„Wie können wir den wirtschaftlichen Herausforderungen des Euro-Raums begegnen“, fragt Jens Weidmann im Titel seines Vortrags. Ich interpretiere das „Wir“, gesprochen vor der Frankfurter Banking-Community als „Wir die Banking-Community“. Wie wir sehen werden, lässt sich diese Sichtweise ganz gut durchhalten. Zugegeben: Das Wort Lüge ist strenger als üblich für die interessengeleiteten Verdrehungen, die er zum Besten gibt. Aber die Versuchung, so die Klangähnlichkeit mit dem Roman von Ulrich Plenzdorf herzustellen, ist einfach zu groß.
Alles Relative wird wegdefiniert
Die Verdrehung der Realität fängt mit einer unzulässigen Verengung an, damit dass Weidmann für den Euroraum das Bild des Luxus-Sportwagens bemüht, einer in Frankfurt besonders häufig anzutreffenden automobilen Abart. Der Ferrari fahre nicht so schnell, wie er eigentlich könnte. Mit schnell ist Wirtschaftswachstum gemeint und schon hat Weidmann alles wegdefiniert, was tatsächlich die Hauptprobleme des Euroraums ausmacht, aber aus Sicht des deutschen Kapitals nicht problematisiert werden sollte, die Ungleichgewichte. Wenn er sie im Folgenden doch thematisiert, dann nur als Unwuchten, als Problem, das daraus entsteht, dass etwa ein Reifen weniger leistungsfähig ist als die Norm. Selbst Deutschland, mit seinen riesigen, nirgends im Vortrag erwähnten Außenhandelsüberschüssen kann er deshalb auffordern, noch leistungsfähiger zu werden. Für volle Leistungsfähigkeit sollten ja alle Teile maximale Leistung bringen. Weidmann hat offenkundig hervorragende Redenschreiber.
Aus Wirkung wird Ursache
„Die Diskrepanz zwischen Preisen und Löhnen einerseits, und Produktivität andererseits war die Hauptursache für die Leistungsbilanzdefizite. Diese Defizite mussten extern finanziert werden und führten zu einer prekären öffentlichen und privaten Verschuldung.“
Tatsächlich war die Wirkungskette anders herum. Aufgrund der Nachfrageschwäche in Deutschland und des durch die Währungsunion stark sinkenden Zinsniveaus in den peripheren Ländern kam es zu einem starken Kapitalfluss aus Kerneuropa in die Peripherie. Aufgrund des leicht und billig zu habenden Kredits wurde auf Teufel komm raus investiert und gebaut. Die Kapitalflüsse waren zuerst da, die Lohnsteigerungen kamen später. Das führte zu überproportionalen Lohn- und Preissteigerungen in diesen Ländern, aber wegen der ebenfalls stark steigenden Produktion erst einmal nicht oder kaum zu Produktivitätsproblemen. Die Probleme entstanden erst, als im Zuge der Krise die Produktion einbrach und in Relation zu den gestiegenen Löhnen und dem hohen Beschäftigungsgrad zu mickrig wurde.
Statt Weidmanns verdrehter Aussage, die Ursache der Krise sei eine falsche Lohnpolitik gewesen, wäre korrekt: Ursache waren von der Europäischen Zentralbank lange Zeit ignorierte und aktiv beschönigte Kreditblasen in den peripheren Ländern. Die EZB hat sogar extra ihren Referenzwert für die Geldmengenentwicklung eingemottet, weil er Alarm schlug.
Der junge W. macht weiter mit der nächsten Verdrehung:
„Als die Märkte sich weigerten, die Defizite weiterhin zu langfristig tragfähigen Zinsen zu finanzieren, musste die Lücke geschlossen werden.“
„Sich weigerten“ trifft es nicht. Aufgrund der Subprime-Krise bekamen alle Banken ein akutes, existenzbedrohendes Liquiditätsproblem. Deshalb mussten sie die Kreditvergabe einstellen und strichen bestehende Kreditlinien, was Unternehmen, Konsumenten und Länder, die auf die ansonsten immer übliche Verlängerung von Kreditverträgen am Ende der ursprünglichen Laufzeit vertraut hatten, in existenzielle Probleme stürzte. Richtig wäre also etwa die Formulierung: Als die Banken, die sich in den USA verzockt hatten, alle Kreditlinien strichen und ihrer Aufgabe der Kreditvergabe nicht mehr nachkommen konnten, kam es zu einer schweren Rezession.
Aus Nachfrageeffekt wird Angebotseffekt
„Die Preise und Löhne wurden stärker an die Produktivität angeglichen. Dadurch werden alle Krisenländer außer Griechenland und Zypern ihre außenwirtschaftlichen Defizite im laufenden Jahr in Überschüsse umkehren können.“
Die Löhne wurden definitiv gesenkt. Das stimmt. Es stimmt auch, dass dadurch das Außenhandelsdefizit abgebaut wurde. Gelogen ist allerdings, dass Letzteres vor allem mit dem Verhältnis von Löhnen und Produktivität zu tun hätte. Im besten Fall, wie in Spanien, setzt die Zunahme der Exporte ihren langfristigen Trend fort, in den schlechteren Fällen sanken die Exporte trotz der höheren „Wettbewerbsfähigkeit“. Was das Schrumpfen oder Verschwinden der Defizite herbeiführte, war der Einbruch der heimischen Nachfrage aufgrund der gesunkenen Kaufkraft, der sich in einen Einbruch der Importe übersetzte. Die Bevölkerung dieser Länder wurde einfach zu arm gemacht, um sich Importe leisten zu können.
Die in den Brunnen gefallenen sollen mit Regenschirmen gegen schlechtes Wetter vorsorgen
Jens W. fragt dann, was man für mehr Wachstum tun könnte und kommt als Antwort unmittelbar auf die definitorische Feststellung:
„Bei Strukturreformen unterscheidet man zwischen Güter- und Arbeitsmarktreformen. Auf beiden Märkten kann viel erreicht werden. Hier würden Reformschritte zu Produktionssteigerungen führen, da Produktionsfaktoren leichter in Geschäftsfelder mit höheren Renditeerwartungen verschoben werden könnten. Und darüber hinaus wären die Länder besser in der Lage, angemessen auf unvorhergesehene Wirtschaftsereignisse und strukturelle Veränderungen wie beispielsweise die Digitalisierung zu reagieren.“
Hier driftet der junge W. in eine modelhafte neoklassische Traumwelt ab. Er sagt es im ganzen Vortrag zwar nicht so deutlich, aber gemeint ist mit diesen Strukturreformen, wie man weiß, die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten wie Kündigungsschutz und unbefristete Verträge und derartige „Friktionen“. In Ländern wie Spanien und Griechenland, die von der größten anzunehmenden ökonomischen Katastrophe getroffen wurden, sollen also Strukturreformen dieser Art umgesetzt werden, damit sie vorbereitet sind, wenn mal in der Wirtschaft etwas schiefläuft. Der zweite Grund ist ebenso weltfremd bizarr. In Ländern, in denen jeder vierte arbeitslos ist, soll die wichtigste Aufgabe darin bestehen, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die noch Beschäftigung haben, diese leichter verlieren können, damit die neuen Unternehmen und Geschäftsfelder, die es mangels Nachfrage und mangels Kredit nicht gibt, problemlos Arbeitskräfte finden würden, wenn es sie denn gäbe.
Normalbegabte Menschen würden so etwas dumm, zynisch, absurd und alles mögliche andere nennen, aber den jungen W. in seiner Selbstsicherheit ficht das nicht an und er macht weiter. Seine Zuhörer sind ja vor allem Banker, die so etwas gerne hören.
Aus dem Champion wird ein Versager
Die Strukturreformen auf den Gütermärkten sind nicht ganz so politisch sensibel, wie die auf den Arbeitsmärkten, und so nennt der junge W. beispielhaft ein paar von den besonders wichtigen, die nötig sind, um die Probleme und die Wachstumsschwäche des Euroraums aufzulösen.
„Leider sind die bürokratischen Hürden aber bei Unternehmensgründungen in vielen Ländern Europas nach wie vor hoch.  Dies gilt nicht zuletzt für Deutschland, das im Doing-Business-Report der Weltbank in dieser Hinsicht an 107. Stelle steht.“
Also: Der junge W. teilt uns mit, dass geringe bürokratische Hürden vor Unternehmensgründungen ganz, ganz wichtig sind für das Wachstum. Zum Beleg führt er Studien an, die angeblich belegen, dass, wenn man die Marktzutrittshürden von einem niedrigen Niveau wie in Dänemark auf ein mittleres wie in Spanien anhebt, die „totale Faktorproduktivität (das ist im Großen und Ganzen die Wirtschaftskraft) um volle zehn Prozent sinkt. Und dann erwähnt er noch, dass das europäische Wachstumschampion Deutschland auf diesem Feld ganz schlecht abschneidet.
Regulierung wird eindimensional
Auch zur Regulierung des Finanzsektors äußert sich der junge W. mit Tiefgang:
„Regulierung ist eine Frage der Dosierung. Anscheinend existiert – analog zum Reifendruck – eine Art optimales Maß von Regulierung.“
Mit „Regulierung“ spielt der junge W. auf das weit über 1000 Seite dicke Regelbuch von Basel III und verwandte Konvolute an. Irgendetwas ermöglicht es ihm, diese vieldimensionalen Regelkonvolute auf die eindimensionale Frage zu reduzieren: „Solls ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger sein.“
Weg mit dem Sozialklimbim
Was die Finanzpolitik angeht, plädiert Weidmann nach einer wirren Vorrede dafür, den Staats-„konsum“, also allen Sozialklimbim zu kürzen, damit man mehr investieren kann. Das ist schnörkelloser Lobbyismus für das Kapital, wie man ihn von einem aufrechten Notenbanker erwartet.
Und weil Deutschland ein Gläubigerland ist, will das deutsche Kapital natürlich keine höhere Inflation. Deshalb soll die Europäische Zentralbank nach dem Wunsch Weidmanns ihr Inflationsziel von zwei Prozent tunlichst vergessen und die Wirkung der fallenden Ölpreise herausrechnen. Vergessen ist, dass die EZB mehrmals den Forderungen der Falken aus dem D-Mark-Block nachgegeben und die Leitzinsen erhöht hat, nur weil steigende Ölpreise die Inflationsrate vorübergehend nach oben getrieben hatten. Für eine Gläubigernation ist eben jedes Argument für höhere Zinsen recht. Er erwähnt sogar die ungünstigen Wirkungen der Niedrigzinsen auf die Lebensversicherer. Er hätte auch Allianz sagen können. Denn was der Allianz frommt, ist bekanntlich gt für Deutschland.
Jens Weidmann fasst am Ende zusammen, was die Euro-Krise aus seiner Sicht lösen kann: mehr Taxifahrer und Friseure, die für weniger Geld arbeiten, und mehr Automation. Im O-Ton:
„Wir werden unser Ziel nur erreichen, wenn wir die immer noch vorhandenen Zutrittsbarrieren zu den Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkten sowie zum digitalen Markt niederreißen.“
Wenn das allein schon die Lösung ist, was ist dann „unser Ziel“, fragt man sich. Die Lösung der Krise des Euroraums sicherlich nicht. Bessere Kapitalverwertungsmöglichkeiten zu Lasten der Arbeitnehmer? Schon eher. Wessen Ziel das ist, ist klar. Das Ziel seiner Zuhörer auf dem Bankenkongress.
Dieser Artikel erschien zuerst im Blog von Norbert Häring. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.