Die Wohnungsfrage kehrt zurück
31. Januar 2019 | Dierk Hirschel, Ralf Krämer, Patrick Schreiner
Die Wohnungsfrage ist zurück auf der politischen Tagesordnung. Darin zeigt sich ein eklatantes sozialpolitisches Versagen.
Im April 2018 demonstrierten 25.000 Menschen in Berlin gegen steigende Mieten, Immobilienspekulation und fehlenden Wohnraum. Aufgerufen hatten weit über 200 Verbände und Initiativen. Der »Berliner Kurier« schrieb von »Wut auf den Wucher«. Und die gibt es keineswegs nur in der Bundeshauptstadt: Initiativen und zivilgesellschaftliche Bündnisse, Proteste und Demonstrationen gab und gibt es auch in Hamburg, München, Frankfurt, Freiburg und vielen anderen Städten.
Im September 2018 organisierten Deutscher Mieterbund, Gewerkschaften, Sozialverbände und Mieterinitiativen anlässlich eines »Wohngipfels« der Bundesregierung einen großen, bundesweiten »Alternativen Wohngipfel« mitsamt Protestdemo. Die gemeinsame Forderung aller beteiligten Organisationen: Solidarische Städte, die nicht profitable Geschäftsmodelle für wenige, sondern soziale Nachbarschaften für viele bieten.
Der Markt versagt
Diese Beispiele zeigen: Die Wohnungsfrage ist zurück auf der politischen Tagesordnung. Und das, nachdem sie noch in den frühen 2000er-Jahren als gelöst galt. Wie in anderen Bereichen auch, hat die Politik die Weichen daraufhin in Richtung »mehr Markt« gestellt: Schon seit den 1980er Jahren wurden ganze Wohnungsbestände privatisiert und Regulierungen abgebaut. Öffentliche und gemeinnützige Wohnungsunternehmen gerieten ins Hintertreffen. Fördergelder wurden abgebaut. Der Neubau ging drastisch zurück – abgesehen von der verstärkten Bautätigkeit in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Die Spekulation mit Wohnungen und Grundstücken wurde nun zunehmend auch für internationale Finanzunternehmen und Fonds interessant.
Das Nachsehen hatten und haben die Mieterinnen und Mieter – viele von ihnen Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose, Soloselbstständige oder abhängig Beschäftigte. Die allermeisten von ihnen werden sich absehbar niemals Wohneigentum leisten können. Steigende Mieten aber eben auch nicht. Sie sehen sich nun aus ihren Nachbarschaften verdrängt, weil Straßenzüge und ganze Stadtteile für Menschen mit kleinem oder sogar mittlerem Einkommen zu teuer werden. Zunehmende soziale Ungleichheit und ein wachsender Niedriglohnsektor verschärfen die Situation.
Wohnungsfrage als soziale Frage
Wohnen ist eine soziale Frage. Wohnlage, Wohnungsqualität und Mietpreis unterscheiden sich sehr stark. Die soziale Lebenslage eines Menschen lässt sich häufig an seiner Wohnadresse ablesen.
In den letzten Jahren hat sich die soziale Spaltung bei der Wohnraumversorgung vertieft. Immer mehr gilt: Die Reichen wohnen in ihren Vierteln unter sich, den Armen bleiben allenfalls noch schlechte Randlagen. Selbst die Mittelschicht wird zunehmend aus ihren Nachbarschaften verdrängt. Die Gründe sind steigende Mietpreise, eine unzureichende Zahl an Sozialwohnungen sowie eine allgemein wachsende soziale Ungleichheit in Deutschland. Mancherorts – insbesondere in ostdeutschen Städten – hat die räumliche Trennung von Arm und Reich ein erschreckendes Ausmaß erreicht. Gerade bei armen Kindern ist die soziale Ausgrenzung besonders ausgeprägt. Wenn Menschen aber in benachteiligten Quartieren aufwachsen, dann leiden ihre Lebenschancen. Sie werden mehrfach benachteiligt: durch unzureichende Infrastrukturen, durch eingeschränkte Sozialkontakte und durch Stigmatisierung.
Die Mietpreise steigen. Da die Arbeitseinkommen mit den Mieten nicht mehr Schritt halten konnten, erhöhte sich für viele Haushalte die Mietbelastung. Republikweit müssen heute Mieterinnen und Mieter rund 28 Prozent ihres Nettohaushaltseinkommens für ein Dach über dem Kopf ausgeben. Etwa jeder Fünfte zahlt sogar mehr als 40 Prozent.
Deutschland ist traditionell ein Mieterland. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wohnt zur Miete. In den Ballungsräumen sind es über 85 Prozent. Folglich belasten die steigenden Mieten nicht nur Geringverdiener und Transferempfänger.
Soziale Spaltung auf dem Wohnungsmarkt
Einkommen und Vermögen prägen die Wohnverhältnisse. Zwischen Berlin und München hat die Ungleichheit deutlich zugenommen. Das reichste ein Prozent besitzt heute rund 30 Prozent des gesamten Nettovermögens in Höhe von rund zehn Billionen Euro. Das reichste Zehntel verfügt über zwei Drittel. Der Großteil dieses Vermögens sind Wohn- und Gewerbebauten sowie Bauland. Etwa 19 Millionen Haushalte haben Haus- und Grundvermögen. Das reichste Fünftel besitzt über 70 Prozent des Nettoimmobilienvermögens. Die untere Hälfte geht leer aus.
Wer reich ist, wohnt in seinen eigenen vier Wänden. Drei von vier reichen Haushalten haben heute Wohneigentum. Der Kauf von Wohneigentum durch die obere Mittelschicht und Oberschicht wurde in den letzten Jahrzehnten politisch gefördert. Die reichsten 20 Prozent kassierten drei Viertel der Bausparsubventionen und fast die Hälfte der Einkommenssteuergeschenke. So finanzierten die Kassiererin und der Altenpfleger das Eigenheim ihres Zahnarztes.
Etwa 45 Prozent der Haus- und Wohneigentümer nutzen ihre Immobilie selbst. Zwei von drei Vermietern sind Kleinvermieter. Private Konzerne und Gesellschaften besitzen zwei Millionen Mietwohnungen oder zehn Prozent des Gesamtbestands. Einige, aber nicht alle Immobilienbesitzer werden durch Mieteinnahmen reich. Deutsche Privatvermieter erzielen nach Zinsen und Steuern eine Nettorendite von zwei Prozent. Jeder vierte Vermieter erwirtschaftet eine Rendite von fünf Prozent. Jeder Siebte erreicht nach Abzug aller Kosten sogar mehr als acht Prozent.
Arm und Reich am Wohnungsmarkt
Einkommensschwache wohnen in der Regel zur Miete. Ihre Eigentümerquote liegt bei nur 17 Prozent. Haushalte mit niedrigem Einkommen leben in schlechter ausgestatteten Wohnungen, wohnen auf kleinerer Fläche und haben eine deutlich höhere Mietbelastung. Die reichsten zehn Prozent haben die dreifache Wohnfläche des ärmsten Zehntels.
Arme zahlen nur geringfügig kleinere Mieten als Reiche. Wohlhabende Haushalte müssen lediglich 13 Prozent mehr Miete zahlen als arme Haushalte. Bezogen auf den Quadratmeterpreis (Bruttokaltkosten) zahlen einkommensschwache Haushalte im Schnitt etwa 7,20 Euro pro Quadratmeter. Die Quadratmeterpreise der Besserverdienenden liegen bei 8,10 Euro. Folglich beläuft sich die Mietbelastungsquote kleiner Einkommensbezieher (60 Prozent des mittleren Einkommens) auf rund 40 Prozent ihres Nettohaushaltseinkommens. Wohlhabende (140 Prozent des mittleren Einkommens) müssen lediglich 17 Prozent ihres Einkommens für die Miete aufbringen.
Deswegen drohen immer mehr Mieterinnen und Mieter in den Armutskeller zu stürzen. Etwa 1,3 Millionen Haushalte haben nach Abzug der Miete ein Resteinkommen unterhalb der Hartz-IV-Regelsätze. Die Armutsrisikoquote von Mieterinnen und Mietern stieg zwischen 1991 und 2015 von 16 auf 29 Prozent. Besonders stark betroffen sind junge Erwachsene unter 35 Jahren, Alleinerziehende, Familien, Auszubildende, Studierende, Migrantinnen und ältere Menschen.
Im schlimmsten Fall droht die Obdachlosigkeit. 2016 hatten 860.000 Menschen keine Wohnung. Die Hälfte davon sind Flüchtlinge, die überwiegend in Gemeinschaftsunterkünften wohnen. Rund 50.000 Wohnungslose leben auf der Straße.
Die soziale Spaltung des Wohnungsmarktes ist Ausdruck eines sozialpolitischen Versagens der Wohnungspolitik. Eigentlich sollten der soziale Wohnungsbau, die Mietpreisbindung und das Wohngeld dazu beitragen, dass sich auch einkommensschwache Haushalte eine Wohnung leisten können. Die Praxis ist eine Andere.
Bei diesem Artikel handelt es sich um zwei Kapitel (leicht ergänzt und ohne Abbildungen) einer wohnungspolitischen Broschüre »Gutes Wohnen für alle« der Gewerkschaft ver.di. Diese Veröffentlichung kann auf der ▸Webseite von ver.di Wirtschaftspolitik heruntergeladen und bestellt werden. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Dierk Hirschel leitet den Bereich Wirtschaftspolitik der Gewerkschaft ver.di.
Ralf Krämer arbeitet im Bereich Wirtschaftspolitik der Gewerkschaft ver.di.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.