 2016 verstorbenen Marxistin Ellen Meiksins Wood auf und macht damit einen Klassiker der »neuen« Imperialismusanalyse zugänglich. Wood gilt vor allem als eine der prominentesten Vertreterinnen des US-amerikanischen Marxismus und war Redakteurin der einflussreichen New Left Review. In ihrer historisch-vergleichenden Studie stellt sie heraus, wie das Verhältnis von Ökonomie und »Außerökonomischem« innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise zu begreifen ist: »Was die Klassenherrschaft oder den Imperialismus spezifisch kapitalistisch macht, ist die Vorherrschaft von ökonomischem, im Unterschied zu unmittelbarem ‚außerökonomischem’ – politischem, militärischem, rechtlichem – Zwang« (S. 20, Herv. i. O.). Diese Unterscheidung ist für den weiteren Gang der Studie zentral.
Die relative Autonomie von Ökonomie und Politik
Für Wood stellen Ökonomie, Politik, Recht und Militär vier grundlegende Analysekategorien dar, die sie in ihrer historischen Rekonstruktion mit dem empirischen Material unterfüttert. Was zunächst etwas nach bürgerlicher Geschichtsschreibung ausschaut, erweist sich als dialektisch vermittelt, wie ihre Kernthese deutlich macht: Die außerökonomische Gewalt hält ökonomischen Zwang aufrecht und wirkt indirekt auf das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise werden also ökonomische und politische Macht formal getrennt. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass ökonomische Macht weit über politischen oder militärischen Zwang hinausgehen, aber eben auch nicht ohne jene funktionieren kann. Exemplarisch zeigt sich dies für Wood an der Rolle des Staates im Kontext kapitalistischer Globalisierung. Sie sagt, dass
der Staat ein entscheidender Konzentrationspunkt der kapitalistischen Macht [bleibt], sogar oder besonders im heutigen globalen Kapitalismus, und dass das Imperium des Kapitals von einem System mehrerer Staaten abhängt.
Um die Entwicklung hin zur Dominanz ökonomischer Imperative im »neuen« Imperialismus sichtbar zu machen, bestimmt Wood die Rolle des außerökonomischen Zwangs in früheren imperialen Staaten, die aber gerade durch ihre vorkapitalistische Produktionsweise charakterisiert sind. Typisch für diese historischen Formationen ist, dass politische und militärische Macht zugleich auch Mittel zur Aneignung von Mehrarbeit sind, wie zum Beispiel durch Abgaben und Steuern, etwa im Feudalismus der Frondienst sowie Natural- und Geldabgaben der unfreien Bauern. Um diesen Zusammenhang von ökonomischer und außerökonomischer Macht zu verdeutlichen, zeigt Wood, wie die imperialen Staaten des historischen Chinas, des römischen Reiches und der spanischen Kolonisation Lateinamerikas zwar Land erobern und dort eine Form des Eigentums etablieren konnten, aber wesentlich abhängig von Formen außerökonomischer Gewalt und Ausbeutung waren. Zwar gelang allen dreien die geographische Expansion ihrer Herrschaftsgebiete, aber die Aufrechterhaltung dieser konnte nur durch militärische Gewalt geleistet werden. Die Imperien waren demnach begrenzt durch ihre militärischen und administrativen Ressourcen.
Nicht-kapitalistische Imperien
Eine historische Entwicklung hin zu imperialen Bestrebungen, die mehr durch die immanente Logik der Ökonomie bestimmt sind, macht Wood dann in den arabischen, venezianischen und niederländischen Handelsimperien aus. Alle drei Imperien stützten ihre Ausdehnung des imperialen Staates nicht nur auf militärische Macht, sondern versuchten Profite durch die Verbindung verschiedener getrennter Märkte herzustellen. Sie installierten dabei ein Netz von politischen und administrativen »Außenposten«. Für diese Handelsimperien stand somit weniger die geographische Expansion im Vordergrund – die aber zweifelsohne eine Nebenfolge war –, sondern die strategische Verbindung von Handelsposten zur Absicherung der Profite. Obwohl ökonomische Mechanismen und Denkweisen immer stärkeren Einfluss auf imperiale Staaten bekamen – wie zum Beispiel die Entwicklung neuer Finanzinstrumente in Venedig sowie das Desinteresse der Niederlande an Landgewinnen, Rohstoffen oder Abgaben zeigte –, entwickelte sich zeitgleich eine enge Verwandtschaft zwischen Handels- und Kriegsinteressen, wie die »Kommerzialisierung des Krieges« im venezianischen Imperium. Auch das niederländische Handelsimperium sicherte seine ökonomische Überlegenheit mit einer massiven Seestreitkraft ab und lieferte zugleich die ideologische Begleitmusik durch den Theologen und Philosophen Hugo Grotius. Grotius gilt zwar als Begründer des Völkerrechts und Souveränitätsgedankens, aber Wood lässt ihn als Vordenker eines aggressiven Handelsimperialismus sprechen, der eine Eigentumstheorie lieferte, die explizit den Krieg als Mittel zur Durchsetzung von Handelsinteressen legitimierte. Im Kern bleibt der ausgereifte Handelsimperialismus aber, so Wood, nichtkapitalistisch da er seine Profite durch »ungleichen Tausch« erzielt und nicht durch die Aneignung des Mehrwertes.
Einen qualitativen Sprung in der Durchsetzung ökonomischer Imperative macht für Wood der englische Siedlerkolonialismus. Anhand der gewaltsamen Einführung des englischen Pachtsystems in Irland zeigt sie auf, dass hier nun nicht mehr auf die Vorteile des »ungleichen Tauschs« gesetzt wird, sondern der Profit in Landwirtschaft durch kompetitive Produktion entstehen soll. Ideologisch wird dies vor allem durch die Schriften des Ökonomen William Petty begleitet, der die theoretische Legitimation formulierte, um koloniale Projekte als elementar für die englische Ökonomie zu begreifen. Hierbei ändert sich nicht so sehr die Art und Weise der Kolonisation als vielmehr ihre Funktion in Bezug auf ökonomische Dynamiken und Interessen. Vorsichtig kann gesagt werden, dass sich das Verhältnis zwischen Ökonomie und Politik/Militär verändert – beide Seiten werden relativ autonom. Darüber hinaus findet innerhalb der Ökonomie eine Veränderung statt – kompetitive und demnach kapitalistische Produktion entsteht zumindest als Idee neben »ungleichem Tausch«.
Das britische Kolonialprojekt in Indien ist aus dieser Perspektive ein Rückschritt gewesen, so Wood, da das britische Empire im Laufe der Zeit immer stärker auf außerökonomische Zwänge zurückgreifen musste, um seine Herrschaft aufrecht zu halten. Das Beispiel der Besatzung Indiens zeigt aber in der Logik des Wood’schen Arguments, dass der imperiale Staat noch nicht auf ein System ökonomischer Zwänge zurückgreifen konnte, sondern die Aneignung von Mehrarbeit durch starken außerökonomischen Zwang aufrecht erhielt. Hier wird deutlich, dass die Strukturen eines internationalen Systems noch nicht gegeben waren und dass die Internationalisierung des Kapitalismus noch von militärischer Macht abhing. Auf ideologischem Terrain erfuhr zu dieser Zeit die Eigentumstheorie des Philosophen John Locke große Aufmerksamkeit. Locke begründete rechtmäßiges Eigentum nicht allein durch die Inbesitznahme oder das Nutzen eines bestimmten Stück Landes, sondern durch die produktive Bearbeitung, »die jedem Ding einen unterschiedlichen Wert verleiht« (Locke, zit.n. Wood, 116, Herv. i. O.). Zum einen war dies die Rechtfertigung für unbegrenzte Kolonisation, da bei dieser Eigentumsdefinition explizit das Jagen, Sammeln sowie, allgemein gesprochen, die Subsistenzwirtschaft herausfielen und somit Kolonisierte kein Eigentum besaßen. Zum anderen lieferte diese Eigentumstheorie schon einen bürgerlichen Eigentumsbegriff, wie er für die kapitalistische Produktionsweise typisch ist.
Der »neue« Imperialismus
Erst die innerimperialistische Konkurrenz nach dem 2. Weltkrieg lässt ein internationales Staatensystem mit internationalisierter, kapitalistischer Produktionsweise entstehen und somit eine neue imperiale Ordnung unter der Führung der USA, welche zum ersten Mal auch durch eine ökonomische Hegemonie flankiert wird. Das Bretton-Woods-System der festen Wechselkurse, Internationaler Währungsfonds, Weltbank und etwas später das GATT (General Agreement ofTariffs and Trade) wurden zu Pfeilern des neuen Imperialismus, der mittels Strukturanpassungsprogrammen, Handelsregulierungen und Schulden die US-Vorherrschaft sicherte und die Märkte für US-amerikanisches Kapital öffnete. Interessant ist Woods Auseinandersetzung mit dem Prozess der »Globalisierung«:
Es folgte eine Periode, die wir Globalisierung nennen, die Internationalisierung des Kapitals, seine freien und schnellen Bewegungen und die rücksichtsloseste Finanzspekulation weltweit. Dies war weniger eine Reaktion auf die Erfolge als auf die Fehlschläge des Kapitalismus. Die USA nutzten ihre Kontrolle der Finanz- und Handelsnetze, um den Tag der Abrechnung für ihr eigenes heimisches Kapital aufzuschieben, was diesem in einer Orgie der Finanzspekulation die Möglichkeit gab, die Last an einen anderen Ort zu verschieben.
Hier wird deutlich, was die relative Autonomie der Ökonomie im »neuen« Imperialismus bedeutet, oder: was das Imperium des Kapitals ist. Aneignung von Mehrarbeit und somit Profit ist nicht mehr abhängig von außerökonomischer Gewalt. Dies bedeutet jedoch keine Bedeutungslosigkeit des Staates:
Der Staat in der imperialen wie den untergeordneten Ökonomien stellt immer noch die notwendigen Bedingungen des globalen Kapitals. [...] Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass der Staat die einzige nichtökonomische Institution ist, die für das Kapital wirklich unverzichtbar ist.
Dies zeigt sich für Wood in der Kriegsführung der Bush-Administration. Der US-Staat und seine entgrenzte, präventive Kriegsführung »ohne Ende in Bezug auf Zweck und Zeit gehört zu einem endlosen Imperium, das keine Grenzen oder auch nur ein Territorium hat« (S. 189). Diese wuchtige Schlussthese ist zumindest aus empirischer Sicht einer der schwächeren Teile ihrer historischen Studie, da sie just kurz vor Erstellung des Manuskriptes 2003 eingearbeitet wurde und hier eher grobe Umrisse zeichnen kann als ein stimmiges Bild. Trotzdem gelingt es Ellen Meiksins Wood in ihrer Imperialismusanalyse durchaus überzeugend, die Dynamik der zunehmenden relativen Autonomie von Ökonomie und Politik/Militär als Triebfeder der globalen Ausweitung des Kapitalismus zu bestimmen und dabei auf den Abgesang auf den Staat zu verzichten. Ganz im Gegenteil kann sie zeigen, dass militärische Gewalt und internationale Politik als Domäne des Staates im gegenwärtigen Kapitalismus eine Renaissance feiern. Damit weist ihr klassischer Text zurecht auf die blinden Flecken der gegenwärtigen linken Debatten à la »Empire« und »Europa von unten« hin.
Die Rezension erschien zuerst auf ▸kritisch-lesen.de. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Jens Zimmermann ist Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) und beschäftigt sich u.a. mit der Verschränkung von Rassismus und Klassenherrschaft.