Rezension
Deutscher Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration
8. April 2019 | Tobias Ernsing
Darf man über Gangsta-Rap und generell Popkultur etwa nicht (ideologie-)kritisch schreiben? Ein Sammelband zeigt: Doch, man sollte es sogar.
Über Gangsta-Rap zu schreiben sei völliger Quatsch, noch dazu, wenn man nicht in der Szene aktiv ist. Solche oder ähnliche Sätze habe ich nicht nur einmal gehört. Auf Nachfrage gab es nur selten eine Antwort oder knappe Erklärungen: Das sei nicht real, zu abgehoben, man würde die Kunstform eh nicht verstehen oder diese sogar dadurch kaputt machen.
Warum gibt es diese Abwehr einer kritischen Auseinandersetzung? Warum wird Gangsta-Rap so glorifiziert und als unantastbar, eben real dargestellt? Gründe, über das Musikgenre zu schreiben und es auch zu kritisieren, gibt es schließlich genug.
Die beiden Sozialwissenschaftler Martin Seeliger und Marc Dietrich benennen in ihrem Buch »Deutscher Gangsta-Rap - Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration« drei Gründe, warum sich die Sozial- und Kulturwissenschaften mit dem Thema auseinandersetzen sollten. Erstens ist Gangsta-Rap ein Ort der symbolischen Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Zweitens fungieren die Bildwelten des Gangsta-Raps als kultureller Pool von Identitätsangeboten, der vor allem für Jugendliche eine sinn- und identitätsstiftende Funktion hat. Drittens lassen sich über die Analyse von Gangsta-Rap-Images Rückschlüsse zur allgemeinen, zeitgenössischen Kultur ableiten. Das Buch erschien im Jahr 2012.
Popkultur Gangsta-Rap
Fünf Jahre später legen die Herausgeber in dem zweiten Sammelband zum gleichen Thema den Fokus stärker auf Gangsta-Rap als Popkultur, anhand der sich Kämpfe um Integration und soziale Ungleichheit dokumentieren lassen.
So gibt es Beiträge, die sich mit den Autobiographien von Bushido, Massiv, Fler und Xatar beschäftigen, um anhand dieser die kulturelle Konstruktion des Gangsta-Rap-Images zu vergleichen und aus intersektionaler Sicht in den Blick zu nehmen. Am Beispiel der Frankfurter Rapperin Schwesta Ewa werden die Ambivalenzen des Genres mit Blick auf die Geschlechterimplikationen der typischen Selbstinszenierung herausgearbeitet. Auch wird darauf eingegangen, inwieweit Gangsta-Rap im Feuilleton Beachtung findet. Ein Beitrag von Hannes Loh und Murat Güngör, die schon das Buch »Fear of a Kanak Planet – HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap« herausgebracht haben, beschäftigt sich mit den Wurzeln des Genres, den sie in der deutschen Einwanderungsgeschichte lokalisieren.
Gangsta-Rap als Leistungsappell
Mit dem neoliberalen Paradoxon des Gangsta-Rap setzen sich Alexander Bendel und Nils Röper in ihrem Beitrag auseinander. Sie schreiben, dass in Gangsta-Rap einerseits die eigene Marginalisierung und die vorherrschende Perspektivlosigkeit des jeweiligen Umfeldes angeprangert, andererseits in Form des neoliberalen Narrativen des from rags to riches das Leistungsprinzip als Antwort auf die alltäglichen Probleme propagiert wird. So bringt Rap ein polit-ökonomisches Paradoxon zu Tage: Aus vom Neoliberalismus Marginalisierten werden dessen Fahnenträger. Dieses Paradoxon sei, so Bendel und Röper, Ausdruck des Strebens nach gesellschaftlicher Anerkennung. Wem gesellschaftliche Anerkennung verwehrt bleibt, die oder der versucht umso mehr, dem gesellschaftlichen Ideal zu entsprechen. Dadurch werden die neoliberalen Inhalte in den Lyrics zumindest in Teilen zum Ausdruck neurotischer, entfremdeter Identitäten.
Anhand von 18 untersuchten Alben und zwei Büchern kommen die Verfasser zu dem Ergebnis, dass Bushido im Rahmen eines Kampfes um Anerkennung explizit neoliberale Inhalte überkompensatorisch zum Ausdruck bringt. Dieser Kampf um Anerkennung, Selbstbehauptung und Selbstbestimmung ist ein Ausdruck einer betriebenen Identitätspolitik. Der scheinbare Widerspruch aus seiner aggressiv-neoliberalen Weltanschauung und der Thematisierung der eigenen Marginalisierung wird aufgelöst. Die Autoren kommen zu dem Fazit, dass mangelnde Anerkennung zu einer Entsolidarisierung führt, die den Boden für einen neoliberalen Diskurs bereitet und darin Identifikationspotenziale aufrecht erhält. Eindrucksvoll wird deutlich, dass die vorherrschende Ideologie ihre Dominanz auch gegenüber den von ihnen marginalisierten Gruppen aufrechterhalten kann. So werden viele Gangsta-Rap-Künstler_innen, mit denen sich Heranwachsende identifizieren, zu Idolen einer Ideologie, die die Marginalisierung vorantreibt.
Real oder nicht real?
Da die meisten Rapper_innen die besitzende Klasse nicht abschaffen wollen, sondern ein Teil ihrer sein möchten, handelt es sich beim Gangsta-Rap also nicht um einen symbolischen Ausdruck eines Klassenkampfes.
Der Rap-Journalist Falk Schacht führt aus, dass die Umstände, in denen die Armen der Gesellschaft leben müssen, automatisch Einzelkämpfer_innen hervorbringe, die damit beschäftigt seien, zu überleben. Wenn man als Einzelkämpfer_in aufwachse, so sehe man diejenigen, die neben einem stehen, nicht als Partner_innen für die Revolution an, sondern als Konkurrent_innen im Überlebenskampf. »Wenn man nicht weiß, was man in drei Stunden zu fressen hat, dann hat man auch keine Zeit und Muße, über die Revolution nachzudenken. Das ist der Punkt, man muss sich die Revolution leisten können.« (S. 26)
Ob es nun real ist oder gar die Kunstform verrät, wenn man sich wissenschaftlich mit dem Genre auseinandersetzt, soll hier nicht beantwortet werden. Fakt ist, dass dieser Sammelband interessante und abwechslungsreiche Themen aufwirft und eine große Lücke in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gangsta-Rap verkleinert. Denn Gangsta-Rap ist nicht ohne Wirkung und muss in seiner sozialen und ideellen Dimension betrachtet und eingeordnet werden. Aber klar: Es ist ein Buch von Akademiker_innen für Akademiker_innen, die dieses Genre mehr oder weniger von außen betrachten. Real? Mir egal.
Bibliografische Angaben
Martin Seeliger / Marc Dietrich (Hg.) 2017: Deutscher Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration. transcript, Bielefeld. ISBN: 978-3-8376-3750-2. 324 Seiten. 29,99 Euro.
Der Artikel erschien zuerst auf ▸kritisch-lesen.de. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Tobias Ernsing Tobias Ernsing ist Sozialpädagoge in Hamburg, Autor des Buches "Ich kann schlafen, wenn ich tot bin - work hard, stack checks. Neoliberalismus im populären deutschsprachigen Gangsta-Rap", macht selbst Musik und setzt sich mit Jugendkulturen auseinander.