Den roten Teppich ausgerollt? »Standortnationalismus« und der Aufschwung der Rechten
17. Mai 2018 | Patrick Schreiner
Der deutsche »Standortnationalismus« habe der AfD den Boden bereitet, so lautet eine bisweilen zu hörende Einschätzung – die von anderen wiederum bestritten wird. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.
»Standortnationalismus« meint einen Nationalismus, der sich auf einen (Wirtschafts-) Standort bezieht. Der Begriff »Nationalismus« wird im Allgemeinen in zweierlei Weisen gebraucht: Zum einen kann er den »bösen Bruder« des Patriotismus meinen – übersteigert, übertrieben, ungesund, extrem. Die Grenze zu »Rechtsextremismus«, »Rassismus« oder »Chauvinismus« ist dann rasch überschritten. Dies ist eine eher alltagssprachliche Bedeutung. Zum anderen kann Nationalismus ein Denken bezeichnen, demzufolge es (erstens) »Nationen« als relevante menschliche soziale Gruppen gibt und (zweitens) die Existenz dieser »Nationen« unabänderlich und/oder gut ist. Dies ist eine eher wissenschaftliche, der sozialwissenschaftlichen Nationalismusforschung entspringende Bedeutung.
Wenngleich die Grenzen zwischen der alltagssprachlichen und der wissenschaftlichen Bedeutung fließend sind, ist es sinnvoll, beide voneinander zu unterscheiden. Denn nicht jeder, der annimmt, dass es eine deutsche Nation gebe, muss deshalb Hass oder auch nur Abneigung gegenüber Franzosen, Türken oder sonst wem verspüren. Und nicht jede, die einen solchen Hass verspürt, muss Nationen für unabänderlich halten. (Ganz im Gegenteil steckt hinter solchem Hass oft genug eine diffuse Angst vor dem drohenden Untergang der eigenen »Nation«.)
Standortnationalismus und Neoliberalismus
Wenn von »Standortnationalismus« gesprochen wird, ist offensichtlich die zweite Bedeutung gemeint. Dahinter steht dann die Idee, dass Nationen (hier genauer: Nationalstaaten) zugleich Wirtschaftsstandorte seien. Standorte also, die sich in einer internationalen Konkurrenz um Investitionen, Märkte, Arbeitsplätze usw. befinden. Aufgabe von Politik ist es aus dieser Sicht, die eigene Nation als den eigenen Standort fit für die internationale Konkurrenz zu machen: durch eine bessere Ausbildung der Bevölkerung, durch niedrigere Steuern und Löhne, durch eine funktionierende Infrastruktur, durch flexible Arbeitsmärkte oder durch schwache Gewerkschaften und Beschäftigte. Der Politikwissenschaftler Joachim Hirsch spricht in diesem Zusammenhang kritisch vom »nationalen Wettbewerbsstaat«.
Der Erfolg von Politik ist aus standortnationalistischer Sicht am Erfolg der eigenen Nation (des eigenen Standorts) in der ▸internationalen Konkurrenz zu messen. Als wichtige »Beweise« für den eigenen Erfolg gelten dabei etwa der Umfang der Unternehmensansiedlungen (gerade auch aus dem Ausland), der eigenen Exporte sowie insbesondere der ▸Exportüberschüsse. Die Konsequenz dieses Denkens ist eine paradoxe Wirtschafts-, Sozial- und ▸Arbeitsmarktpolitik: Standorte/Nationen versuchen, die eigene volkswirtschaftliche Nachfrage (etwa Löhne und Staatsausgaben) möglichst stark zu reduzieren, um preislich konkurrenzfähig und attraktiv zu sein und/oder um möglichst wenig eigene Nachfrage ins Ausland abfließen zu lassen. Zugleich versuchen sie, möglichst viel Nachfrage anderer Standorte (Nationen) abzugreifen. Aus ökonomischer Sicht ist das unsinnig und schädlich, was die Ãœberzeugungskraft standortnationalistischer Ãœberzeugungen aber offensichtlich nicht mindert.
So gesehen ist Standortnationalismus die Ideologie eines internationalen Wirtschafts- und Handelssystems, das in extremem Umfang auf Märkte und zwischenstaatliche Konkurrenz setzt. Ein solches System ist keineswegs natur- oder gottgegeben, sondern politisch gemacht; es basiert auf bewussten politischen Entscheidungen und Beschlüssen. Zwischen 1944 und 1973 beispielsweise setzten die westlichen Staaten sehr viel stärker auf internationale wirtschaftliche Kooperation. Seitdem aber haben sie die Weichen dafür gestellt, dass deregulierte Märkte und entfesselte Konkurrenz zu den bestimmenden Prinzipien der Weltwirtschaft und der zwischenstaatlichen (Wirtschafts-) Beziehungen wurden – etwa durch den allgemeinen ▸Abbau von Regulierungen, durch Privatisierungen, freie Wechselkurse, Kapitalverkehrsfreiheit und Freihandelsabkommen. Das Zeitalter des Neoliberalismus war angebrochen.
Daraus folgt allerdings keineswegs, dass Handeln und Entscheiden in einem standortnationalistischen Umfeld stets standortnationalistisch begründet und durchdacht sein muss. Wenn Kommunalpolitik einem internationalen Konzern für dessen Ansiedlung Steuervorteile gewährt, muss dahinter keine umfassende standortnationalistische Überzeugung stehen. Das Gleiche gilt, wenn Gewerkschaften oder Beschäftigte auf eine angedrohte Standortschließung vor Ort mit Lohnzurückhaltung reagieren. Vielmehr handeln und entscheiden sie alle aus einer Situation heraus, in der sie erpressbar sind. Die Machtverhältnisse haben sich zu Gunsten des Kapitals verschoben. Globale Konkurrenz zwischen Kommunen, Beschäftigten, Unternehmen und Standorten ist Realität.
Diese Feststellung ändert zwar nichts an dem Umstand, dass jede dieser Handlungen und Entscheidungen das bestehende Wirtschafts- und Handelssystem stabilisiert. Auch widerspricht sie nicht der Feststellung, dass Kommunen oder Gewerkschaften durchaus standortnationalistisch handeln und entscheiden können (und auch schon so gehandelt und entschieden haben). Sie macht aber deutlich, dass Standortnationalismus nicht das einzige denkbare Motiv hinter bestimmten Handlungen und Entscheidungen ist.
Dies gilt umso mehr, als abhängig Beschäftigte und Gewerkschaften generell in die Defensive geraten, wenn standortnationalistisches Denken die Politik eines Landes in weiten Teilen prägt. Sie sehen sich durch Politik, Medien und Öffentlichkeit dem Druck ausgesetzt, Arbeitsmarkt-Flexibilisierung und (Lohn-) Kostensenkung mitzutragen. Gewerkschaftspolitik wird dann danach beurteilt, ob sie dem Erfolg des jeweiligen Standorts (nach neoliberalen Kriterien) zu- oder abträglich ist. Die Frage, ob es zu einer Art standortnationalistischem Bündnis von Kapital und Arbeit kommt, ist dabei eher zweitrangig (in den seltensten Fällen kommt es dazu). Entscheidend ist vielmehr, dass sich abhängig Beschäftigte und Gewerkschaften der Erwartung gegenübersehen, ein solches Bündnis offen oder stillschweigend einzugehen. Damit verliert originär gewerkschaftliche, konfliktorientierte Interessen- und Klassenpolitik ebenso an Legitimität wie jedes grundlegend kritische Denken, das auf reale Alternativen zur bestehenden globalen Konkurrenzlogik zielt.
Standortnationalismus und Nationalismus
Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig überzeugend, von bestimmten Handlungen und Entscheidungen generell und pauschal auf standortnationalistisches Denken zu schließen und darin wiederum eine zentrale Ursache rechten nationalistischen Denkens zu vermuten.
Dies gilt umso mehr, als ein »Standortnationalismus« sich in vielem von dem unterscheidet, was gemeinhin als »Nationalismus« im oben erstgenannten, rechten Sinne bezeichnet wird. Nur einige Beispiele: Ein Standortnationalismus ist nicht notwendig rassistisch oder ausländerfeindlich – er kann ganz im Gegenteil durchaus kosmopolitisch sein. Zumindest in Westeuropa war er dies bis zum Erstarken der neuen und alten Rechtsparteien fast durchgängig. Auch ist ein Standortnationalismus nicht notwendig mit einem traditionellen Frauen- und Familienbild verknüpft, wie es eine nationalistische Rechte üblicherweise vertritt. Und nicht zuletzt fordert ein Standortnationalismus keineswegs geschlossene Grenzen, sondern er will diese zumindest für Kapital, Waren, Dienstleistungen – und manchmal für gut Ausgebildete – sogar öffnen. Grenzüberschreitende Konkurrenz und Freihandel setzen eine gewisse Offenheit von Grenzen voraus.
Und doch hat Standortnationalismus Gemeinsamkeiten mit dem Nationalismus im oben erstgenannten Sinne. Hier findet rechtes Denken unmittelbare oder mittelbare Anknüpfungspunkte. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind diese Gemeinsamkeiten: Erstens ein starker Bezug auf Bevölkerung und Territorium. Konkurrenz ist aus standortnationalistischer Sicht eine Konkurrenz zwischen bestimmten Territorien und ihren Bevölkerungen. Damit hängt zweitens eine Vorstellung von Zugehörigkeit zusammen. Aus standortnationalistischer Perspektive ist klar und muss klar sein, wer zur eigenen Nation (zum eigenen Standort) gehört und wer nicht. Das kann, muss aber nicht ethnisch abgegrenzt werden. Drittens eine Idee von nationaler Geschlossenheit. Kapital und Arbeit stehen aus standortnationalistischer Sicht nicht im Konflikt miteinander, sondern sie teilen ein gemeinsames Interesse an Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland und gegenüber den dortigen (angeblichen) Bündnissen von Kapital und Arbeit. Nationen gelten auch in diesem Sinne als Existenzgemeinschaften. Viertens eine quasi-religiöse Märtyrer-Denke. Aus standortnationalistischer Sicht sollen heutige Opfer (etwa niedrigere Löhne oder geringere soziale Sicherheit) langfristig eine verheißungsvollere Zukunft bringen. Fünftens schließlich – als Gegenpol zur verheißungsvollen Zukunft – die ständig am Horizont aufscheinende Möglichkeit des Untergangs. Eine Niederlage in der Konkurrenz mit anderen Standorten führt aus dieser Perspektive in tiefste politische, soziale und ökonomische Krisen.
So zu tun, als gebe es zwischen Standortnationalismus und Rechtstendenzen gar keinen Zusammenhang, überzeugt daher nicht. Auch politische Handlungen und Entscheidungen, die das bestehende neoliberale Wirtschafts- und Handelssystem stabilisieren, ohne selbst standortnationalistisch motiviert zu sein, erscheinen vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht. Hinter ihnen wäre zumindest mangelnde ökonomische und politische Weitsicht zu vermuten – oder mangelnder Wille, an den bestehenden Verhältnissen etwas zu ändern.
Ein Rückblick auf die deutsche Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik
In den letzten 20 Jahren traten standortnationalistische Argumentationen in Deutschland in mindestens vier Varianten und Situationen auf:
Erstens rund um die Jahrtausendwende. Es war die Blütezeit des Marktextremismus vor dem Hintergrund einer hohen Arbeitslosigkeit. Schon Schwarz-Gelb unter Helmut Kohl hatte in den 1990er Jahren mit der angeblich mangelnden »Wettbewerbsfähigkeit« Deutschlands argumentiert. Rot-Grün unter Gerhard Schröder tat es ihm nach. Beide Regierungen ▸deregulierten umfassend die Arbeitsmärkte, senkten das soziale Sicherungsniveau, beleidigten und schwächten Gewerkschaften und Beschäftigte, reduzierten Steuern für Unternehmen und Reiche. Kurzum: Sie führten exakt jene Politik durch, die aus standortnationalistischer Sicht als die richtige gilt. Entsprechend lauteten auch die Begründungen dafür: Deutschland müsse wieder wettbewerbsfähiger werden. Und wenn ihm das gelinge, dann kämen auch wieder bessere Zeiten. Nach mageren Jahren sollten wieder fette folgen.
Zweitens im Zuge der so genannten ▸Eurokrise. Während Deutschland seine (standortnationalistischen) Aufgaben mit Erfolg erledigt habe, hätten die Krisenländer in Europa dies sträflich unterlassen. Weshalb diese sich nun an Deutschland als Vorbild orientieren müssten. Als Volker Kauder (CDU) 2011 verkündete, in Europa werde nun »Deutsch gesprochen«, brachte er dieses Denken auf den Punkt. Die standortnationalistische Perspektive liegt der Krisenpolitik der Europäischen Union ebenso zu Grunde wie der Europapolitik aller Regierungen Angela Merkels und der Arbeitsmarkt- sowie Wirtschaftspolitik Emmanuel Macrons (Frankreich) und Matteo Renzis (Italien) sowie weiterer derzeitiger und früherer Regierungen.
Drittens aktuell in der Abwehrhaltung fast der gesamten politischen Klasse in Deutschland gegenüber der internationalen Kritik an den ▸deutschen Exportüberschüssen. Exportüberschüsse werden von rechts bis fast ganz links als Ausweis politischer Erfolge gefeiert. Nicht zuletzt an den scharfen und unsachlichen Reaktionen auf Donald Trumps Drohung mit Zöllen auf Aluminium und Stahl zeigt sich, wie gering in Deutschland die Fähigkeit oder Bereitschaft ausgeprägt ist, die Problematik von Exportüberschüssen und -defiziten zu erkennen.
Dies gilt – damit zusammenhängend – viertens auch für die Verteidigung der angeblichen Erfolge von »Agenda 2010«, »Hartz IV« und »Reformpolitik«. Aufgrund seiner massiven und ungesunden Exportüberschüsse exportiert Deutschland heute faktisch Arbeitslosigkeit. Zugleich hat es seit den frühen 2000er Jahren ▸Arbeit – in Stunden gemessen – nur in sehr geringem Umfang neu geschaffen. Es reduziert seine eigene volkswirtschaftliche Nachfrage und greift stattdessen die Nachfrage anderer Länder ab. Und destabilisiert damit die europäische und globale Wirtschaft. Eine nachhaltige und erfolgreiche Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sieht anders aus. Dennoch gelten jene Reformen in deutscher Politik und Öffentlichkeit mehrheitlich als erfolgreich.
Standortnationalistisches Denken war und ist in Deutschland also durchaus verbreitet. Hier gab und gibt es unmittelbare Anknüpfungspunkte für rechtes Denken – auch über die oben vorgenommenen allgemeinen Ausführungen hinaus. So konnte (auch) die AfD mit ihrer Eurokritik unmittelbar den Gedanken aufgreifen, dass Deutschland seine Hausaufgaben gemacht habe, die Krisenländer hingegen nicht, weshalb sie selbst Schuld an ihrer Misere trügen. Und sogar im Hass auf Flüchtlinge schimmert eine standortnationalistische Hintergrundfolie durch: »Wir« haben für den Erfolg der Nation im internationalen Konkurrenzkampf verzichtet und damit alles richtig gemacht – weshalb sollten »wir« nun »denen« (den »Verlierern«) auch noch etwas abgeben? Auf die Einwanderung aus Osteuropa, insbesondere aus Bulgarien und Rumänien, lässt sich diese Denke in gleicher Weise anwenden. Zu diesen Positionen steht der Umstand, dass die AfD in Mitgliedschaft und Fraktionen eine beträchtliche Zahl an Menschen mit Migrationshintergrund hat, keineswegs im Widerspruch. Die standortnationalistische Existenzgemeinschaft muss sich, wie bereits erwähnt, nicht ethnisch definieren.
Fazit
Auf der einen Seite ist Standortnationalismus mit Rassismus und Chauvinismus keineswegs identisch. Letztere sind auch nicht zwingend Bestandteile von ersterem. Und nicht jede politische Handlung oder Entscheidung, die im Kontext von Erpressbarkeit und Konkurrenz getroffen wird, ist bewusst standortnationalistisch motiviert. Daher ist es politisch wenig zielführend, sie alle (und noch viel mehr) in einen Topf werfen zu wollen. Auf der anderen Seite aber kann Standortnationalismus rassistischem und chauvinistischem Denken durchaus Vorschub leisten. Er bietet Anknüpfungspunkte und Einfallstore für rechtes Gedankengut. Davor die Augen zu verschließen, sich dessen nicht bewusst zu sein, ist politisch genauso wenig zielführend.
Mithin gibt es einen Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und neuen Rechtstendenzen. Standortnationalismus ist allerdings (nur) ein Aspekt dieses Zusammenhangs – nicht mehr und nicht weniger. Er sollte in seiner Bedeutung weder über- noch unterschätzt werden.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.