Die Welt der Rendite: Das Universitätsklinikum Gießen-Marburg in privater Hand
18. November 2021 | Herbert Storn
Wie so vieles, wurde auch das Universitätsklinikum Gießen-Marburg in den 2000er Jahren privatisiert. Das war und ist schlecht für Beschäftigte, Patientinnen und Patienten - was CDU und Grüne aber nicht weiter interessiert.
»In Erwägung, dass eine gute Krankenversorgung nur mit ausreichend Personal, nicht aber mit Renditedruck machbar ist«, startete die Gewerkschaft ver.di im Juli 2021 eine ▸Petition an den Hessischen Landtag zur Rückführung des Universitätsklinikums Gießen-Marburg (UKGM) in öffentliches Eigentum.
Manche reiben sich vielleicht verwundert die Augen: Sind Kliniken, insbesondere wenn sie auch noch Universitäten sind, nicht selbstverständlich in öffentlicher Hand? Wie sollte sonst die Freiheit von Forschung und Lehre gewährleistet und das Gemeinwohl vor Renditeerwartungen geschützt werden? Die Antwort lautet: Die Privatisierung von Kliniken ist in Deutschland auf dem Vormarsch. An der Spitze der Zahl der Krankenhausbetten und der Umsätze stehen heute drei private renditeorientierte Krankenhauskonzerne. Aber eine private Universitätsklinik gibt es in der Tat nur in Hessen.
Um zu verstehen, wie es dazu kam, muss man den Blick erweitern und bis zur Jahrtausendwende zurückgehen. Zehn Jahre nach dem Ende des Staatssozialismus in Osteuropa hatte die neoliberale Umstrukturierung so an Fahrt gewonnen, dass die Privatisierung von öffentlichem Eigentum zur Leitlinie vieler Parteien wurde, die damit in Wahlen Mehrheiten erringen konnten. So lautete der Kernsatz des CDU-Regierungsprogramms für die Jahre 2003 bis 2007 in Hessen: »Konzentration der Landesverwaltung auf Kernaufgaben und Verringerung der Personalkosten«. Der Staat sollte »schlank« werden, Steuern reduzieren und die Privaten machen lassen. Sozialabbau wurde mit der »Leistungsgesellschaft« begründet. Und gemäß dem Spruch eines Bundeskanzlers von den Lehrern als »faulen Säcken« wurden Lehrkräfte jedenfalls nicht zu den »Leistungsträgern« gerechnet.
Operation Düstere Zukunft
Bei der Landtagswahl 2003 konnte die CDU die absolute Mehrheit der Mandate erringen. Roland Koch bildete mit der Einstimmen-Mehrheit eine Alleinregierung und startete in die neue Wahlperiode mit der im Orwell’schen Sprachduktus bezeichneten »Operation sichere Zukunft«. Die GEW sprach von der »Operation düstere Zukunft«, die mit dem dem Abbau von über 9.000 Arbeitsplätzen, mit Gehaltskürzungen, Arbeitszeitverlängerung und einer Kürzung der Zuschüsse für soziale Einrichtungen um ein Drittel verbunden war. Der heutige Ministerpräsident Volker Bouffier gehörte auch dem zweiten Kabinett von Roland Koch als Innenminister und später als stellvertretender Ministerpräsident an. Die Gegenwehr der GEW und der anderen Gewerkschaften, der Kirchen und Sozialverbände mündete am 18.11.2003 in der größten Demonstration mit 50.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die Wiesbaden bis dahin gesehen hatte.
Das Universitätsklinikum Gießen wies zu dieser Zeit bereits erhebliche Investitionsrückstände auf, die Krankenhausfinanzierung des Landes entsprach schon lange nicht mehr den Notwendigkeiten. Deshalb griff die CDU zu der Strategie des »Outsourcen«, der »Konzentration auf Kernaufgaben«, zu denen sie die beiden Universitätskliniken in Gießen und Marburg offensichtlich nicht zählte.
Zunächst wurden die beiden Kliniken Gießen und Marburg zu einer öffentlich-rechtlichen Anstalt »Universitätsklinikum Gießen und Marburg« fusioniert, ein halbes Jahr später zu 95 Prozent an die Rhön-Klinikum AG verkauft. 2020 wurden deren Anteile wiederum mehrheitlich von der Asklepios Kliniken GmbH & Co.KGaA übernommen.
9.000 Beschäftigte in Gießen und Marburg
Der von Roland Koch 2005 als »Meilenstein« bezeichnete Privatisierungsschritt löste durch den damit verbundenen Stellenabbau Proteste vor allem in Marburg aus, die aber zunächst vergeblich blieben.
Weil aber die zentrale Möglichkeit, aus einer Klinik Gewinne herauszupressen, das Personal ist, ließ der Druck durch Stellenabbau, Ausdehnung der Arbeitszeiten, Überlastung, Outsourcing von Teilbereichen und unterwertige Bezahlung nicht nach. Die Folgen waren für Patientinnen und Patienten und vor allem für das Personal entsprechend zu spüren.
Im Frühjahr 2012 verkündete die Rhön-Klinikum AG den Abbau von 500 Stellen quer durch alle Berufsgruppen. Dies löste erneut Proteste aus, die schließlich erfolgreich waren und den massiven Abbau verhindern konnten. Damals schien es, als ob sich die gesamte Belegschaft einschließlich der Klinikdirektoren einig sei, dass die Privatisierung ein Fehler war.
Dazu kamen die Querelen um das Partikeltherapiezentrum (PTZ), dem heutigen Marburger Ionenstrahl-Therapiezentrum (MIT). Die Landesregierung hatte den Bau mit 107 Millionen Euro unterstützt – unter der Bedingung, dass es Ende 2012 in Betrieb geht. Aber erst nach einer Klage des Landes 2014 ging das MIT schließlich 2015 in Betrieb.
Die komplizierte Doppelstruktur mit einem Universitätswesen in öffentlicher und einem Klinikbetrieb in privater Hand – festgehalten in einem geheimen Konsortialvertrag – machte auch eine Doppelstruktur der Beschäftigtenvertretung notwendig: mit einem Betriebsrat für den privaten Sektor und einem Personalrat für den öffentlichen. Und das bei Deutschlands drittgrößter Universitätsklinik mit über 9.000 Beschäftigten an zwei Standorten und rund 436.000 Patientinnen und Patienten pro Jahr! 2012 hätte man das vertraglich vereinbarte Rückkaufsrecht des Landes nutzen können. Das hatten aber weder Ministerpräsident Bouffier noch sein damaliger Koalitionspartner FDP vor.
Die bis 2019 terminierte Vereinbarung mit dem Rhön-Konzern über ein Rückkaufsrecht bei Eigentümerwechsel war nach Einschätzung von Gewerkschaftern ohnehin mehr als Beruhigungspille angesichts des ungewissen Ausgangs der Privatisierung gedacht.
Gesundheit als Spekulationsobjekt
Auch der Einstieg der Grünen in die Regierung mit der CDU Anfang 2014 änderte am Festhalten an der Privatisierung der UKGM nichts; auch eine Verlängerung des Rückkaufsrechts wurde nicht ernsthaft gefordert, was sich 2020 rächen sollte. Denn ein knappes Jahr nach dem Auslaufen des Rückkaufsrechts wurde die Rhön-Klinikum AG mehrheitlich von der Asklepios Kliniken GmbH & Co.KGaA übernommen. Die Erfahrungen mit dem Asklepios-Konzern bezeichnen Betriebsräte und Gewerkschafter in Bezug auf Arbeitsbedingungen, Tarife und Mitbestimmung als »noch bedrohlicher« als die Erfahrungen mit dem Rhön-Konzern.
Fabian Dzewas-Rehm und Stefan Röhrhoff von der Gewerkschaft ver.di erklärten angesichts der Übernahme, dass das Universitätsklinikum jetzt »endgültig zur Handelsware und zum Spekulationsobjekt« geworden ist. Asklepios zeige sich in Hessen bislang als rein renditeorientierter Konzern. Tarifverträge und Betriebsräte seien dem Konzern ein Dorn im Auge, außerdem sei Asklepios in Hessen aus allen Tarifverträgen mit ver.di ausgestiegen. Selbst wochenlange Streiks und betriebliche Protestaktionen hätten den Konzern bisher nicht zu einem Umdenken bewegen können.
ver.di, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Fraktion der LINKEN im hessischen Landtag hatten deshalb ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das von Joachim Wieland, Professor für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität Speyer, erstellt wurde. Darin wird die Überführung der UKGM in Gemeineigentum zum Zwecke der Vergesellschaftung nach Artikel 15 Grundgesetz als eindeutig rechtskonform bezeichnet. Zugleich müsse gesetzlich festgelegt werden, »dass die Anstalt des öffentlichen Rechts nicht mit Gewinnerzielungsabsicht handelt, sondern eine Bedürfnisbefriedigung im Sinne der Allgemeinheit in Form der Gewährleistung der Gesundheitsvorsorge bezweckt wird.« (1)
Petition zur Rückführung in öffentliches Eigentum
Leider machen die Grünen in der Landesregierung keine Anstalten, sich diese Sichtweise auf das Gemeinwesen im Allgemeinen und eine Universitätsklinik im Besonderen zu eigen zu machen. Auf einer Protestveranstaltung von ver.di in Wiesbaden anlässlich der Gesundheitsministerkonferenz am 16. Juni 2021 erklärte der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen im Landtag Marcus Bocklet, die Grünen hätten die UKGM ja nicht verkauft und niemand wisse, ob es in öffentlicher Hand besser wäre.
Deshalb ruhen jetzt die Hoffnungen auf einer jüngst gestarteten Petition an den hessischen Landtag zur Rückführung des UKGM in öffentliches Eigentum. Vielleicht sorgen ja massenhafte Unterschriften für eine öffentliche Diskussion, in der der Schaden und die Absurdität der Privatisierungspolitik thematisiert und infolgedessen die Kliniken dann eines Tages wieder in Landesbesitz zurückgeführt werden.
Anmerkung
(1) Prof. Dr. Joachim Wieland: Rechtsgutachten zu den rechtlichen Möglichkeiten einer Rücküberführung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in öffentliches Eigentum. März 2021 (Kurzlink: https://bit.ly/36AFDSG)
Eine frühere, etwas längere Fassung des Artikels erschien zuerst in der HLZ - Mitgliederzeitschrift der GEW Hessen. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Herbert Storn ist Gewerkschafter bei der GEW und Mitglied bei »Gemeingut in BürgerInnenhand«.