Die Troika nach Paris bringen
22. Juni 2016 | Mark Weisbrot
Seit Jahren argumentiere ich, dass ein großer Teil der Entwicklung, die wir in den letzten acht Jahren in Europa beobachtet haben, ein Ergebnis von Sozialtechnik ist. Bestandteil dessen war eine umfassende Offensive der europäischen Eliten, die die Wirtschaftskrise nutzen, um Europa in eine andere Form von Gesellschaft zu transformieren, mit dem Resultat reduzierter sozialer Sicherungsnetze, niedrigerer Löhne und – ob beabsichtigt oder nicht – einer zunehmenden Ungleichheit.
Mit den Auseinandersetzungen über ein umfassendes neues Arbeitsrecht in Frankreich ist es dort in den letzten Wochen zu Streiks und Protesten gekommen. Unter anderem soll das Gesetz den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinsichtlich der Bezahlung von Überstunden, der Wochenarbeitszeit und der Arbeitsplatzsicherheit reduzieren. Am schädlichsten sind Maßnahmen, die strukturell die Gewerkschaften schwächen und deren Verhandlungsmacht untergraben würden. Tarifverhandlungen sollen von der Branchenebene auf die Unternehmensebene verschoben werden, sodass es den Gewerkschaften schwerer fällt, allgemeine Standards hinsichtlich der Löhne, der Arbeitszeit und der Arbeitsbedingungen festzulegen.
Solche „Strukturreformen“ werden von den europäischen Institutionen (einschließlich des Internationalen Währungsfonds) seit Jahren gefordert, und das vorgebliche Ziel ist der Abbau der Arbeitslosigkeit. Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty fasst den Denkfehler in dieser Argumentation wie folgt zusammen:
Wenn in Frankreich die Arbeitslosigkeit seit 2008 nicht mehr zuzunehmen aufgehört hat, mit zusätzlichen 1,5 Millionen Arbeitslosen (und 2,1 Millionen Arbeitssuchenden der Kategorie A Mitte 2008, 2,8 Millionen Mitte 2012 und 3,5 Millionen Mitte 2016), dann liegt das nicht daran, dass das derzeitige Arbeitsrecht schlagartig rigider und unflexibler geworden wäre. Es liegt vielmehr daran, dass Frankreich und die Eurozone durch exzessive Austeritätspolitik zwischen 2011 und 2013 die wirtschaftliche Aktivität abgewürgt haben – anders als die USA und der Rest der Welt. Frankreich und die Eurozone haben dadurch die Finanzkrise, die von der anderen Seite des Atlantiks gekommen war, in eine endlose europäische Rezession verwandelt.
In einer jüngeren Diskussion (im Video ab Minute 46) hat der Wirtschaftswissenschaftler Yanis Varoufakis, der bis letzten Juli Finanzminister in Griechenland war, von einer Unterhaltung berichtet, die er mit seinem deutschen Gegenpart Wolfgang Schäuble (CDU) hatte. Das Gespräch fand letzten Sommer auf dem Höhepunkt des Konflikts zwischen Griechenland und den europäischen Behörden statt:
Ich hatte viele interessante Gespräche mit dem Finanzminister Deutschlands, Dr. Wolfgang Schäuble. An einem gewissen Punkt zeigte ich ihm dieses Ultimatum [der Europäer] und fragte ihn: „Würden Sie das unterzeichnen? Lassen wir unsere Ämter als Finanzminister für einen Moment beiseite. Ich bin seit fünf Monaten in der Politik. Sie sind seit 40 Jahren in der Politik. Sie bellen mir ununterbrochen ins Ohr, ich solle es unterschreiben. Hören Sie damit auf. Als Mensch wissen Sie, dass mein Volk eine große Depression durchmacht. Bei uns fallen Kinder in den Schulen in Ohnmacht als Folge von Mangelernährung. Können Sie mir einen Gefallen tun und mir raten, was ich tun soll? Als jemand mit 40 Jahren Politikerfahrung, als Europäer, als jemand aus einem demokratischen Land, einfach von Wolfgang zu Yanis, nicht von Finanzminister zu Finanzminister.“ Er sah eine Weile aus dem Fenster. Dann drehte er sich um und sagte: „Als Patriot würde ich das nicht.“ Natürlich war die nächste Frage: „Warum also zwingen Sie mich dazu?“ Er antwortete: „Verstehen Sie das nicht? Ich machte das im Baltikum, in Portugal, in Irland; wir müssen auf die Disziplin achten. Und ich möchte die Troika nach Paris bringen.“
Die Troika ist angekommen.
Der Artikel erschien zuerst auf Englisch in Real World Economics Review Blog. Wir danken für die Genehmigung zur Übersetzung und Zweitveröffentlichung. Dieser Text ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren. Übersetzung: Patrick Schreiner.
Mark Weisbrot ist Volkswirt und Publizist. Mit Dean Baker betreibt er das Center for Economic and Policy Research (CEPR) in Washington, D.C. (USA).