Die Bedeutung des demographischen Wandels für das Rentensystem
29. Oktober 2020 | Günter Eder
Oft heißt es, der demographische Wandel mache eine gute gesetzliche Rente unfinanzierbar. Doch wer so argumentiert, lässt wichtige Faktoren außer acht – insbesondere die Entwicklung der Produktivität und die Einwanderung.
Die Menschen in Deutschland leben immer länger. Lag das durchschnittliche Sterbealter im Jahr 1968 noch bei 70 Jahren, so beträgt es heute, 50 Jahre später, bereits 80 Jahre, und es wird allgemein davon ausgegangen, dass sich diese Entwicklung weiter fortsetzt. Das hat Folgen für die Altersicherung; Folgen, die bei der Ausgestaltung des zukünftigen Rentensystems berücksichtigt werden müssen. Es genügt allerdings nicht, lediglich vor der wachsenden Differenz zwischen der Zahl alter und der Zahl junger Menschen zu warnen und daraus abzuleiten, dass die gesetzliche Rente bald nicht mehr bezahlbar sein wird, das Renteneintrittsalter folglich angehoben und die private Vorsorge ausgeweitet werden müsse. Das sind vorschnelle und nur bedingt zielführende Schlussfolgerungen.
Wirtschaft und Demographie
2019 hat das Statistische Bundesamt (StBA) seine letzte Bevölkerungsvorausberechnung vorgelegt (vgl. [1]). Die Studie berücksichtigt den Bevölkerungsstand bis zum Jahr 2018 und erstreckt sich bis ins Prognosejahr 2060. Die mögliche zukünftige Entwicklung wird vom StBA mittels Szenarien abgeschätzt, das heißt, es wird aufgezeigt, wie sich die Bevölkerung unter bestimmten Annahmen entwickeln könnte bzw. entwickeln würde. Als variable Einflussgrößen gehen die Geburtenhäufigkeit, die Lebenserwartung und der Wanderungssaldo in die Berechnung ein (vgl. Tab. 1).
Aus diesen neun Annahmen ergeben sich 27 Kombinationsmöglichkeiten. Für sie alle stellt das Statistische Bundesamt Prognose-Szenarien zur Verfügung. Die für die Szenarien angenommenen Zuwanderungsraten sind aus den Wanderungssalden der Vergangenheit abgeleitet. So entspricht eine Nettozuwanderung von jährlich 147.000 Personen der mittleren Zuwanderung zwischen 1955 und 1989. Der Wert erhöht sich auf 221.000 Personen, wenn der gesamte Zeitraum von 1955 bis 2018 betrachtet wird. Und zwischen 1990 und 2018 sind durchschnittlich 311.000 Zuwanderer ins Land gekommen. Das Statistische Bundesamt ergänzt das Prognosetableau noch um zwei Szenarien ohne jede Zuwanderung sowie um ein Szenario mit einem besonders hohen Wanderungssaldo von +386.000 Personen p.a.
Der starke Zuzug ausländischer Arbeitskräfte in der Vergangenheit ist Ausdruck einer prosperierenden Wirtschaft auf der einen Seite und eines Rückgangs der Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung auf der anderen Seite. Abbildung 1 vermittelt einen Eindruck davon, wie sich der Geburtenrückgang demographisch ausgewirkt hat und wie die weitere Entwicklung der Zahl der Unter-20-jährigen aussehen könnte.
Abbildung 1
In den letzten 50 Jahren verringerte sich die Zahl junger Menschen von einem absoluten Höchststand von 23,6 Mio. Personen im Jahr 1969 (Babyboomer-Generation) auf nur noch 15,3 Mio. im Jahr 2018. Seit 2013 ist ein leichter Anstieg der Werte zu beobachten. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, könnte für 2060 mit etwa 17,4 Mio. Über-20-jährigen gerechnet werden (G3). Für den Fall, dass die Geburtenziffer dagegen auf 1,4 Kinder pro Frau zurückgeht, würde die Zahl der Kinder und Jugendlichen auf 14,1 Mio. im Jahr 2060 absinken (G1).
Es stellt sich die Frage, welche der zahlreichen Prognosevarianten des Statistischen Bundesamtes für die Analyse und Beurteilung der zukünftigen Rentensituation Verwendung finden sollte. Ist in Zukunft eher mit steigenden oder mit sinkenden Zuwanderungszahlen zu rechnen? Sollte man eher von hohen oder von niedrigen Geburtenziffern ausgehen? Auch die Frage, wie alt die Menschen in Zukunft werden, ist für die Rentenproblematik von Bedeutung. Ein wichtiger Fingerzeig, wie man an dieser Stelle vorgehen könnte bzw. vorgehen sollte, kommt von Professor Rürup. Er verweist darauf, wie wichtig es ist, ökonomische und demographische Entwicklungen aufeinander abzustimmen. In dem 2003 veröffentlichten Abschlussbericht der Rürup-Kommission zur Finanzierbarkeit sozialer Sicherungssysteme heißt es: »Die Projektion der Arbeitsmarktentwicklung allein aus der demographischen Entwicklung ohne Einbettung in ein gesamtwirtschaftliches Szenario ist zwar möglich, birgt aber das Risiko unplausibler Ergebnisse, da der implizit damit verbundene Wachstumspfad außer Acht gelassen wird« (vgl. [2]).
Übertragen auf die vorliegende Problemstellung bedeutet dies, dass die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner im Erwerbsalter groß genug sein muss, um eine angenommene wirtschaftliche Entwicklung gewährleisten zu können. Entscheidend für die Höhe der zukünftigen Nachfrage nach Arbeitskräften ist, wie sich die Arbeitsproduktivität im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) entwickelt. Bleibt der Anstieg der Produktivität hinter dem Anstieg des BIP prozentual zurück, so ergibt sich volkswirtschaftlich ein größerer Bedarf an Arbeitskräften. Im umgekehrten Fall ein geringerer. Zwischen 1991 und 2018 nahm das BIP um durchschnittlich 1,05 Prozent p.a. zu. Die Produktivität stieg im gleichen Zeitraum lediglich um 0,71 Prozent. Folgerichtig nahm die Zahl der Erwerbstätigen zu. Sie stieg von 38,8 Mio. (1991) auf 44,8 Mio. (2018).
Zur Abschätzung des zukünftigen Erwerbstätigenbedarfs werden nachfolgend unterschiedliche Annahmen hinsichtlich der Entwicklung der Produktivität gemacht. Während der Zuwachs des BIP mit +1,05 Prozent konstant gehalten wird, variiert die Produktivität um den mittleren Wert von +0,71 Prozent (Szenario A). Im Szenario B wird ein jährlicher Produktivitätszuwachs von +0,49 Prozent unterstellt, im Szenario C von +1,06 Prozent.
Im Falle einer wirtschaftlichen Entwicklung wie im Szenario A würde die benötigte Zahl an Erwerbstätigen von 44,8 Mio. im Jahr 2018 auf 50,1 Mio. im Jahr 2060 ansteigen. Sollte die Produktivität weniger stark zunehmen, würden mehr Erwerbstätige benötigt und der Bedarf würde im Jahr 2060 bei 53,5 Mio. liegen (Szenario B). Stiege die Produktivität dagegen ähnlich stark an wie das BIP (+1,06 Prozent gegenüber +1,05 Prozent beim BIP), würde die Nachfrage nach Arbeitskräften nicht zunehmen, sondern bliebe über den gesamten Prognosezeitraum hinweg etwa konstant (Szenario C).
Damit die wirtschaftliche Nachfrage nach Arbeitskräften befriedigt werden kann, muss stets ein hinreichend großes Potential an Menschen im Erwerbsalter vorhanden sein. Als potentielle Arbeitskräfte gelten hier alle Personen zwischen 20 Jahre als unterer Altersgrenze und dem gesetzlichen Renteneintrittsalter als oberer Grenze. Diese Größe wird allgemein als Erwerbstätigenpotential bezeichnet.
Wichtig für die Überlegung, wie hoch das Erwerbstätigenpotential bei einer angenommenen wirtschaftlichen Entwicklung sein muss, ist die Erwerbstätigenquote. Diese Kennzahl gibt den Anteil der tatsächlich Erwerbstätigen am Erwerbstätigenpotenzial wieder. Je niedriger die Quote, desto höher muss das Arbeitskräftepotential ausfallen - und umgekehrt. In den zurückliegenden zwanzig Jahren ist der Anteil der Erwerbstätigen bezogen auf das Erwerbstätigenpotential kontinuierlich gestiegen, von 74 Prozent im Jahre 1996 auf 89 Prozent im Jahr 2018. Für die Prognose wird davon ausgegangen, dass die Quote weiter ansteigen und in Zukunft bei etwa 95 Prozent liegen wird. Ein solcher Anstieg ist beispielsweise möglich, wenn mehr Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen und/oder wenn mehr Arbeitslose eingestellt werden.
Das Erwerbstätigenpotential selbst hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von der Regelaltersgrenze. Je höher diese liegt, desto größer ist das Reservoir an Arbeitskräften. Bis zum Jahr 2011 lag das Renteneintrittsalter über viele Jahre hinweg konstant bei 65 Jahren. Seit dem Jahr 2012 wird es stufenweise angehoben und im Jahr 2030 dann bei 67 Jahren liegen. Durch diese Maßnahme nimmt das Arbeitskräftepotential um etwa 2 Mio. Personen zu.
Nun stellt sich die Frage, wie die demographische Entwicklung ausfallen muss, damit das Erwerbstätigenpotential ausreicht, um den Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft zu decken, ohne die Arbeitslosenzahlen in die Höhe zu treiben. Die entscheidenden Stellschrauben hierbei sind (bei gegebener Arbeitsproduktivität, siehe oben) die Geburtenrate und die Zuwanderung. Dabei ist zu beachten, dass die Geburtenrate erst nach etwa zwanzig Jahren eine spürbare Auswirkung auf den Arbeitsmarkt hat, während über Zuwanderung auch aktuelle Defizite ausgeglichen werden können.
Abbildung 2 vermittelt (als theoretische Betrachtung) einen anschaulichen Eindruck von der vergangenen und zukünftigen Arbeitsmarktsituation. Aufgetragen sind die Entwicklung des Erwerbstätigenbedarfs bei einer wirtschaftlichen Entwicklung, wie sie im Szenario A angenommen wird, und die Entwicklung des Erwerbstätigenpotentials für den (theoretischen) Fall, dass in Zukunft keine Zuwanderung mehr erfolgen würde. Trotz einer relativ hoch angesetzten Geburtenrate weisen die Kurven über den gesamten Prognosezeitraum hinweg eine gegenläufige Entwicklung auf, die bis zum Jahr 2060 keinerlei Abschwächung erfährt und sich vermutlich auch danach weiter fortsetzten wird. Die Differenz zwischen der Nachfrage und dem Angebot an Arbeitskräften würde danach bis 2060 auf fast 15 Mio. Personen ansteigen. Geschlossen oder verringert werden kann die Lücke nur durch Steigerung der Arbeitsproduktivität, durch Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte oder durch Anhebung des Renteneintrittsalters. Die Geburtenrate hat wenig Einfluss auf die Situation.
Abbildung 2
Ein Anheben des Renteneintrittsalters von 67 auf 70 Jahre hätte zur Folge, dass das Erwerbstätigenpotential bis zum Jahr 2060 um etwa 3 Mio. Personen ansteigt (vgl. Abb. 4). Das reicht bei weitem nicht aus, um die zu erwartende Arbeitsmarktlücke zu schließen. Die entscheidende Größe, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Angebot und Bedarf an Arbeitskräften sicherzustellen, ist die Zuwanderung. Der Tabelle 2 kann entnommen werden, wie hoch die Zuwanderung bei einer gegebenen Produktionssteigerung und unterschiedlichen Annahmen zur Produktivitätsentwicklung ausfallen müsste. Den Berechnungen liegt eine Geburtenrate von 1,7 Kinder pro Frau und ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren zugrunde.
Das Szenario A ist, wie bereits erwähnt, mit einem Erwerbstätigenbedarf von 50,1 Mio. Personen im Jahr 2060 verbunden. Geht man von einer Erwerbstätigenquote von 95 Prozent aus, so muss ein Potential von 52,7 Mio. Einwohnern vorhanden sein, damit der Arbeitskräftebedarf gedeckt werden kann. Ein derart hohes Erwerbstätigenpotential kann mit keiner der Prognosevarianten des Statistischen Bundesamtes sichergestellt werden. Um den Erwerbstätigenbedarf befriedigen zu können, müssten also mehr Arbeitskräfte ins Land kommen.
Die Prognosevarianten des Statistischen Bundesamtes bieten die Möglichkeit, durch Abgleich der vorhandenen Szenarien die Höhe der erforderlichen Zuwanderung abzuschätzen. Im Falle des Szenarios A ist danach ein Wanderungssaldo von etwa 460.000 Personen pro Jahr erforderlich, damit genug Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.
Sollte die Produktivität weniger stark ansteigen als im Szenario A (bei gleichem BIP), so muss die Zuwanderung höher ausfallen. Im Falle einer wirtschaftlichen Entwicklung wie im Szenario B würden im Mittel jährlich 570.000 Immigranten zusätzlich benötigt.
Wenn die Produktivitätssteigerung (wie im Szenario C) deutlich höher ausfällt und etwa dem prozentualen Zuwachs des BIP entspricht, steigt der Bedarf an Erwerbstätigen nicht weiter an, sondern bleibt konstant. Zur Abschätzung der demographischen Entwicklung kann in diesem Fall auf die Prognosevariante 21 des Statistischen Bundesamtes zurückgegriffen werden. Das bedeutet, dass jährlich etwa 311.000 ausländische Arbeitskräfte ins Land kommen müssen.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 (vgl. [3]). Für den Fall, dass das Erwerbspersonenpotential nicht zurückgehen, sondern konstant bleiben soll, prognostizieren die Autoren bis zum Jahr 2050 einen jährlichen Zuwanderungsbedarf zwischen 346.000 und 533.000 Personen.
Demographie und Rente
Wie wirken sich nun die angenommenen wirtschaftlich-demographischen Entwicklungen auf die Zahl der Rentner und damit auf das Rentensystem aus? Die Antwort hängt wesentlich von der zukünftigen Lebenserwartung der Menschen ab. Es wird hier davon ausgegangen, dass Männer im Jahr 2060 durchschnittlich 84,4 Jahre und Frauen 88,1 Jahre alt werden. Das entspricht der mittleren Prognosevariante des Statistischen Bundesamtes (vgl. Tab. 1).
Es zeigt sich, dass die unterschiedlich hohen Zuwanderungsraten wenig Einfluss auf die Zahl der Rentner haben (vgl. Abb. 3). Steigt die Zahl der Immigranten von 311.000 auf 570.000 Personen jährlich, was einem Anstieg um 83 Prozent entspricht, so differieren die Zahlen der zukünftigen Rentner im Jahr 2060 lediglich um 2 Prozent. Ihre Zahl kann folglich recht genau prognostiziert werden, vorausgesetzt die Lebenserwartung entwickelt sich wie angenommen.
Abbildung 3
Der schwache Effekt, den die Zuwanderung auf die Rentnerzahlen hat, wird nicht auf Dauer so bleiben. Irgendwann werden sich die hohen Zuwanderungszahlen auch hier bemerkbar machen. Es handelt sich um einen ähnlichen Zeitverzögerungseffekt wie bei den Babyboomern, die in den 1960er Jahren geboren wurden und die ab Mitte der 2020er Jahre verstärkt in Rente gehen werden.
Wichtig für die Finanzierbarkeit zukünftiger Renten ist allerdings nicht so sehr die absolute Zahl der Rentner als vielmehr wie viele Einwohner im Erwerbsalter ihnen gegenüberstehen. Die Relation dieser beiden Größen zueinander wird als Altersquotient bezeichnet. Der Quotient weist gegenwärtig einen Wert von 0.34 (2018) auf. Das bedeutet (vereinfacht ausgedrückt), dass im Mittel etwa drei Erwerbstätige die Rente für einen Rentner aufbringen müssen (1 geteilt durch 0,34 ergibt 2,94). Der Altersquotient wird in den nächsten Jahren ansteigen und im Falle einer Entwicklung wie im Szenario A im Jahr 2060 bei 0,42 liegen. Das entspricht einem Zuwachs um 24 Prozent.
Sollte die Arbeitsproduktivität in Zukunft schwächer/stärker ansteigen als im Szenario A angenommen, so würde – nach dieser Modellrechnung – auch der Altersquotient entsprechend schwächer/stärker zunehmen und im Jahr 2060 bei 0,39 (Szenario B) bzw. 0,46 (Szenario C) liegen. Über den gesamten Zeitraum von 2018 bis 2060 gerechnet entspräche das einem Zuwachs um 15 Prozent (Szenario B) bzw. um 35 Prozent (Szenario C). Ursächlich für die unterschiedlichen Altersquotienten sind die unterschiedlichen Zuwanderungsraten in den Szenarien. Denn je mehr Menschen ins Land kommen, desto stärker steigt die Zahl der erwerbsfähigen Einwohner und desto geringer wird der Altersquotient.
Die hier ermittelten Altersquotienten fallen deutlich niedriger aus als allgemein angenommen wird. Das Prognos-Institut beispielsweise unterstellt in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung in dem Referenzszenario einen Zuwachs um 63 Prozent zwischen 2015 und 2050 (vgl. [4]), und Prof. Börsch-Supan geht in seiner offiziellen Stellungnahme zum geplanten RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz von einem Zuwachs um 72 Prozent aus (2015 bis 2060) (vgl. [5]). In einem Interview mit der Zeitschrift Capital, das im Oktober 2016 veröffentlicht wurde, spricht er sogar davon, dass sich der Anstieg des Alterquotienten bis 2030 ungefähr verdoppelt (vgl. [6]). Prof. Werding geht in der Referenzvariante seiner Studie zum demographischen Wandel von einem Anstieg des Altersquotienten um mehr als 80 Prozent aus (2015 bis 2060) (vgl. [7]). Hauptursache für die abweichende Einschätzung der Entwicklung des Altersquotienten ist, dass in den zitierten Studien der Einwanderungsaspekt nicht angemessen berücksichtigt wird. Es wird von zu geringen Zuwanderungszahlen ausgegangen. Zudem wird durchweg mit einer Regelaltersgrenze von 65 Jahren gearbeitet. Beides lässt den Altersquotienten überproportional ansteigen. Es überrascht, dass selbst in dem erst kürzlich vorgelegten Abschlussbericht der Rentenkommission, die von der Bundesregierung eingesetzt wurde, um Empfehlungen für einen verlässlichen Generationenvertrag zu erarbeiten, die weitere Entwicklung des Altersquotienten bis 2060 anhand einer Regelaltersgrenze von 65 Jahren diskutiert wird, so als hätte es die Entscheidung, die Altersgrenze bis 2030 auf 67 Jahre anzuheben, nie gegeben (vgl. [8]).
Doch zurück zu den absoluten Rentnerzahlen. Betrachtet man die Entwicklung der Zahl der Einwohner im Rentenalter in Abhängigkeit von der Regelaltersgrenze, so erhält man die in Abbildung 4 dargestellten Kurvenverläufe. Im Unterschied zur Zuwanderung, die bis 2060 nur wenig Einfluss auf die Zahl der Rentner hat, wirken sich Änderungen beim gesetzlichen Renteneintrittsalter ohne große zeitliche Verzögerung auf die Entwicklung aus.
Die dargestellten Kurvenverläufe basieren jeweils auf dem Szenario A. Für den Fall, dass das Rentenalter nicht weiter angehoben wird, sondern bei 67 Jahren verbleibt, steigt die Zahl der Rentner von 12 Mio. (1991) bzw. von 17 Mio. (2018) auf knapp 22 Mio. im Jahr 2060 an. Obwohl die Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre den Anstieg der Rentnerzahlen dämpft, muss bis 2038 mit 4,2 Mio. zusätzlichen Rentnern gerechnet werden. Danach entspannt sich die Situation und die Zahl der Rentner nimmt bis 2060 kaum noch zu. Betrachtet man den gesamten Prognosezeitraum von 2018 bis 2060, so stellt man fest, dass der jährliche Zuwachs an Rentnern mit durchschnittlich 112.000 Personen deutlich niedriger ausfällt als in der Vergangenheit. Zwischen 1991 und 2018 nahm die Zahl der Rentner im Mittel um 193.000 Personen jährlich zu, lag also fast doppelt so hoch. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters zwischen 2030 und 2060 aus demographischen Gründen nicht erforderlich ist. Allenfalls zwischen 2030 und 2038 muss der zu erwartende starke Anstieg durch geeignete Maßnahmen abgemildert bzw. überbrückt werden.
Abbildung 4
Wäre die Rente mit 65 beibehalten worden, so wäre die Zahl der Rentner bis 2060 auf 24,0 Mio. angestiegen und hätte um 2,1 Mio. Personen höher gelegen als bei der Rente mit 67. Würde andererseits ab dem Jahr 2031 das Renteneintrittsalter bis 2060 schrittweise auf 70 Jahre angehoben werden, so hätte das zur Folge, dass die Zahl der Rentner nicht nur relativ zurückgeht, d.h. bezogen auf die Rentnerzahl bei einem Eintrittsalter von 67 Jahren, sondern auch absolut. Die Rentnerzahl würde sich zwischen 2030 und 2060 von 19,0 Mio. auf 18,8 Mio. verringern. Die problematische Entwicklung zwischen 2030 und 2038 würde durch die Anhebung des Rentenalters nicht entscheidend verbessert. Zwar würde die Zahl der Rentner weniger stark ansteigen, doch läge der Zuwachs immer noch bei 1,5 Mio. Personen (statt 2,3 Mio.).
Die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung hat (in Verbindung mit der angenommenen positiven Geburtenentwicklung von 1,7 Kinder je Frau und den zu erwartenden, relativ hohen Zuwanderungszahlen) zur Folge, dass die Gesamtbevölkerung (unabhängig vom gewählten Szenario) in jedem Fall zunehmen wird. Im Jahr 2060 wird sie sich auf mindestens 86,1 Mio. Einwohner belaufen (Szenario C) und damit um 3,0 Mio. Einwohner über dem Wert des Jahres 2018 liegen (83,1 Mio.). Mit rückläufigen Einwohnerzahlen ist nur zu rechnen, wenn die Produktivität prozentual deutlich stärker ansteigen sollte als das Bruttoinlandsprodukt und infolge dessen weniger ausländische Arbeitskräfte ins Land kommen müssten.
Fazit
Nicht der Anstieg der Zahl der Rentnerinnen und Rentner wird das große soziale Problem der Zukunft sein, sondern die Frage, wie es gelingen kann, den Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft zu befriedigen, wenn das gegenwärtige Wohlstandsniveau gehalten oder sogar gesteigert werden soll, die Produktivität jedoch mit dieser Entwicklung nicht Schritt hält, so dass Jahr für Jahr viele Menschen nach Deutschland einwandern müssen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Und das über einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren. Eine solche Entwicklung könnte, wenn sie nicht angemessen kommuniziert oder gesteuert wird, eine enorme gesellschaftspolitische Sprengkraft entfalten. Welche Möglichkeiten gibt es, den Zuwanderungsbedarf zu beeinflussen?
Sieht man einmal davon ab, dass auch ein Schrumpfen der Produktion zur Folge hätte, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften zurückgeht, so ist die Höhe der Zuwanderung vor allem von der Entwicklung der Produktivität abhängig. Je stärker die Produktivität ansteigt, desto weniger Arbeitskräfte werden benötigt und desto geringer kann die Zuwanderung ausfallen. Die Produktivität wiederum ist eine veränderliche Größe, die politisch beeinflusst werden kann. Sie hängt etwa ab von der Höhe der Investitionen in Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung und nicht zuletzt in die Bildung. Der staatliche Handlungsspielraum wird durch die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse allerdings erheblich eingeschränkt. Eine Lockerung oder Abschaffung der Schuldenbremse würden die Möglichkeiten staatlichen Handelns spürbar erweitern. Für die Wirtschaft ist die Lohnentwicklung ein treibendes Moment bei Investitionen: Je stärker die Löhne steigen, desto größer ist die Motivation der Unternehmen, in neue Technologien und effektivere Arbeitsabläufe zu investieren. Um eine solche Entwicklung zu fördern, wäre es wichtig, dass Politik die Verhandlungsposition der abhängig Beschäftigten in Tarifauseinandersetzungen nachhaltig stärkt.
Sollte es auf diese (oder auf eine andere) Weise gelingen, die Problematik des demographischen Wandels zu entschärfen, würde auch die zukünftige Rentenfinanzierung keine grundsätzlichen Probleme aufwerfen. Denn das gesetzliche Rentensystem ist robust und flexibel genug, sich verändernden Realitäten anzupassen, solange eine stabile wirtschaftliche Grundlage vorhanden ist und die gesetzliche Rente in ausreichendem Maße unterstützt und gefördert wird.
Literaturhinweise
[1] Statistisches Bundesamt (Hrsg.): 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Wiesbaden 2019
[2] Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.): Nachhaltigkeit in der Finanzierung sozialer Sicherungssysteme (Rürup-Kommission), Berlin 2003
[3] J. Fuchs, A. Kubis, L. Schneider: Zuwanderungsbedarf aus Drittstaaten in Deutschland bis 2050, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2015
[4] O. Ehrentraut, S. Moog: Zukunft der Gesetzlichen Rentenversicherung, Hans-Böckler-Stiftung, Study Nr. 345, Düsseldorf 2017
[5] A. Börsch-Supan: Stellungnahme zum Gesetz über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der Gesetzlichen Rentenversicherung, Ausschussdrucksache 19(11)180neu des Deutschen Bundestages, Berlin 2018
[6] B. Langenberg: Verlogene Rentendebatte, in: capital vom 14. Oktober 2016; Link zum Artikel: ▸http://www.capital.de/wirtschaft-politik/verlogene-rentendebatte
[7] M. Werding: Demographischer Wandel, soziale Sicherung und öffentliche Finanzen, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2018
[8] Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Bericht der Kommission Verlässlicher Generationenvertrag Band I – Empfehlungen, Stand: 27. März 2020, Berlin
Wer sich über den demographischen Aspekt hinaus grundlegender und umfassender mit der Rentenproblematik befassen möchte und daran interessiert ist, wie sich die gesetzliche Rente unter bestimmten Rahmenbedingungen bis zum Jahr 2060 weiterentwickeln könnte bzw. weiterentwickeln wird, sei auf zwei Publikationen des Autors verwiesen: Zum einen auf das Buch »Die Rente im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Demographie«, das 2020 in zweiter Auflage im Rhombos-Verlag Berlin erschienen ist (ISBN 978-3-944101-47-7), und zum anderen auf den Wirtschaftsdienst-Artikel »Das Rentensystem bedarf einer Kurskorrektur« (Wirtschaftsdienst 2019, Heft 6, S. 425-431). - Im vorliegenden Artikel wird der besseren Lesbarkeit halber meist nur die männliche Form genannt, gemeint sind aber stets sowohl Männer als auch Frauen.
Günter Eder ist promovierter Mathematiker mit langjähriger Erfahrung in der Bearbeitung und Analyse statistischer Fragestellungen.