Die Wirtschaftsweisen und der Mindestlohn: Sachverständige ohne Sachverstand
12. November 2015 | Markus Krüsemann
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat sein Jahresgutachten vorgelegt. Die so genannten Wirtschaftsweisen sind offiziell zu wirtschaftspolitischer Neutralität verpflichtet. Faktisch liefern sie aber sehr fragwürdige und hochideologische Empfehlungen, davon legen ihre Einlassungen zum Mindestlohn in den letzten drei Gutachten beredtes Zeugnis ab.
Jedes Jahr im Herbst legt der "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" sein Jahresgutachten vor. Es soll eine Art unabhängige Expertenanalyse der Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland darstellen und beratend auf die politische Entscheidungsfindung in Wirtschaftsfragen einwirken. Soweit der offizielle Auftrag.
Mit der Unabhängigkeit ist das allerdings so eine Sache. Zwar ist der Rat laut Gesetz zu wirtschaftspolitischer Neutralität verpflichtet. Allein schon die Zusammensetzung des Gremiums offenbart aber eine Einseitigkeit der Positionen: Statt den zumindest in Restbeständen noch vorhandenen Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften widerzuspiegeln, dominiert (mit Ausnahme des Ratsmitglieds Peter Bofinger) der marktliberale Mainstream der neoklassischen deutschen Volkswirtschaftslehre.
Wie der wirtschaftspolitische Bias des Rates immer wieder zu ideologisch motivierten Aussagen führt, lässt sich am Beispiel der Bewertung des Mindestlohns aufzeigen, gegen den die Wirtschaftsweisen schon seit Jahren mit neoklassischen bis neoliberalen Theoriedogmen, einseitigen Erklärungsmustern und fragwürdigen Prognosen zu Felde ziehen. Dazu reicht ein Blick auf die letzten drei Jahresgutachten.
Jahresgutachten 2013:
In welchem Geist das Jahresgutachten 2013 geschrieben ist, lässt sich beim Tagesspiegel nachlesen: Das „Gutachten gleicht mehr einer Propagandaschrift“. Die Großökonomen „wettern gegen alles, was der zunehmenden Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen entgegenwirken könnte“. Damit plädierten sie für eine Wirtschaftspolitik, die den ohnehin Privilegierten einen immer größeren Anteil des Volkseinkommens zuschanze, resümiert die Zeitung. Die Ablehnung eines flächendeckenden Mindestlohns durch die Sachverständigen gibt dafür ein treffendes Beispiel ab.
Bei der Bewertung und Verurteilung von Mindestlöhnen ist das Gremium etwas vorsichtiger als in den Vorjahren: Empirische Nachweise für die Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen werden jetzt immerhin als „uneinheitlich“ bezeichnet (S. 269). Das hält die Autoren indes nicht von der Wertung ab, dass die Mehrheit der international durchgeführten Studien dennoch auf negative Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen hinweist, und dass diese Studien methodisch als verlässlicher angesehen werden können, als jene, die positive Effekte entdeckt haben (S. 270).
Eigentlich sind die praktischen Effekte aber egal, denn für die Ökonomen hat die Theorie sowieso Recht, wonach der Mindestlohn als ein unzulässiger Markteingriff schädlich sein muss. Folgerichtig mahnen sie, dass ein flächendeckender Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro hierzulande „eine nennenswerte Anzahl von Beschäftigten“ treffen und damit ein vergleichsweise hohes Risiko von Beschäftigungsverlusten mit sich bringen würde (S. 271). Es besteht die „große Gefahr“, dass Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose, Zweitverdiener oder Jugendliche aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden (S. 285). Eine „überzeugende empirische Evidenz“ bleiben die Ratsmitglieder hier allerdings schuldig, darauf weist bereits der Wirtschaftsweise Peter Bofinger im Gutachten in einer von der Mehrheit abweichenden Meinung hin (S. 290).
Jahresgutachten 2014:
Im Jahresgutachten 2014 bleibt sich der Sachverständigenrat seiner ideologischen Grundhaltung treu. Der Mindestlohn wird weiterhin als fundamentaler Eingriff in den Arbeitsmarkt abgelehnt. Da man wenige Monate vor seiner Einführung in Deutschland nicht mehr so unüberprüfbar mit Jobverlustzahlen hantieren kann, verlegt man sich jetzt lieber auf das Argument der Wirkungslosigkeit: Selbst „wenn große Beschäftigungsverluste ausbleiben“, werden sich nicht die erhofften positiven Effekte einstellen“, heißt es (S. 286).
An anderer Stelle wird die frühere Gebetsmühle 'Massenentlassungen' vorsichtshalber gleich beiseite gelegt. Stattdessen spricht man jetzt lieber von durch den Mindestlohn verhinderten neuen Arbeitsplätzen: „Der Sachverständigenrat nimmt (…) an, dass im Jahr 2015 rund 100 000 Minijobs und etwa 40 000 sozialversicherungspflichtige Stellen weniger entstehen als ohne den Mindestlohn“ (S. 110).
Mit ihrem Versuch, den Mindestlohn dann auch noch für einen vermeintlichen Konjunkturabschwung verantwortlich zu machen, der dann gar nicht eintrat, hatte das Gremium den Bogen allerdings überspannt. Bundeskanzlerin Merkel und die SPD reagierten mit deutlicher Kritik auf das Gutachten. Speziell die SPD Generalsekretärin Yasmin Fahimi redete Klartext. Die Analyse werde wissenschaftlichen Anforderungen nicht gerecht und „scheint mir in seiner ganzen Methodik nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein“. Die Kritik der Ökonomen sollte sich auf Fakten, nicht auf die eigene wirtschaftspolitische Meinung stützen, wurde Fahimi im Handelsblatt zitiert.
Jahresgutachten 2015:
Mag der Mindestlohn auch Fakt sein, mag er auch keine Beschäftigungsverluste hervorgerufen haben, der Sachverständigenrat hat noch lange keinen Frieden mir ihm gemacht, ist er doch ein Stachel im Fleisch ihrer altbackenen Dogmen, an denen sie natürlich auch im Jahresgutachten 2015 weiter festhalten.
Da sich ihre früheren Warnungen vor Arbeitsplatzverlusten faktisch als substanzlos erwiesen haben, greift das Gremium (anders als etwa das Kieler Institut für Weltwirtschaft) nicht mehr explizit auf die Behauptung zurück. Stattdessen gibt es jetzt der guten Konjunktur die Schuld, dass seine Prognosen zum Mindestlohn nicht eingetreten sind. Wegen des starken Wirtschaftswachstums sei es noch viel zu früh, um aus der guten Arbeitsmarktlage nach Einführung des Mindestlohns darauf zu schließen, dass seine Wirkung unschädlich sei (S. 227). Während man das noch als Nachkarten auf sich beruhen lassen kann, zeigen sich an anderer Stelle jedoch ernste Attacken auf den Mindestlohn und Versuche, die diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen wo es irgend geht abzuschwächen und auszuhöhlen. Instrumentalisiert werden dafür die Langzeitarbeitslosen und die Flüchtlinge.
Zur Verbesserung der Beschäftigungschancen von Langzeitarbeitslosen will das Gremium die bestehende Ausnahmeregelung (kein Mindestlohn in den ersten sechs Monaten einer Beschäftigung) auf zwölf Monate ausdehnen (S. 19) und „auf Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ausweiten (S. 36). Dabei übersehen sie geflissentlich die Tatsache, dass Arbeitgeber diese Ausnahme de facto kaum nutzen. Unschwer ist hier wieder das alte Dogma zu erkennen, wonach es Lohnsenkungen brauche, um Beschäftigungssteigerung zu erzielen. Für Flüchtlinge soll übrigens dieselbe Regelung Anwendung finden, was nicht anderes heißt, als dass man versucht, den Mindestlohn als Hemmnis für die Integration von Flüchtlingen anzuprangern.
Damit nicht genug, will man den Mindestlohn nach Alter gestaffelt wissen, um junge Menschen zu Niedriglöhnen in den Arbeitsmarkt zu bringen und alle Praktika zumindest bis zu einer Dauer von zwölf Monaten vom Mindestlohn ausnehmen (S. 263).
Empirisch sind die Forderungen nicht begründbar. Welchen Sinn soll es machen den Geltungsbereich des Mindestlohns einzuschränken, wenn gerade in den besonders von ihm betroffenen Branchen ein stärkerer Beschäftigungsaufbau zu beobachten ist als in anderen Wirtschaftsbereichen?
Unverständlich bleibt auch, dass der Sachverständigenrat zwar einerseits betont, dass „eine seriöse Bewertung der Wirkungen des Mindestlohns (…) noch nicht möglich ist“, und dass er bisher „keine gravierenden gesamtwirtschaftlichen Folgen“ beobachten konnte (S. 249). Andererseits hält es ihn nicht davon ab, schon jetzt ganz konkrete Reformvorschläge zur Einschränkung der Mindestlohnregelungen zu präsentieren. Auf welcher Basis stehen solche Forderungen?
Fazit:
Nicht nur in den letzten drei Jahresgutachten, sondern bereits seit Jahren vertritt der Sachverständigenrat (mit Ausnahme Peter Bofingers) unverhohlen neoliberale Positionen: Mehr Markt, weniger Staat, Zurückhaltung des Staates bei der Wirtschaftspolitik, weniger Sozialpolitik der Umverteilung, Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Kürzungen in den sozialen Sicherungssystemen usw. Die empirisch nicht begründbare, sondern ideologisch motivierte und realitätsferne Ablehnung von Mindestlöhnen passt perfekt in dieses geschlossene Weltbild. Damit ist Politik schlecht beraten.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.