Rezension
Die Selbstgerechten
9. Juni 2021 | Markus Krüsemann
Die politische Linke ist europaweit in der Defensive. In Deutschland laufen der Linkspartei wie der SPD die WählerInnen davon. Wie kann das sein? Und wie kann linke Politik wieder mehrheitsfähig werden? Sahra Wagenknecht gibt darauf in ihrem aktuellen Buch sehr spezielle Antworten.
Sahra Wagenknecht hat sich zurückgemeldet mit einem Buch, das schon vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin für eine Aufregung gut war. Grund waren vorab an die Öffentlichkeit gelangte Textpassagen, die von manchen als provokant empfunden wurden. Von Seiten der ▸taz wurden sie gleich in die Schublade »Generalabrechnung mit der Linken im Allgemeinen und ihrer Partei im Besonderen« einsortiert. In Verbindung mit dem Buchtitel »Die Selbstgerechten« war also für Aufmerksamkeit gesorgt.
Mittlerweile hat die Autorin in zahlreichen Interviews ihre Sicht der Dinge erläutert und mit differenzierten Statements auch für Nicht-LeserInnen durchblicken lassen, dass Sie mehr als ihre spezielle Variante eines »J’accuse« vorgelegt hat. Was hat es also auf sich mit einem Werk, das mit einer Art Paukenschlag anhebt und das eingangs die Konfrontation mit mal mehr, mal weniger politisch aktiven oder zumindest sich einmischenden sozialen Gruppen sucht, die unter den abwertend verwendeten Begriffen Lifestyle-Linke oder Linksliberale subsummiert werden?
Abseits aller Polemik will Sahra Wagenknecht hier nicht weniger als ein Programm »für Gemeinsinn und sozialen Zusammenhalt«, so der Untertitel, genauer gesagt ein »Gegenprogramm« präsentieren, und man braucht wenig Phantasie, um sich vorzustellen, dass mit der Vorsilbe »gegen« zumindest indirekt auch Bezug auf die Programmatik der Linkspartei genommen wird.
Nun ist ein politisches Programm, eine Zielsetzung immer nur so gut wie die Analyse, die ihr vorausgeht oder vorausgehen sollte. Das weiß natürlich auch Sahra Wagenknecht, die sich gleich zwei Kapitel Zeit dafür nimmt, die Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft und die Veränderung ihrer Sozialstruktur zu rekapitulieren und zu erklären. Analytisch stehen dabei die bereits im Vorwort angesprochenen Faktoren Abbau des Sozialstaats, wirtschaftsliberale Reformen und die »Globalisierung« im Zentrum.
Ausgehend von drei treibenden Kräften (technologischer Fortschritt, Globalisierung und marktradikale Deregulierungspolitik) skizziert sie einen sozioökonomischen Wandel, in dem eine teils ganz gezielt in die Defensive gedrängte Industriearbeiterschaft (nebst ihrer Interessenvertretung) und der Aufstieg einer neuen akademischen Mittelschicht die Hauptrolle spielen. Wagenknecht berichtet vom Bedeutungsverlust bzw. der Entwertung der Industriearbeit, von der Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse und vom Entstehen neuer Dienstleistungsberufe, was einerseits ein neues Dienstleistungsprekariat hervorbringt, andererseits aber auch als ökonomisch bedeutende und politisch einflussreiche soziale Gruppe eine akademisch gebildete, vornehmlich um urbanen Milieu angesiedelte Schicht von meist Gutverdienenden mit im weitesten Sinne liberal-individualistischer Weltanschauung entstehen lässt. Es ist eine Geschichte der Ausdifferenzierung und zugleich Segmentierung der Sozialstruktur, es ist vor allem aber auch eine Geschichte des Übergangs von der Einhegung zur (erneuten) Entfesselung des Kapitalismus.
Ihre Analyse und Interpretation dürfte innerhalb des weitgespannten Spektrums der Linken in weiten Teilen konsensfähig sein, gerade auch weil sie hier in groben Zügen skizziert und sich so quasi auf dem Boden des kleinsten gemeinsamen Nenners bewegt. Dass bei diesem historischen Abriss wenig Platz bleibt für vertiefende Differenzierungen, liegt auf der Hand. Sinnfällig wird dies zum Beispiel bei der Darstellung und Bewertung der 68er-Bewegung, die hier zu einer Art Totengräber der Sozialdemokratie und zum Katalysator neoliberaler und linksliberaler Individualisierung auf Kosten der guten alten Arbeiterwelt stilisiert wird - eine bei tiefer gehender Analyse wohl kaum haltbare Position.
Weitgehend auf Zustimmung dürfte auch ihre daran anschließende Schlussfolgerung stoßen, dass sich in dem »neu« entstandenen Milieu der urbanen akademischen Mittelschicht eine spezifische Weltanschauung herausgebildet hat, in der Vielfalt, individuelle Entfaltungsmöglichkeit, Weltoffenheit, Kosmopolitismus, Modernität, Toleranz und Klimaschutz identitätsstiftende Begriffe bilden. Ebenso wird wohl niemand abstreiten, dass schon aufgrund der materiellen Lebenslage langfristig angelegte soziale Bindungen und stabile Solidargemeinschaften bei Menschen aus der Arbeiterschicht deutlich verbreiteter sind und historische, teils noch tradierte Erfahrungen dafür sorgen, dass diese trotz abnehmender Tendenz höher wertgeschätzt werden.
Somewheres gegen Anywheres?
Woran sich die Geister scheiden, womit sie Widerspruch auslöst und womit sie sich kritisierbar macht, ist ihre äußert pointierte Stilisierung zweier in einen Gegensatz gestellten Großgruppen, der urbanen Intelligenzia und der traditionellen Arbeiterschaft sowie ihre einseitige Interpretation und Bewertung der ihnen jeweils zugeschriebenen Werte- und Normensysteme.
Auch andere skizzieren hier gerne zwei idealtypische Gruppen. ▸Wolfgang Merkel etwa stellt schon länger Kosmopoliten den Kommunitaristen gegenüber. Und wenn Wagenknecht die heimatverbundenen auf Bindungen und Gemeinsinn Wert legenden einfachen Leute den weltläufigen, auf individuelle Entfaltung hin orientierten, ungebundenen Akademikern gegenüberstellt, wenn sie Regionalisten von Globalisten scheidet, dann erinnert das an die von David Goodhart für die britische Gesellschaft ins Spiel gebrachten Figuren der »Somewheres« und der »Anywheres«: hier die verwurzelten Somewheres, lokal verankert, heimatverbunden, konservativ-traditionsbehaftet, dort die entwurzelten Anywheres, ortsungebunden, beruflich mobil, offen für Veränderung, progressiv. Allein, solch eine Typisierung ist im Prinzip zu holschnittartig. Zudem stimmte schon bei Goodhart die stereotype Zuschreibung von spezifischen Haltungen und Einstellungen nicht. So war zum Beispiel die junge Arbeiterschicht nach dem Zweiten Weltkrieg wenig traditionsbehaftet, war sie es doch, die die ▸Impulse für eine Internationalisierung der Lebensstile setzte.
Problematisch ist aber eher die Fundamentalkritik am Wertekanon und am Weltbild der akademischen Mittelschicht und ihr Vorwurf, die sich progressiv wähnenden Anywheres hätten dem Linksliberalismus und damit der Identitätspolitik als einem ihrer Kernbestandteile zum Siegeszug verholfen. Vorwurf deshalb, weil linke Politik dadurch Schaden genommen habe. Auch arbeite die politische Orientierung der urbanen akademische Mittelschicht in die Hände des Wirtschaftsliberalismus, trage zur gesellschaftlichen Spaltung bei und sorge dafür, dass sich traditionelle Linkswähler abwendeten. Dabei entwirft Wagenknecht den Typus des Lifestyle-Linken, der dann aber weder liberal noch eigentlich links sei.
Was mag es da stören, wenn man vieles, was sie mit Recht kritisiert, gar nicht den so genannten Lifestyle-Linken zuschreiben müsste, sondern eher Lifestyle-Liberalen oder -Libertären – sich vielleicht links Wähnende, die allerdings linke Positionen nur ansatzweise vertreten oder gar nicht wissen, was das eigentlich ist. Was stört es da, wenn man dabei unter den Tisch fallen lassen muss, dass Klassenpolitik und Identitätspolitik sich nicht feindlich gegenüberstehen, sondern zwei Seiten der selben Medaille sind, dass Klassenpolitik gegen die vertikale Ungleichheit angeht, während (linke!) Identitätspolitik den horizontalen Ungleichheiten den Kampf ansagt.
Die Abgrenzung zu den sich mehr um Identitätspolitik kümmernden Linken ist übrigens nicht die einzige. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch eine andere Grenzziehung, die sich eher unter der Hand einstellt. Gruppen und Akteure des linken Spektrums, die sich mehr vorstellen können und wollen als einen keynesianisch gezähmten Kapitalismus, die sich für eine grundlegend andere Form des Wirtschaftens und für an der Wurzel zu ändernde gesellschaftliche Verhältnisse einsetzen, werden erst gar nicht erwähnt. Offensichtlich sollen sie letztlich genau so außen vor bleiben wie die so genannten linksliberalen Lifestyle-Linken.
Wer oder was genau dieser Linksliberalismus ist, wird indes nicht klar herausgearbeitet. Fraglich ist zudem, ob der Typus des Lifestyle-Linken (nicht identisch mit der Gesamtheit der Anywheres) einer realen, eigenständigen sozialen Gruppe entspricht, ob es sich dabei also überhaupt um ein Massenphänomen handelt. Das Problem liegt auch nicht darin begründet, dass für Identitätspolitik einstehende Linke meinungsmächtig sind, sondern darin, dass eine politische Strategie diese und ihre Ideen bevorzugt oder gar exklusiv und unter Vernachlässigung der »klassischen« sozialen Frage zu adressieren, parteipolitisch, vielleicht auch bewegungspolitisch in die Sackgasse führt. Das bringt Sahra Wagenknecht verschiedentlich auch so zum Ausdruck, allerdings belässt sie es nicht bei den sachlichen Feststellungen, sondern würzt sie mit Anwürfen. So drängt sich der Eindruck auf, als baute sie hier gezielt einen Popanz auf.
Auf ihn mit kalkulierten Provokationen einzuhauen, erweist sich als gleich dreifach funktional: Erstens erreicht sie damit Aufmerksamkeit und Medienpräsenz, ein unabdingbare Voraussetzung, um ihr Anliegen unter die Leute zu bringen; zweitens schafft sie es auf diesem Wege, Kritik an der strategischen Ausrichtung ihrer Partei zu üben, die bei den Gemeinten sehr wohl verstanden wird, dabei aber unter dem Radar der Presse bleibt, die nur zu gerne wieder über Flügelkämpfe und Richtungsstreit bei den Linken berichten würde; und drittens verschafft sie sich mit provokanten, politisch inkorrekten und establishmentkritischen Statements Gehör bei den Politikverdrossenen, den Protestwählern und sich nicht mehr politisch vertreten Fühlenden – eine zahlenmäßig nicht zu unterschätzende Gruppe, die sie als zukünftige Wähler für die Linkspartei glaubt gewinnen zu können.
Ein Schritt zurück, zwei Schritte vorwärts?
Wie das gehen soll, dazu stellt Sahra Wagenknecht im zweiten Teil des Buches ihr Gegenprogramm vor, das die Belange der »einfachen« Leute, der »Arbeiter, der Servicebeschäftigten und auch der traditionellen Mitte« vertreten will. Um sie für die linke Sache (zurück-) zu gewinnen, zollt Wagenknecht ihnen seitenweise Respekt und Anerkennung. Dabei hebt sie gezielt Tugenden und Werte hervor, die für diese Klasse ihr zufolge charakteristisch sind. Diese möchte Sie revitalisieren, an diese möchte sie wieder anknüpfen. Sie sind Ausgangspunkt ihres Programms für Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand. Da darf es nicht wundern, wenn sie den zweiten Teil mit einer fast schon penetranten Wiederholung der Begriffe Gemeinschaft, Gemeinsinn, gemeinsame Werte und gemeinsame Identität einleitet.
Die hier mitschwingende implizite Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist aber ein alter Hut, ist sie doch fast so alt wie die Moderne selbst. Über eine dichotomische Gegenüberstellung von wertvoller, erhaltenswerter Gemeinschaft und entfremdender, Bindungen zerstörender Gesellschaft ist aber nicht nur die Soziologe lange hinaus. Natürlich hat die Entwicklung sich ausdifferenzierender, moderner Gesellschaft viele traditionelle Bindungen zerstört oder aufgelöst. Das aber war immer Verlust und Gewinn zugleich, wie ja auch der dahinterstehende Siegeszug des Kapitalismus Katastrophe und Fortschritt zugleich war. Hier wie in vielen anderen mit schablonenhaften Gut-Schlecht-Gegensätzen arbeitenden Textbereichen ist die Marx-Kennerin Wagenknecht doch reichlich undialektisch.
Das eigentliche Programm, das natürlich neben Anerkennung auch materielle Verbesserungen für die einfachen Leute vorsieht, skizziert sie dann zwar nur in Eckpunkten, doch wird erkennbar, wohin die Reise gehen soll. Wagenknecht setzt auf eine Wiederertüchtigung des souveränen Nationalstaats, der aktuell einzig wirklich handlungsmächtigen Ebene zur Einhegung des Kapitalismus, zur Korrektur von Marktergebnissen, zur Umverteilung des Reichtums und zur sozialen Absicherung all seiner Mitglieder. Im Einzelnen spricht sie sich für eine dezidiert nationale Wirtschaftspolitik aus, die sich gegen den Freihandel wendet, stattdessen auf einen Prozess der De-Globalisierung setzt, der mit Schutzmaßnahmen für die heimische Wirtschaft flankiert werden soll.
Sozialpolitisch steht die (Wieder-) Ertüchtigung der beitragsfinanzierten Solidarsysteme, der umfassende Ausbau des Bildungssystems und natürlich eine Re-Regulierung des Arbeitsmarktes auf ihrem Programm. Eine Neuordnung des Finanzsystems ist ebenso vorgesehen wie eine Restrukturierung der Schulden, zu der auch ein teilweises Streichen der Staatsschulden zählt.
Insgesamt steht Wagenknecht mit ihren programmatischen Forderungen in vielen Bereichen wie gehabt auf dem Boden klassischer sozialdemokratischer Ziele (die ja von der SPD selbst kaum noch verfolgt werden). Sich der Vorstellungen der Zielgruppe ihrer Politik (die kleinen und einfachen Leute) bewusst, unterlässt Wagenknecht das Propagieren von Ideen zur Überwindung des Kapitalismus anderen. Stattdessen stellt sie dessen Zähmung in Aussicht (inklusive einer Veränderung wirtschaftlicher Machtstrukturen), damit er so funktioniere, wie es früher, zu Zeiten Willy Brandts, einmal war.
Viele ihrer Vorstellungen und Forderungen sind im Prinzip gesellschaftlich mehrheitsfähig und taugten wohl auch als Blaupause zur Organisation einer politischen Mehrheit im Parlament. Andere (vor allem ihre EU- und Bündnis-Pläne) sind es eher nicht. Aber auch hier finden sich Forderungen und Ideen, die eine gesellschaftliche Debatte lohnten. Warum wird nicht schon längst darüber diskutiert, die digitale Infrastruktur, wie Wagenknecht fordert, in den Bereich der Daseinsvorsorge der öffentlichen Hand zu überführen? Auch ihr Vorschlag, mit dem Leistungseigentum eine neue Rechtsform für Unternehmen zu begründen, ist diskussionswürdig, zumindest solange man bereit ist, Reformen, die innerhalb der Kapitallogik verbleiben, nicht per se als nicht weiterführend abzulehnen. Wenig Chancen auf Beachtung dürfte dagegen ihre Forderung nach einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur, nach einem gemeinsamen Sicherheitssystem haben, das neben den NATO-Ländern auch Russland umfassen würde – obwohl diese im Prinzip ja nur konsequente Fortführung der Brandtschen Ostpolitik heute dringend nötig wäre.
Fazit
Sahra Wagenknecht hat ein Buch vorgelegt, das mit herausfordernden Thesen und gezielten Provokationen einerseits und dem populistischen Umschmeicheln der traditionellen Mittelschicht und Arbeiterschaft andererseits viel Kritik von links hervorgerufen hat. Bei der Beurteilung des Buches sollte man jedoch immer die Analyseperspektive mit bedenken. Wagenknecht geht es um Parteizuspruch und Wahlerfolge der Linkspartei. Ihre Kritik, ihre Analyse und ihr Programm sind dem strategischen Ziel verpflichtet, linke Politik wieder mehrheitsfähig zu machen. Aus ihrer Sicht auf die Ursachen, warum linke Parteien nicht nur in Deutschland so schwach geworden sind, folgert sie, dass unter anderen die Linkspartei die falschen Wählergruppen adressiert. Salopp formuliert könnte man ihr Anliegen daher so umreißen: Überlassen wir die urbanen Akademiker und bourgeoisen Hipster den Grünen und holen die unteren Schichten zurück. Ob dies ein erfolgversprechender Ansatz ist, darüber lässt sich diskutieren, darüber sollte diskutiert werden. Ob ihr populistisches Kalkül dabei aufgeht, darf bezweifelt werden.
Wer einen (polit-programmatisch durchaus wünschenswerten) Zukunftsentwurf vor allem auf der Restitution bestimmter in der Vergangenheit bewährter Lebensweisen, -haltungen und Werte einer in der Vergangenheit in gewisser Weise hegemonialen Klasse aufbaut, der kann oder will den heutigen gesellschaftlichen Widerspruch, der sich unter anderem in einem Nebeneinander unterschiedlicher, teils disparater sozialer Gruppen oder Klassen äußert, nur zu einer Seite hin auflösen. Klar, man kann sich mit gutem Recht auf die Seite der Somewheres und ihrer traditionellen Werte schlagen, man kann zurecht einfordern, dass linke Politik diese Menschen wieder adressieren und ihnen Lösungen anbieten muss. Eine Abgrenzung zu und Hintansetzung anderer Gruppen, seien es die linksliberalen Anywheres oder die an anderer Stelle hervorgehobenen »Nichtmitglieder« einer territorial begrenzten Solidargemeinschaft (Beifall auf der Bank der AfD) muss damit keinesfalls einhergehen. Folgerichtig ist sie nur, wenn man der Logik eines linken Populismus folgt, der, wie Chantal Mouffe, unter Berufung ausgerechnet auf Carl Schmitt, hervorhebt, mit Freund-Feind-Schemata zu arbeiten hat.
Emanzipation und Fortschritt bestanden bei Marx in der Beseitigung, genauer in der »Aufhebung« bestehender schlechter gesellschaftlicher Verhältnisse. Und das war bewusst doppeldeutig gemeint. Die Beseitigung von Herrschaft und Ausbeutung fungierte gleichzeitig als Rationalisierung der Gesellschaft, als ihr Anheben auf eine entwickeltere Stufe. Ein Zurück zu den positiven Teilaspekten einer vergangenen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe kann und wird es nicht geben, wohl aber ein Zurückfallen hinter bereits Erreichtes, wie der Siegeszug des Neoliberalismus gezeigt hat.
Die Individualisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter vorangeschritten. Eine der größten Neuerungen, so sieht es jedenfalls Thomas Piketty, bestand dabei in der Herausbildung einer begüterten Mittelschicht. Aus ihr gingen die Neuen Sozialen Bewegungen und später auch die Partei »Die Grünen« hervor. Aktuell lässt sich konstatieren, dass vor allem die urbane akademische Mittelschicht eine politische Kraft darstellt, die im Bemühen um politische Repräsentation erkennbare Erfolge erzielt hat. Ihre Mitglieder sind (größtenteils, längst aber nicht alle, wie zum Beispiel das akademische Prekariat) »Gewinner« einer politisch vorangetriebenen sozioökonomischen Entwicklung, die viel zu viele Verlierer zurücklässt. Statt diese aber gegen die Gewinner zum Aufstehen zu bringen, bestünde die Herausforderung doch eher darin, die sich mit Argwohn und Misstrauen beobachtenden Klassen zusammenzuführen, sie dort einzubinden, wo durchaus gemeinsame Interessen vorhanden sind. Die Anywheres und die Somewheres sind keine strukturellen Antagonisten, auch wenn sie ihren Lebenslagen entsprechend im Einzelnen unterschiedliche Interessen haben. Es gilt beide Seiten für eine linke Politik zu gewinnen, weshalb linke Politik auch im Interesse beider Seiten agieren muss.
Aktuell, und da hat Sahra Wagenknecht recht, bestünde so eine Politik darin, die Interessen der Abgehängten, der Prekarisierten und der vom Abstieg Bedrohten wieder klar und entschieden zu repräsentieren. Der weltoffenen, sozial bewussten akademischen Mittelschicht, die ein Engagement gegen Benachteiligung und Unterdrückung zu ihrem Wertekanon zählt, ließe sich dies bestimmt vermitteln – besser ohne die rhetorische Figur des selbstgerechten Lifestyle-Linken, besser mit dem Versuch, gegenseitige Anerkennen und Respekt zu befördern zugunsten der Schaffung einer solidarischen Gemeinschaft der Gleichen und doch Verschiedenen.
Bibliografische Angaben
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus-Verlag, 345 Seiten, ISBN 978-3593513904, EUR 24,95.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.