Dokumentation
Einleitung: Migration und Arbeit in Europa
23. April 2014 | Redaktion
Im Januar 2014 erschien beim Papyrossa-Verlag ein Sammelband zum Thema Arbeitsmigration in Europa, herausgegeben von Hartmut Tölle und Patrick Schreiner. Das Buch mit dem Titel "Migration und Arbeit in Europa" widmet sich den aktuellen Migrationsbewegungen wie auch der derzeitigen Migrationspolitik. Wir dokumentieren im Folgenden eine leicht gekürzte Fassung der Einleitung der beiden Herausgeber.
. . . . .
Migrationsbewegungen und Migrationspolitiken sind in jüngster Zeit wieder verstärkt zum Thema gesellschaftlicher und politischer Diskussionen geworden. Zu Recht – betrachtet man den Handlungsbedarf, den es in diesem Bereich ganz offensichtlich gibt. Der unmenschliche Umgang mit Flüchtlingen an Europas Außengrenzen, die Ausbeutung mobiler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etwa auf westeuropäischen Baustellen oder in der deutschen Fleischindustrie, die nach wie vor bestehende strukturelle Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten sowie ihrer Nachkommen in Deutschland oder die zunehmende innereuropäische Migration von Menschen, die auf eine bessere Zukunft in Nordwesteuropa hoffen, seien dafür beispielhaft genannt.
Dieser Sammelband widmet sich migrationspolitischen Fragestellungen, er legt seinen Schwerpunkt dabei auf den Bereich der Arbeitsmigration. Grundlegende Intention ist es, die Bedeutung von Migration für die Arbeitswelt in Europa wie auch umgekehrt die Bedeutung von Arbeit in Migrationsprozessen herauszuarbeiten, Probleme und Chancen zu beschreiben und vor diesem Hintergrund gesellschaftliche wie auch gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Unseres Erachtens ist Migration als Normalzustand menschlicher Gesellschaften zu verstehen. Letztere sind keine statischen, uniformen, klar abgrenzbaren Gebilde, sondern unterliegen beständigem Wandel. Allen Vereinheitlichungstendenzen zum Trotz, die die Durchsetzung moderner Nationalstaaten ab dem 18. und 19. Jahrhundert mit sich brachte, sind Gesellschaften intern komplex, vielschichtig und bunt. Migration ist nicht der einzige, aber doch ein wichtiger Faktor, der zu dieser Komplexität von Gesellschaften beiträgt. Dabei sind, dies sei zumindest kurz erwähnt, keineswegs nur die westlichen Industrieländer (und keineswegs nur Deutschland) Zielländer von Migration. Angesichts der verheerenden Folgen beispielsweise von Kriegen, Bürgerkriegen und Naturkatastrophen in weiten Teilen der Welt sind vielmehr eine große Zahl so genannter Schwellen- und Entwicklungsländer die ersten und wichtigsten Zielländer globaler Migrationsbewegungen – ein Umstand, der angesichts des selbstbezüglichen Charakters deutscher und europäischer Migrationsdiskurse oft genug außer Betracht gerät.
Gleichwohl sind auch Europa und Deutschland das Ziel von Migration, und solche Migrationsprozesse stehen im Mittelpunkt der Aufsätze dieses Sammelbands. Auch diese Migration ist aus historischer Perspektive Normalzustand. Die von konservativer Seite über Jahrzehnte gepredigte Formel, dass Deutschland »kein Einwanderungsland« sei, war schon immer mehr Wunsch als Tatsache (wenn auch mit verheerender Konsequenz). Migration war und ist immer schon gesellschaftliche Realität.
Beispiele hierfür gibt es zuhauf. Auch schon vor der Gründung der Bundesrepublik 1949 war Deutschland Ziel und Schauplatz von Migration. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten Millionen Menschen aus den dann polnischen und russischen Gebieten des ehemaligen Deutschen Reichs emigrieren, sie wurden in den Besatzungszonen angesiedelt. Während der Industrialisierung im späten 19. Jahrhundert emigrierte eine große Anzahl polnisch-sprachiger Arbeiter mit ihren Familien aus östlichen Landesteilen Preußens ins westliche Preußen, vor allem in das Ruhrgebiet. Und schon die Restaurationsbewegung nach dem Wiener Kongress 1814/1815 hatte wirtschaftliche Not und politische Unterdrückung zur Folge, was zur Emigration einer großen Zahl an Menschen führte. Ein Teil von ihnen ging in andere deutsche und europäische Staaten, ein anderer Teil nach Nord- und Südamerika – wie überhaupt die deutschen Staaten im 19. Jahrhundert zu den wichtigsten Auswanderungsländern in Europa und zu den wichtigsten Herkunftsländern US-amerikanischer Immigrantinnen und Immigranten gehörten.
Beispielhaft für Migration in der jüngeren Vergangenheit sei auf die nach dem Beitritt der meisten mittel- und osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union einsetzenden Wanderungsbewegungen von Ost nach West sowie, ganz aktuell, auf Bürgerkriegsflüchtlinge insbesondere aus Syrien und Nordafrika verwiesen. In den 1990er Jahren immigrierten Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Gleichfalls in den 1990er Jahren kamen die meisten der so genannten »Spätaussiedler« aus verschiedenen osteuropäischen Ländern nach Deutschland, ebenso wie eine kleine, aber doch nennenswerte Zahl an Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Und in den 1960er Jahren war die Hochphase der Einwanderung so genannter »Gastarbeiter« – der Begriff suggeriert eine zeitliche Beschränkung des Aufenthalts, die ihren Ursprung in der (auch in diesem Falle irrigen) Auffassung von einem Deutschland als Nicht-Einwanderungsland hatte.
Migration war und ist mit Fragen der Beschäftigung stets eng verknüpft. Hinter der individuellen Entscheidung, die Heimat oder den aktuellen Wohn- und Lebensort aufzugeben, um befristet oder dauerhaft in ein anderes Land zu gehen, steht eine Vielzahl von Gründen, Ängsten und Hoffnungen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben ist dabei eng verknüpft mit der Einschätzung, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen und/oder die politischen Zustände im Herkunftsland ein (Weiter-) Leben dort unmöglich machen. Nicht nur, aber eben auch die Frage der Arbeit, ihrer Wertschätzung und ihrer sozialen Absicherung ist vor diesem Hintergrund mit Migration unumgänglich verknüpft. Dies betrifft einerseits das Herkunftsland, in dem beispielsweise Arbeitslosigkeit, gesellschaftliche Ausgrenzung (eben auch am Arbeitsmarkt) oder die politische Verfolgung von politisch, gewerkschaftlich, kirchlich oder zivilgesellschaftlich Aktiven Grund für die Entscheidung zur Emigration sein können. Dies betrifft aber andererseits ebenso das Zielland, in dem die Teilhabe von Migrantinnen und Migranten an Gesellschaft und Arbeitsmarkt einen Dreh- und Angelpunkt sowohl für die individuelle Zukunft wie auch für die Zukunft ganzer Gesellschaften darstellt.
Diese Teilhabe muss aus unserer Sicht eine politische Teilhabe dahingehend sein, dass, wer an einem bestimmten Ort und in einem bestimmten Land lebt, dort auch politisch und demokratisch mitbestimmen kann. Diese Teilhabe muss eine soziale Teilhabe dahingehend sein, dass Gesellschaft nur als Miteinander gedacht werden kann. Und diese Teilhabe muss eine materielle Teilhabe dahingehend sein, dass alle Menschen ein Recht auf gute Löhne, menschenwürdige Arbeit und soziale Absicherung haben. Oft genug gehen politische, soziale und materielle Ausgrenzung Hand in Hand, so dass Integration immer nur als Verbindung von politischer, sozialer und materieller Teilhabe gedacht werden kann.
Dabei erweist sich der Umgang mit Migration im Konkreten allerdings immer wieder als Herausforderung. Nicht immer waren dabei gewerkschaftliche, zivilgesellschaftliche und politische Reaktionen auf Migrationsbewegungen klug und angemessen – wie insbesondere im historischen Rückblick zu konstatieren ist. So verkennt beispielsweise der bisweilen offen oder versteckt zu hörende Vorwurf, Immigrantinnen und Immigranten drückten die Löhne, die tatsächlich dafür Verantwortlichen. Es sind schließlich nicht migrantische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern es sind in diesen Fällen die Arbeitgeber, die Löhne drücken. Es sind eben diese Arbeitgeber, die die komplexesten Rechtskonstruktionen nutzen, um sich noch billiger der Arbeitskraft anderer zu bemächtigen. Und es sind eben diese Arbeitgeber, die auf diese Weise migrantische wie auch nichtmigrantische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu oft genug inakzeptablen Bedingungen beschäftigen.
Zudem lässt sich kaum leugnen, dass Migration auf übergeordneter, gesamtgesellschaftlicher Ebene bestimmte politische Funktionen erfüllt. Man mag in Migrationsprozessen eine gewisse Autonomie erkennen, wie es die jüngere kritische Migrations- und Rassismusforschung zu Recht tut. Gleichwohl ist Migration immer auch politisches Mittel. Sie ist eben auch Instrument zur Strukturierung von Beschäftigung, Arbeitsmärkten und Gesellschaften.
Dies bringt für Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Akteure Herausforderungen mit sich, es wirft Fragen auf. Antworten hierauf sind nicht einfach zu finden. Sie müssen aber stets unvollständig bleiben, solange Migration nicht als essentieller Bestandteil von Gesellschaft anerkannt wird. Und sie müssen stets unvollständig bleiben, solange fortschrittliche politische Akteure nicht die Interessen von Immigrantinnen und Immigranten als gleichrangig anerkennen.
Dieser Sammelband soll einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um Arbeitsmigration in Deutschland und Europa leisten. Er vereint sehr unterschiedliche Perspektiven aus Wissenschaft, Gewerkschaften und Verbänden. Die Artikel dieses Buches widmen sich unter anderem der Frage nach dem Umfang und den Formen der Migration in Europa, nach den Konsequenzen für die betroffenen Migrantinnen und Migranten, nach der Funktion von Migration für den EU-Binnenmarkt und den europäischen Integrationsprozess, nach den Zusammenhängen zwischen Krise und aktuellen Migrationsbewegungen sowie nach Möglichkeiten, für Migrantinnen und Migranten gute Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit zu gewährleisten. Dabei kommen sie zu sehr verschiedenen, teils gegensätzlichen Einschätzungen und Schlussfolgerungen – es war auch unser Anliegen, diese Vielfalt in einem Sammelband zusammenzuführen.
Überblick über dieses Buch
Der erste Teil dieses Sammelbands umfasst Artikel, die sich mit allgemeinen Aspekten der Migrationspolitik und der Arbeitsmigration in Europa befassen. So beschreibt Dietrich Thränhardt in »Innereuropäische Migration zwischen guter Arbeit und Marginalisierung« zunächst die wichtigsten gegenwärtigen (Arbeits-)Migrationsprozesse in Europa. Kirsten Hoesch gibt anschließend in ihrem Text »Anlocken oder Abschotten? Europäische Arbeitsmigrationspolitik zwischen Wirtschaftsinteressen und Kontrollprimat« einen Überblick über die Arbeitsmigrations-Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten. Sowohl Dietrich Thränhardt als auch Kirsten Hoesch machen deutlich, dass – und wie – die Frage der Arbeitsmigration und die Frage der Beschäftigungsbedingungen eng miteinander verknüpft sind.
Michael Sommers Beitrag »Für einen Perspektivenwechsel. Menschen- und Arbeitnehmerrechte bei Einwanderung und innereuropäischer Mobilität durchsetzen« beschreibt und benennt aus gewerkschaftlicher Sicht migrationspolitische Anforderungen an die Bundespolitik wie auch an die Europäische Union. Der nachfolgende Artikel von Hartmut Meine und Uwe Stoffregen »Einwanderungspolitik im Spagat zwischen Fachkräften und Flüchtlingen« macht deutlich, dass Migrationspolitik nicht auf das Anwerben von Fachkräften beschränkt werden darf, sondern immer auch Menschlichkeit und gute Arbeitsbedingungen für Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten wie auch für Flüchtlinge zum Ziel haben muss. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 veröffentlichten Pro Asyl, der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Interkulturelle Rat in Deutschland Positionen und Forderungen. Aus der gemeinsamen Broschüre mit dem Titel »Menschenrechte für Migranten und Flüchtlinge« dokumentieren wir die Zusammenfassung.
Andreas Mayerts Text »EU-Binnenmobilität vor dem Hintergrund einer unvollkommenen Währungsunion« widmet sich darauf folgend der Rolle von Migration im Kontext der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa. Mit ähnlicher Stoßrichtung widmet sich anschließend Patrick Schreiner in seinem Beitrag »Migration, Lohnkonkurrenz und die vier Grundfreiheiten in Europa. Warum nicht alles so einfach ist, wie es scheint« der Rolle und Bedeutung von Migration im europäischen Integrationsprozess.
Es folgt Sebastian Friedrichs und Marika Pierdiccas Artikel »Migration und Verwertung. Rassismus als Instrument zur Segmentierung des Arbeitsmarktes«, der den Zusammenhang von Rassismus und Arbeitsmarktpolitik am Beispiel des politischen Diskurses während zweier Phasen deutscher Einwanderungspolitik untersucht. Kyoko Shinozaki kritisiert anschließend in »Die ›Green Card‹ als Heilmittel für Arbeitskräfteknappheit? Ein Vergleich der Migration in hoch- und ›niedrigqualifizierten‹ Sektoren« die im deutschen Einwanderungsdiskurs übliche Unterscheidung zwischen der Immigration vermeintlich Niedrigqualifizierter einerseits und Hochqualifizierter andererseits.
Im zweiten Teil des Sammelbands finden sich Artikel, die spezifische Migrationsprozesse in Deutschland und Europa genauer in den Blick nehmen. Romani Rose widmet sich in seinem Beitrag »Sinti und Roma in Europa – Integration und Teilhabe statt Armut und Diskriminierung« der Migration von Sinti und Roma in Europa, ihrer prekären Lebens- und Arbeitssituation wie auch der Ausgrenzung, mit der sie konfrontiert sind. In Interviewform beschreiben darauf folgend Matthias Brümmer, Jochen Empen und Gero Lüers in »Grenzüberschreitende Ausbeutung im EU-Binnenmarkt« die prekäre Lebens- und Arbeitssituation mobiler Beschäftigter in Deutschland. Helen Schwenken thematisiert in ihrem Beitrag »›Menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte‹« den Entstehungsprozess und die Wirksamkeit des Übereinkommens Nr. 189 der Internationalen Arbeitsorganisation, das einen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Hausarbeiterinnen und Hausarbeitern leisten soll. Emilija Mitrović widmet sich in ihrem Artikel »Jeder Mensch hat Rechte. Zur Situation von Menschen ohne Aufenthaltsstatus und gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten« der Lebens- und Arbeitssituation so genannter »illegaler« Migrantinnen und Migranten in Deutschland.
Fabià Espuig beschreibt in seinem Beitrag »Einwanderung aus Spanien nach Deutschland: Mythen und Realitäten« die oft prekäre Lebens- und Arbeitssituation spanischer Immigrantinnen und Immigranten in Deutschland. Dass es auch anders gehen kann, zeigt Johannes Grabbe darauf folgend in »Arbeitsmigration nach Niedersachsen – fair und gerecht« am Beispiel eines Projektes des Bildungsträgers Arbeit und Leben Niedersachsen. In »Vom Hüttenknecht zum Arbeitnehmervertreter. Mein Werdegang zum Konzernbetriebsrats-Vorsitzenden der Salzgitter AG« schildert anschließend Hasan Cakir die prekäre Lebens- und Arbeitssituation der damals in Deutschland so genannten »Gastarbeiter« aus persönlicher Sicht.
Zum Weiterlesen
Hartmut Tölle / Patrick Schreiner (Hg.): Migration und Arbeit in Europa. Köln: PapyRossa. 229 Seiten, EUR 14,90 [D] / 15,40 [A], ISBN 978-3-89438-550-7 (bol.de, thalia.de, buch.de, ebook.de). Der Sammelband »Migration und Arbeit in Europa« widmet sich aktuellen Migrationsbewegungen und Migrationspolitiken in Deutschland und Europa.