Die Steuerpolitik der Europäischen Union – wohin soll die Reise gehen?
1. August 2019 | Martin Saringer
Die Steuerpolitik der EU ist aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips nach wie vor in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, und diese wollen ihre Kompetenz nur ungern abgeben. Entsprechend schwierig ist die Entscheidungsfindung. Dabei zeigt die aktuelle Entwicklung deutlich den akuten Handlungsbedarf.
Globalisierung und Digitalisierung führen dazu, dass Konzerne trotz Rekordgewinnen kaum noch Gewinnsteuern zahlen. Der Finanzsektor ist chronisch unterbesteuert, und Steuerhinterziehung und Steuerflucht in Niedrigsteuerländer und Steueroasen führen zu beträchtlichen Einnahmenausfällen. Das erhöht den Druck, die Steuern auf immobile Faktoren wie Arbeit und Konsum zu erhöhen.
Steuerpolitik im Spannungsfeld zwischen EU und den Mitgliedstaaten
Die Steuerpolitik ist nach wie vor Angelegenheit der Mitgliedstaaten, die ihre Steuersysteme so gestalten können, wie sie es für angemessen erachten, solange sie den europarechtlichen Vorgaben (im Wesentlichen: Einhaltung der Grundfreiheiten) entsprechen. Im Steuerbereich gilt für die Rechtsetzung zudem weiterhin, als einer der wenigen Rechtsbereiche in der Europäischen Union, das Einstimmigkeitsprinzip. Dementsprechend schwierig ist daher auch der Entscheidungsfindungsprozess. Aufgrund der mangelnden Kompetenz in Steuerangelegenheiten ist es auch nicht verwunderlich, dass es vielfach keine klare steuerpolitische Positionierung der Europäischen Union gibt. Die Kommission ist letztendlich auch darauf angewiesen, welche Wünsche von den Mitgliedstaaten an sie herangetragen werden.
Die Verbrauchsteuern, allen voran die Mehrwertsteuer, sind auf europäischer Ebene weitgehend harmonisiert, weil das als besonders wichtig für einen funktionierenden Binnenmarkt angesehen wurde. Dass auch auf diesem Gebiet trotz aller Erfolge noch erheblicher Handlungsbedarf herrscht, soll in diesem Beitrag einmal ausgeklammert bleiben. Eine Harmonisierung bei den direkten Steuern wurde lange Zeit als weniger wichtig angesehen und deshalb auch nur halbherzig verfolgt, obwohl es auch bei der Körperschaftsteuer schon seit den frühen 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts erste Harmonisierungsvorschläge gibt. Wirkliche Harmonisierungen sind bis dato allerdings noch nicht passiert. Und die wenigen Rechtsakte zu den direkten Steuern, wie die Mutter-Tochter-Richtlinie oder die Zinsen- und Lizenzgebühren-Richtlinie, sollten im Wesentlichen Doppelbesteuerungen im Bereich der Unternehmensbesteuerung verhindern.
Durch die Finanzkrise 2008 und die damit verbundene Schuldenkrise ist endlich auch der Finanzsektor in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Insbesondere die generelle Mehrwertsteuerbefreiung, aber auch die besonderen Gestaltungsmöglichkeiten in Verbindung mit den milliardenschweren Hilfspaketen haben diese Diskussion befeuert. Die Forderung nach einer EU-weiten Finanztransaktionssteuer kam auf. Eine Einigung konnte hier allerdings nicht erzielt werden, und auch der Versuch, die Finanztransaktionssteuer im Wege der verstärkten Zusammenarbeit in ursprünglich elf Mitgliedstaaten einzuführen, darunter auch Deutschland, Frankreich und Österreich, scheiterte schlussendlich, und aus jetziger Sicht ist nicht mit einer raschen Umsetzung zu rechnen.
Die Steuervermeidungsstrategien multinationaler Konzerne sind ebenfalls zu einem zentralen Thema geworden. Multinationale Konzerne zahlen im Schnitt um 30 Prozent weniger Ertragsteuern als Unternehmen, die nur in einem Staat tätig sind. Und Unternehmen der digitalen Wirtschaft zahlen im Schnitt nur halb so viel an Gewinnsteuern wie die Unternehmen der traditionellen Wirtschaft. Globalisierung und Digitalisierung haben in den letzten Jahren zu einem dramatischen Umbruch in der Wirtschaftslandschaft geführt, und anstelle der klassischen Produktionsstätten werden immaterielle Werte wie Lizenzen, Patente, Daten oder auch Software immer entscheidender. Diese können problemlos, losgelöst von den Absatzmärkten, an jedem beliebigen Ort angesiedelt werden. Dadurch können multinationale Konzerne ihre Gewinne auch problemlos dorthin verlagern, wo sie nur sehr niedrig oder gar nicht besteuert werden.
Die Europäische Union war in den letzten Jahrzehnten der Wirtschaftsraum mit dem stärksten Steuerwettbewerb im Bereich der Unternehmensbesteuerung. Der schädliche Steuerwettbewerb wurde endlich als Problem erkannt, und die Kommission hat im Jahr 2016 einen zweiten Anlauf unternommen, einheitliche Regeln für die Besteuerung multinationaler Konzerne in der EU festzulegen. Mit den beiden Richtlinienvorschlägen zur Einführung der Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage liegen Maßnahmen auf dem Tisch, die eine einheitliche Konzernbesteuerung samt Aufteilungsschlüssel an die betroffenen Mitgliedstaaten vorsehen.
Die Entwicklungen der letzten Jahre
Auch wenn die ganz großen steuerpolitischen Erfolge bis jetzt ausgeblieben sind, muss man anerkennen, dass in den letzten Jahren zahlreiche Maßnahmen umgesetzt wurden, die bis vor Kurzem noch als undenkbar galten. Gemeinsam mit der OECD wurde auch in der EU der längst überfällige automatische Informationsaustausch über Finanzdaten eingeführt. Zudem sind mit den ersten beiden Richtlinien zur Bekämpfung von missbräuchlichen Steuergestaltungen (ATAD I und ATAD II) Maßnahmen zur Eindämmung von Steuerflucht und aggressiven Steuersparmodellen geschaffen worden. Multinationale Konzerne müssen zumindest gegenüber den Finanzverwaltungen offenlegen, wie hoch ihre Steuerleistung in den einzelnen Ländern tatsächlich ist, und die Beratungsindustrie muss ihre grenzüberschreitenden Steuersparmodelle ebenfalls gegenüber den Finanzverwaltungen erklären.
Aber die ganz großen Würfe sind bis dato ausgeblieben, obwohl die Kommission Vorschläge für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, einer Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage und zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft in den letzten Jahren vorgelegt hat. Denn trotz aller Bekenntnisse der Mitgliedstaaten zu fairen und nachhaltigen Steuersystemen in der EU, war es letztlich nicht möglich, dass sich die Mitgliedstaaten auf eine Umsetzung einigen konnten.
Ein ganz zentraler Punkt, warum die großen Punkte bis dato nicht umgesetzt wurden, liegt im geltenden EU-Recht selbst. Denn für steuerliche Maßnahmen gilt im Gegensatz zu den meisten anderen Rechtsbereichen, in denen Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden können, nach wie vor das Einstimmigkeitsprinzip. Das führt dazu, dass vielfach keine Entscheidungen getroffen werden oder dass es zu derart weitreichenden Kompromissen kommt, dass die Maßnahmen ihr eigentliches Ziel nicht mehr effektiv verfolgen, wie das beispielsweise bei Richtlinien zur Bekämpfung von missbräuchlichen Steuergestaltungen (ATAD I und ATAD II) zu beobachten war.
Die Forderungen an die Steuerpolitik der EU
Um wirkliche Fortschritte zur Erreichung einer europäischen Steuerpolitik, die diesen Namen auch verdient, zu erzielen, ist ein Abgehen vom Einstimmigkeitserfordernis für Steuerangelegenheiten unumgänglich. Ein Vorschlag der Kommission dazu liegt auf dem Tisch. Die Sorge der Mitgliedstaaten, Kompetenzen im Rahmen der Steuerhoheit an die EU abzugeben, ist verständlich. Aber die aktuelle Situation zeigt ganz deutlich, dass die Staaten diese Steuerhoheit durch die aktuellen Entwicklungen de facto längst verloren haben und dass nur eine starke gemeinsame europäische Steuerpolitik dazu führen kann, dass die Mitgliedstaaten die Steuerhoheit wieder zurückbekommen.
Ein gutes Steuersystem zeichnet sich dadurch aus, dass es wachstumsfreundlich und beschäftigungsfreundlich wirkt, auf die aktuellen ökologischen Herausforderungen Rücksicht nimmt und für Verteilungsgerechtigkeit sorgt. Unter diesem Gesichtspunkt sind auf europäischer Ebene folgende Maßnahmen zu treffen, um die notwendigen Rahmenbedingungen in der EU zu schaffen:
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- die Einführung einer EU-weiten Finanztransaktionssteuer
- die Einführung einer einheitlichen Konzernbesteuerung in der EU mittels der Gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage und eines Mindeststeuersatzes
- die Einführung von geeigneten Maßnahmen zur Besteuerung der digitalen Wirtschaft (hier sollen auch die Pläne der OECD entsprechend berücksichtigt werden, um auch über die EU hinaus eine möglichst einheitliche, koordinierte Vorgehensweise sicherzustellen)
- die Einführung von Rahmenbedingungen, um sicherzustellen, dass auch große Vermögen innerhalb der EU fair besteuert werden
- die Einführung von Rahmenbedingungen zur konsequenten Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung
Es ist klar, dass mit einer raschen Umsetzung aufgrund der aktuellen Situation nicht zu rechnen ist, aber es sollte den politisch Verantwortlichen auch klar sein, dass Änderungen in der europäischen Steuerpolitik unabdingbar sind. Die letzten Europawahlen sind auch ein Zeichen dafür, dass viele BürgerInnen mit der Politik der EU unzufrieden sind und dass auch steuerpolitische Maßnahmen dringend notwendig sind.
Der Artikel erschien zuerst ▸auf A&W Blog. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Martin Saringer ist Referent in der Abteilung Steuerrecht der Arbeiterkammer Wien.