Ein ewiges Lied: Die FAZ mit Zahlentricks gegen höhere Steuern
30. April 2013 | Patrick Schreiner
Am vergangenen Wochenende haben die Grünen beschlossen, sich für deutliche Steuererhöhungen einzusetzen; von SPD und Linken liegen ähnliche Beschlüsse vor. Anlass genug für einen Aufschrei des Entsetzens im konservativen und neoliberalen Blätterwald. Nicht immer wird dabei redlich und sauber argumentiert, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) einmal mehr anschaulich und beispielhaft zeigt. – Ein Beitrag über Zahlentricks und Manipulationen.
In dem am gestrigen Montag erschienenen Artikel „EU-Kommission befürchtet Steuerflucht: Deutscher Spitzensteuersatz weit über EU-Durchschnitt“ nehmen die Autoren Hendrik Kafsack und Joachim Jahn inhaltlich einen Dreischritt vor:
- Sie wollen beweisen, dass die Steuern in Deutschland ohnehin schon überdurchschnittlich hoch seien, dazu greifen sie auf eine Pressemitteilung von Eurostat zurück,
- sie ergänzen Ihren „Beweis“ durch zahlreiche – insgesamt sehr einseitige – Stellungnahmen und Zitate aus der deutschen Wirtschaft, unter anderem dem so genannten „Bund der Steuerzahler“,
- und schließen mit der Warnung eines Mitarbeiters der EU-Kommission vor Steuerflucht wegen einer zu hohen Steuerbelastung.
Dabei argumentieren sie allerdings gleich in mehrfacher Hinsicht unredlich:
1. Kafsack/Jahn erwecken in der Überschrift zumindest suggestiv den Eindruck, die EU-Kommission würde direkt auf die aktuellen steuerpolitischen Debatten in Deutschland – insbesondere den Grünen-Parteitag – reagieren und gerade deshalb vor Steuerflucht warnen. Dem ist mitnichten so. Wer allerdings die Wahrheit erfahren will, muss bis zum Ende des Artikels lesen:
Die EU-Kommission warnte unterdessen am Montag davor, dass zu hohe Steuern die Steuerflucht erhöhen könnten. „Je höher die Steuersätze liegen, desto mehr muss man sich um die Fragen von Hinterziehung und Steuerbetrug kümmern“, sagte der ranghohe Kommissionsmitarbeiter Philip Kermode - ohne dabei direkten Bezug auf die Vorschläge der Grünen oder SPD zu nehmen. „Denn die Anreize werden größer und größer.“
Das Zitat zeigt: Richtig ist, dass nicht die EU-Kommission, sondern lediglich einer ihrer Mitarbeiter diese Äußerung getan hat. Richtig ist zudem, dass sich diese Äußerung keineswegs auf die Beschlüsse der Grünen bezieht.
Dass solcherlei Anreiztheorien, wie sie Kermode hier vertritt und wie sie Kafsack/Jahn zustimmend zitieren, nicht im Mindesten ernst zu nehmen sind, soll zumindest kurz erwähnt sein: Wer Steuern hinterzieht, tut dies unabhängig davon, ob er/sie fünf oder zehn Prozent mehr oder weniger zu zahlen hat. Darauf weisen zahlreiche Studien hin, und auch die FAZ selbst hat darüber jüngst durchaus angemessen berichtet.
2. Kafsack/Jahn erwecken den Eindruck, die Steuerpolitik von SPD und Grünen (sowie der bei ihnen nicht erwähnten Linken) würde der Steuerpolitik und den steuerpolitischen Trends in allen anderen Ländern in Europa diametral widersprechen:
Innerhalb der EU stellen sich SPD und Grüne mit ihren Plänen gegen den Trend – auch wenn der französische Präsident François Hollande weiterhin versucht, den Spitzensteuersatz so nah wie verfassungsrechtlich möglich an die im Wahlkampf versprochenen 75 Prozent zu heben. Durchschnittlich aber sind die Spitzensteuersätze in der EU in den vergangenen Jahren gesunken. So lag der EU-Durchschnitt 2000 noch mit 44,8 Prozent, mehr als 6 Prozentpunkte höher als heute.
Richtig ist, wie auch die zugrundeliegende Pressemitteilung von Eurostat zeigt, dass seit 2000 die Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer in Europa zurückgegangen sind. Allerdings ist dies weit überwiegend auf die Zeit vor der Krise zurückzuführen. Seit Beginn der Krise hat sich dieser Trend umgekehrt. Die Politik François Hollandes ist Teil davon.
Schon vor einem Jahr hat Eurostat in einer Pressemeldung berichtet, dass der Einkommensteuer-Spitzensatz in immer mehr Ländern wieder ansteigt – ebenso wie die Körperschafts-Steuersätze. Sieht man sich die Werte für die Jahre 2011, 2012 und 2013 in beiden Eurostat-Pressemeldungen an, so zeigt sich dies deutlich: Der Einkommensteuer-Spitzensatz etwa stieg in den genannten Jahren im Euroraum von 42,2 Prozent über 43,1 Prozent (43,2 Prozent) auf 43,3 Prozent. Diese jüngere Entwicklung, die in zahlreichen Veröffentlichungen dokumentiert ist, bleibt im FAZ-Artikel schlicht unerwähnt.
3. Kafsack/Jahn erwecken den Eindruck, dass der Einkommensteuer-Spitzensatz der entscheidende - oder zumindest ein aussagekräftiger - Wert sei, will man die Steuerlast verschiedener Länder miteinander vergleichen. Und in der Tat zeigen die Zahlen von Eurostat, dass Deutschland bei diesem Wert über dem EU- sowie Euroraum-Durchschnitt liegt.
Richtig ist allerdings, dass die tatsächliche Steuerbelastung auf Einkommen von sehr viel mehr Faktoren abhängt als nur dem Spitzensteuersatz. Insbesondere wäre zu fragen, ab welcher Höhe des Einkommens dieser überhaupt erst greift, wie der gesamte Tarifverlauf gestaltet ist und welche Freibeträge zusätzlich zur Anwendung kommen. Nur dann weiß man, wie hoch die steuerliche Belastung auf Einkommen tatsächlich ist. Die Einkommensteuer-Spitzensätze alleine sagen schlicht nichts aus.
Es gibt einen Wert, der all die genannten Faktoren berücksichtigt und damit auch eine echte Vergleichbarkeit über Ländergrenzen hinweg gewährleistet, wenngleich er nicht völlig unproblematisch ist. Gemeint ist der implizite Steuersatz, wie er auch in der von der FAZ zitierten Pressemeldung aufgeführt ist. Eurostat erklärt implizite Steuersätze wie folgt:
Implizite Steuersätze (ITR) messen die tatsächliche durchschnittliche Abgabenbelastung der verschiedenen Arten von Einkommen oder wirtschaftlicher Aktivität, d. h. von Arbeit, Konsum und Kapital. Die ITR drücken die Gesamtsteuereinnahmen in den einzelnen Bereichen als Prozentsatz der jeweiligen möglichen Steuerbemessungsgrundlage aus.
Implizite Steuersätze geben also die tatsächliche durchschnittliche Abgabenbelastung verschiedener Arten von Einkommen wieder. Eurostat führt sie durchaus in der von der FAZ zitierten Pressemitteilung auf. Im genannten FAZ-Artikel bleiben sie allerdings unerwähnt. Vermutlich, weil Kafsack/Jahn andernfalls einige unbequeme Wahrheiten hätten schreiben können oder gar müssen, die der Grundintention ihres Artikels widersprochen hätten:
- Sie hätten schreiben müssen, dass 2011 (das aktuellste Jahr, für das Zahlen vorliegen) der implizite Steuersatz auf Arbeit in Deutschland (37,1 Prozent) zwar über dem EU-Durchschnitt lag (was angesichts zahlreicher Billigsteuerländer vor allem in Osteuropa nicht überrascht), der deutsche implizite Steuersatz aber unter dem Durchschnitt des Euroraums (37,7 Prozent) lag.
- Sie hätten schreiben müssen, dass 2011 der implizite Steuersatz auf Kapitaleinkünfte in Deutschland mit 22 Prozent weit unter dem Euroraum-Durchschnitt von 28,9 Prozent lag (der EU-Durchschnitt ist bei Eurostat nicht angegeben).
- Sie hätten zumindest schreiben können, dass 2011 der implizite Steuersatz auf Konsum in Deutschland genau dem EU-Durchschnitt von 20,1 Prozent entsprach und sogar über dem Durchschnitt des Euroraums (19,4 Prozent) lag. Das weist darauf hin, dass hierzulande gerade nicht die hohen Einkommen, sondern der Konsum stark belastet wird, was wiederum zu einer überdurchschnittlichen Belastung vor allem kleiner und mittlerer Einkommen führt.
4. Unerwähnt bleiben bei Kafsack/Jahn auch die in Prozent des Bruttoinlandsprodukts gemessenen gesamten Steuereinnahmen eines Staates. Eurostat führt sie auf. Auch sie bilden einen Wert, der – anders als die nackten Spitzensteuersätze – durchaus länderübergreifende Vergleichbarkeit gewährleistet. Deutschland lag hierbei im Jahr 2011 mit 38,7 Prozent leicht unter dem EU-Durchschnitt von 38,8 Prozent und recht deutlich unter dem Euroraum-Durchschnitt von 39,5 Prozent. 2010 waren die Differenzen sogar noch größer.
Dies zeigt: Es bestehen gerade auch im länderübergreifenden Vergleich durchaus Spielräume für Steuererhöhungen auf hohe Einkommen, Gewinne und Vermögen; Steuererhöhungen, wie sie die Grünen, die SPD und die Linken fordern. Diese Spielräume bestehen – auch wenn das der FAZ und ihrer Klientel nicht schmecken mag.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.