Die Ungleichheit in der OECD ist auf einem Rekordniveau – darunter hat die Gesellschaft zu leiden
17. Oktober 2019 | Mike Brewer
Wer kritisch auf die hohe soziale Ungleichheit hinweist, dem wird gerne Neid unterstellt. Dabei ist Ungleichheit ein gravierendes Problem.
Mir selbst ging es so, als ich kürzlich twitterte, dass der Anteil des Einkommens, der in Großbritannien an die reichsten 0,01 Prozent der Erwachsenen geht, fast auf einem Rekordhoch lag. Dies hatte eine Analyse ergeben, die ich auf Basis britischer Steuerdaten vorgenommen hatte.
Ich hatte mir ein paar Monate Zeit genommen, um ein Buch über das zu schreiben, was wir über wirtschaftliche Ungleichheiten wissen. Und ich war erstaunt über die Menge an vorliegenden Untersuchungen, die zeigen, wie schädlich Ungleichheit für die Menschen ist. Es wird immer deutlicher, dass ein hohes Maß an Ungleichheit unserer Gesundheit, unserem Wohlbefinden, dem sozialen Zusammenhalt und dem gegenseitigen Vertrauen schadet und dass es die Wirtschaftsleistung bremst. Zudem gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass Ungleichheiten die Ausgangslage für zukünftige Generationen dramatisch verändern.
Ungleichheit beeinträchtigt unsere Gesundheit
Menschen aus Ländern mit einem hohen Maß an Ungleichheit sind gestresster und ängstlicher, weniger glücklich und weniger gesund, zudem gibt es in der gesamten Gesellschaft weniger Solidarität und weniger Vertrauen. Die bekanntesten Forschungsergebnisse dazu legten Richard Wilkinson und Kate Pickett vor. Sie argumentieren, dass Reichtum in Gesellschaften mit hoher Ungleichheit ein immer größeres Prestige hat, während Armut immer beschämender wird. Dies erhöhe die Angst vor sozialem Abstieg. Geld – und das, was man damit macht – werde für den sozialen Status immer wichtiger.
Infolgedessen verschlimmere Ungleichheit das Konsumverhalten, das immer stärker von Konkurrenz geprägt werde (»keeping up with the Joneses«). Die Menschen an der Spitze der sozialen Hierarchie seien von einem Anrecht auf Reichtum überzeugt, während sich weiter unten Scham ausbreite. Dies reduziere die soziale Mischung in der Gesellschaft, schade dem Vertrauen und dem sozialen Zusammenhalt.
Das mag wie eine vernichtende Anklage unserer Kultur des 21. Jahrhunderts klingen; es mag klingen wie der Vorwurf, wir würden uns zu Tode instagrammen. Aber schon der Soziologe Thorstein Veblen beobachtete in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts das Bemühen der Reichen, die eigene Überlegenheit festzuklopfen, und der etwas weniger Reichen, sich ihnen anzupassen.
Ungleichheit bremst die Wirtschaftsleistung
Die Forschung zeigt auch, dass eine hohe Ungleichheit die Wirtschaftsleistung beeinträchtigt. Sie könnte sogar den Finanzcrash von 2008 und die anschließende Große Rezession verursacht haben. Erstaunlich ist, dass das jüngere Arbeiten ausgerechnet von Internationalem Währungsfonds und Weltbank gezeigt haben. Beide sind ja nicht als Brutstätten fortschrittlichen Denkens bekannt. Aber Christine Lagarde, bis vor kurzem IWF-Chefin, sagte: »Der Abbau übermäßiger Ungleichheit ist nicht nur moralisch und politisch korrekt, sondern auch wirtschaftlich gut.«
Und die OECD als Organisation, die die reichsten Volkswirtschaften der Welt vertritt, schrieb:
»Die Überzeugung, dass man die aus eigenem Bemühen resultierenden Vorteile auch selbst genießen kann, war schon immer ein starker Anreiz, in Humankapital, neue Ideen und neue Produkte zu investieren und riskante Geschäftsvorhaben einzugehen. Aber ab einem gewissen Punkt, und nicht zuletzt während einer Wirtschaftskrise, können wachsende Einkommensungleichheiten die Grundlagen der Marktwirtschaft untergraben.«
Ein hohes Maß an Ungleichheit ist keine natürliche und sicherlich auch keine notwendige Folge einer dynamischen Wirtschaft. Ganz im Gegenteil sind wichtige internationale Organisationen besorgt, dass Ungleichheit das Wirtschaftswachstum belastet.
Ungleichheit zerstört Chancen
Ungleichheit macht es schwieriger, Chancengleichheit zu erreichen. Sie hält die Spaltung aufrecht zwischen denen, die etwas besitzen, und denen, die nichts haben.
Wir hofften lange, dass soziale Unterschiede nur von kurzer Dauer wären. Oder dass Menschen ihre eigene Lage Schicksal durch harte Arbeit und Anstrengung verbessern könnten. Heute aber wissen wir, dass wir weit weg sind von einer Welt, in der alle jungen Leute die gleichen Chancen haben. Erfolg im Leben ist stark davon abhängig, von wo aus man startet. Daten und Untersuchungen zeigen: Je ungleicher die Gesellschaft ist, desto schwieriger ist es, Chancengleichheit zu erreichen, und desto geringer ist auch die soziale Mobilität.
In den USA, die oft als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten angesehen werden, ist der übliche Weg an die Spitze der Einkommensverteilung, dort geboren zu werden oder sich dort hinzuheiraten. Das Land, in dem ein Kind aus einer benachteiligten Familie die beste Chance hat, an die Spitze zu kommen, ist hingegen Schweden.
Ungerecht und undemokratisch
Auf einen weiteren besorgniserregenden Aspekt haben die Ökonomen Joseph Stiglitz und Thomas Piketty hingewiesen. Wenn westliche Regierungen nicht versuchen, Reichtum umzuverteilen oder die sehr Reichen zu zügeln, und wenn dem Geld erlaubt wird, politische Debatten zu bestimmen, dann könnte im 21. Jahrhundert eine superreiche Elite entstehen, die derjenigen ähnelt, die es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab. Das wäre zutiefst undemokratisch und vor allem ungerecht.
Jedes Jahr mit hoher Ungleichheit ist ein weiteres Jahr, das unser Empfinden von Fairness und sozialer Gerechtigkeit verletzt. Und es ist ein weiteres Jahr, in dem Chancengleichheit schwieriger zu erreichen ist. Es liegt an Wählerinnen und Wählern, an Politikerinnen und Politikern sowie an anderen gesellschaftlichen Akteuren, ihren Teil dazu beizutragen, die Grenzen dessen zu verschieben, was politisch zulässig ist und welche Ungleichheiten sozial akzeptabel sind.
Dieser Artikel erschien zuerst auf ▸Brave New Europe. Wir danken für die Genehmigung zur Ãœbersetzung und Zweitveröffentlichung. Ãœbersetzung: Patrick Schreiner.
Mike Brewer ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Essex (England).