Das Schönreden deutscher Außenhandels-Überschüsse: Wirtschaftswissenschaft als Legitimationsideologie
4. April 2019 | Michael Wendl
Die berechtigte Kritik an den deutschen Außenhandels-Überschüssen wird von verschiedener Seite immer wieder heruntergespielt. Ein besonders fragwürdiges Beispiel lieferte jüngst der Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums.
Ende März wurde ein ▸Gutachten des wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) veröffentlicht, mit dem Mitglieder des Beirats sich zu der kritischen Diskussion über die hohen (und chronischen) Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands äußern. Die Kritik von Donald Trump, hier an den deutschen Außenhandelsüberschüssen mit den USA, ist allgemein bekannt, aber neben Trump haben sich auch die OECD, der Internationale Währungsfonds, Politiker anderer Euroländer, international renommierte Ökonomen und nicht zuletzt die EU-Kommission kritisch zu den permanenten deutschen Leistungsbilanzüberschüssen geäußert. Die EU hat auch dafür eine Stabilitätsregel formuliert, die darauf zielt, dass nationale Leistungsbilanzüberschüsse die Größe von 6 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigen sollen. Obwohl die deutschen Ãœberschüsse in den letzten Jahren zwischen 7,2 und 8,6 Prozent gelegen waren, hat es die EU-Kommission allerdings nicht gewagt, dagegen die vereinbarten Maßnahmen einzuleiten.
Die deutsche Reaktion von Bundesregierung und den meisten Ökonomen in dieser Frage war, dass die starke Nachfrage nach deutschen Exporten ein Zeichen deutscher Qualitätsproduktion und hoher Wettbewerbsfähigkeit sei und sich damit außerhalb der Zuständigkeit der Politik bewege. So naiv, sich damit zufrieden zu geben, waren die Kritiker nicht - vielleicht musste das BMWi deshalb »wissenschaftlich« nachlegen. Für solche Zwecke hält es sich einen Beirat von Ökonomen, die ideologisch überwiegend dem deutschen Ordoliberalismus zugerechnet werden können.
Was ist ein Leistungsbilanzüberschuss?
Die Leistungsbilanz besteht aus dem Saldo des Handels mit Waren (also physischen Gütern), Dienstleistungen und den primären und sekundären Einkommen (Saldo der Einkommensflüsse nach und aus Deutschland). Der Außenhandelsüberschuss ist in Deutschland der mit Abstand größte Posten in der Leistungsbilanz, dazu kommt noch ein positiver Saldo aus dem Zufluss der Primäreinkommen, während die Dienstleistungsbilanz und der Saldo der Sekundäreinkommen negativ sind. Die beiden letzten Größen waren zusammengenommen ungefähr so groß wie der Saldo der Primäreinkommen, so dass der Leistungsbilanzüberschuss etwas größer ist als der Warenhandelsüberschuss, 2015 waren das 252 zu 228 Mrd. Euro. Im Kern der Auseinandersetzung geht es daher um den Außen- oder Warenhandelsüberschuss (siehe Abbildung auf S. 8 des ▸BMWi-Gutachtens).
Spiegelbildlich entspricht der Überschuss in der Leistungsbilanz der Größe des Kapitalexports, weil das monetäre Resultat des Leistungsbilanzüberschusses als Kapital ins Ausland fließt. Im Inland wird dieses Kapital nicht verwendet, weil es in diesem Fall einen entsprechend niedrigeren Außenhandels- oder Leistungsbilanzüberschuss geben würde. Würde im Inland mehr investiert und konsumiert, würde ein Teil des deutschen Exports nicht Export sein, sondern im Inland konsumiert oder für Importe ausgegeben. Es wird schon seit Jahren kritisiert, dass das deutsche Auslandsvermögen niedriger ist als die Summe der deutschen Kapitalexporte, weil die falsche Anlage deutscher Kapitalexporte in Finanzinvestments zur Entwertung deutschen Auslandsvermögens geführt hat. Der wissenschaftliche Beirat weist darauf hin.
Befiehlt die Kapitalbilanz oder die Handelsbilanz?
Der Beirat präsentiert zur Begründung und Rechtfertigung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses zwei Argumente. Das erste ist das Argument, dass eine alternde Gesellschaft (wie die deutsche) hohe Ersparnisse bilden müsse, um sich als Gesellschaft mit einem hohen Anteil Nichtmehr-Erwerbstätiger finanzieren zu können. Der deutsche Export von Ersparnissen sei damit eine Absicherung für die Zukunft. Diese These, eine alternde Gesellschaft tendiere zur Ersparnisbildung und die Ersparnisse führten zum Kapitalexport, hat zwei Voraussetzungen. Erstens, dass die Kapitalbilanz vorausgeht und die Handelsbilanz den Ergebnissen dieser Bilanz folgt. Das war die Sicht des österreichischen Ökonomen Eugen von Böhm-Bawerk (1914), die noch heute viele Anhänger hat. Unter den Bedingungen, dass Gold das Weltgeld war, stimmte diese These noch. Heute werden Importe durch Geld- und Kreditschöpfung ohne jede Golddeckung finanziert. Insofern ist es auch kein Problem, dass die Ersparnisbildung der US-Haushalte und Unternehmen relativ niedrig ist. Ersparnisse (Kapitalbilanz) sind den Käufen und den Investitionen (Handelsbilanz) nur in der neoklassischen Ideologie vorausgesetzt, nicht aber in der ökonomischen Wirklichkeit. Die Handelsbilanz ist die vorausgesetzte Größe, der die Kapitalbilanz folgt. Zweitens wird mit der These vom Kapitalexport unterstellt, dass Banken nur Vermittler (Intermediäre) von Geld sind, dass sie also Ersparnisse als Kredite weitergeben. Tatsächlich aber schöpfen sie Geld aus dem Nichts - ihre Kredite finanzieren die Investitionen, die wiederum Einkommen und darüber Ersparnisse produzieren. Das war eine zentrale Erkenntnis von Keynes in seiner Kritik an der klassischen Lehre, die noch davon ausgegangen war, dass die Ersparnisse die Investitionen finanzieren. Beide Voraussetzungen der These, dass eine alternde Gesellschaft zur Ersparnisbildung tendiere und die Ersparnisse zum Kapitalexport führten, treffen also nicht zu.
Das zweite Argument zur Begründung und Rechtfertigung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses ist, dass die Arbeitsmarktliberalisierung und die damit verbundene Senkung der Lohnstückkosten in erster Linie die Korrektur einer Überbewertung der DM in Folge der deutschen Vereinigung und daher ein gleichsam notwendiger Reflex einer Fehlentwicklung war. Diese These ist falsch, weil es auch in der unmittelbaren Folge der Vereinigung deutliche Außenhandelsüberschüsse gegeben hatte und daher nichts für eine Überbewertung der DM spricht. Auch beginnt bereits 1996 die Phase einer allgemeinen Lohnzurückhaltung in Deutschland. Die Arbeitsmarktliberalisierung selbst ist für die Ausweitung des Niedriglohnsektors verantwortlich, aber nicht für die starke und weiter steigende internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Ein hoher Leistungsbilanzüberschuss basiert auf einer schwachen Inlandsnachfrage, insofern haben Lohnzurückhaltung und Lohndruck doppelt gewirkt: erstens als zusätzlichen Wettbewerbsvorteil durch real sinkende Lohnstückkosten, zweitens als Schwächung der Inlandsnachfrage. Dadurch war die deutsche Inflation niedriger als in den Importländern, was eine reale Abwertung deutscher Produkte nach sich zieht - diese werden also im Verhältnis zu den Produkten anderer Länder billiger.
Die Rolle der Umsatzsteuern
Die Höhe der Umsatz- oder Mehrwertsteuer beeinflusst die Außenhandelsbilanz, weil auf die Importe nach Deutschland diese Steuer bezahlt werden muss, während die deutschen Exporte nicht versteuert werden. Insofern prüft der Beirat die Wirkung einer Senkung der Umsatzsteuer auf die Handelsbilanz. Es ist möglich, durch eine Senkung der Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf wieder 16 Prozent und einem Ausgleich der damit verbundenen Steuerausfälle durch höhere Einkommenssteuer die Importe nach Deutschland zu verbilligen und damit den Saldo zwischen Exporten und Importen zu verringern. Damit weist der Beirat implizit darauf hin, dass 2007 mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer bei gleichzeitiger Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung eine politische Korrektur der terms of trade zugunsten des deutschen Exports stattgefunden hatte. Der Beirat verwirft aber solche Maßnahmen, weil höhere Einkommensteuern angeblich zu einer Einschränkung des Arbeitsangebots produktiverer Arbeitskräfte führen und zugleich die Arbeitsnachfrage nach gering qualifizierter Arbeit dämpfen. Es bleibt aber offen, ob die Regierung mit der Mehrwertsteuererhöhung 2007 eine politische Beeinflussung und Erhöhung des Leistungsbilanzüberschusses bewusst angestrebt hat. Wenn das der Fall war, dann geht es auch umgekehrt.
Die ablehnende Haltung des Beirats wird nicht argumentativ belegt; es bleibt sein Geheimnis, wie er feststellen kann, wie produktiv einzelne Arbeitskräfte sind. Seine These basiert auf dem Dogma, ▸dass die Höhe des Lohns gleich der Produktivität der Arbeitskraft sei. Diese Produktivität kann aber empirisch in einer arbeitsteiligen Ökonomie nicht gemessen werden. Insofern ist die Ãœberlegung des Beirats, die Mehrsteuer zu senken und die Progression der Einkommenssteuer zu verstärken, durchaus ein sinnvoller Vorschlag. Würde das mit einer Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge kombiniert, so würde durch die Erhöhung der Arbeitskosten dieser Effekt verstärkt, was wiederum den Leistungsbilanzüberschuss verringern würde. Schon hier wird deutlich, dass der Beirat eine Verringerung dieses Ãœberschusses eigentlich nicht will. Er verwirft auch eine Stärkung der Inlandsnachfrage durch expansive Staatsausgaben, weil der Staatsausgabenmultiplikator geringer sei als der Steuermultiplikator, was bedeutet, dass Steuersenkungen höhere Wachstumseffekte haben als ein Anstieg der Staatsausgaben. Hier verweist der Beirat auf das »neuere Schrifttum« aus dem Jahre 2009 (!), obwohl aktuellere Berechnungen (beispielsweise von Olivier Blanchard) zur Größe des Multiplikators von Staatsausgaben und die daran anschließende Diskussion zu entgegengesetzten Ergebnissen geführt haben.
Wirkungen der Lohnpolitik
In der Frage der Lohnpolitik diskutiert der Beirat die Wirkungen einer Erhöhung des Lohnniveaus im Staatssektor, der die Löhne im Privatsektor folgen sollen. Das ist insofern irritierend, als in der deutschen Tarifpolitik die Tarifführung bei Lohn und Arbeitszeit durchgehend in der Exportindustrie und hier bei der IG Metall liegt. Dieses Verhältnis umkehren zu wollen, ist angesichts der bestehenden Streikmächtigkeit in den einzelnen Wirtschaftssektoren unrealistisch. Daran zeigt sich auch, dass der Beirat von Tarifpolitik und deren Besonderheiten in Deutschland nichts versteht. Einer Lohnerhöhung als Mittel der Verringerung der Leistungsbilanzüberschüsse erteilt der Beirat dann auch eine Abfuhr. Zwar würden höhere Lohnabschlüsse zur Aufwertung des niedrigen realen Wechselkurses Deutschlands führen, aber zugleich komme es zu rezessiven Effekten in der Wirtschaft, die die Importnachfrage verringern und die Beschäftigung gefährden sollen. Davon ausgehend ist es auch nur konsequent, dass der Beirat auch eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns nicht diskutiert. Für ihn sind steigende Löhne generell eine Gefährdung der deutschen Wirtschaft und führen zu einer Rezession.
Die Mühe, sich mit den Nettofinanzierungsüberschüssen der deutschen nicht-finanziellen Unternehmen auseinanderzusetzen und eine Volkswirtschaft nach den Überschüssen und Defiziten ihrer Sektoren zu bilanzieren, macht sich der Beirat nicht.
Da in einer Volkswirtschaft jedem Guthaben stets eine Verbindlichkeit in gleicher Höhe gegenübersteht, ist das Saldo aus allen Guthaben und Verbindlichkeiten in einer Volkswirtschaft stets genau null. Allerdings verteilen sich diese Guthaben und Verbindlichkeiten ungleich auf die volkswirtschaftlichen Sektoren. In Deutschland bauten in den letzten Jahren Privathaushalte, Unternehmen und Staat Guthaben auf bzw. Verbindlichkeiten ab. Der Außenhandelsüberschuss bleibt erhalten, solange die Salden der drei Inlandssektoren in Summe positiv ausfallen. Vermutlich will der eine solche makroökonomische Analyse auch nicht verstehen, weil diese den eigenen ordoliberalen Dogmen widerspricht.
Fazit
Dass der hohe und permanente Überschuss in der Außenhandels- und Leistungsbilanz zu erheblichen Risiken im Euroraum und zu dauernden Nachteilen für die Handelspartner führen muss, weil sich diese chronisch verschulden müssen, und dass die deutsche Exportstrategie zur Deindustrialisierung in diesen Ländern führt, ist kein Thema für den Beirat. Er diskutiert einige ganz sinnvolle Vorschläge zur Verringerung dieser Überschüsse, lehnt diese allesamt aber mehr oder minder entschieden ab. Das zeigt, dass der Beirat in der Sache selbst den deutschen Handelsmerkantilismus argumentativ zu stützen versucht. Das Gutachten hat in erster Linie die Funktion, die Kritik aus dem Ausland und von international angesehenen Institutionen und Ökonomen abzuwehren.
Literaturangaben
Zur Frage Kapital- oder Handelsbilanz:
Gustav Horn, Fabian Lindner, Kein Kapitalabfluss aus Deutschland, in: IMK Policy Brief, Düsseldorf 2011.
Dirk Ehnts, Finn Marten Körner, Wie die Leistungsbilanz die Kapitalbilanz klein erscheinen lässt, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 23, Marburg 2011.
Bedia Sahin, Keine Kausalität aus ex post-Größen, in: Horst Gischer, Jochen Hartwig, Bedia Sahin (Hg.), Bewegungsgesetze des Kapitalismus, Festschrift für Fritz Helmedag, Marburg 2018.
Zur Frage des Fiskalmultiplikators:
Olivier Blanchard, Daniel Leigh, Grow Forecast Errors and Fiscal Multipliers, in: IMF Working Paper 2013/1.
Michael Wendl ist Soziologe, Mitglied der deutschen Keynes-Gesellschaft, er hat von 1980 bis 2016 für die Gewerkschaften ÖTV und ver.di gearbeitet.