EU: Auf eine neoliberale Politik festgenagelt
13. Februar 2018 | Ralph Guth, Elisabeth Klatzer, Lisa Mittendrein, Valentin Schwarz
Debatte zur Europäischen Union: Die Suche nach linken Handlungsmöglichkeiten. - Mit unseren bisherigen Positionen und Strategien zur EU sind wir heute in der Defensive. Die folgenden Thesen sind die Basis für die Suche nach neuen Strategien.
1. Die positiven Seiten der EU dürfen uns nicht davon abhalten, eine grundlegende Kritik an ihr zu üben.
Die EU hat viele positive Aspekte. Dazu gehören etwa die Freiheit, in andere EU-Länder zu reisen oder dort zu arbeiten, Transferleistungen in strukturschwache Regionen oder die Chemikalienverordnung REACH. Doch diesen positiven Aspekten stehen viele problematische Bereiche der EU-Politik, wie die Handelspolitik, die neoliberale Wirtschafts- und Kürzungspolitik, die Flüchtlings- oder Militärpolitik, gegenüber.
Auch viele der genannten Vorzüge, etwa Reisefreiheit und Personenfreizügigkeit, haben ihre Schattenseiten. Der Wegfall der Kontrollen bedeutet noch lange nicht reale Bewegungsfreiheit. So erhalten EU-Bürger_innen in anderen Ländern nicht automatisch Sozialleistungen. Denn die Personenfreizügigkeit der EU gibt letztlich Arbeitnehmer_innen nur das Recht, in einem anderen EU-Land eine Beschäftigung anzunehmen. Und sie führt dazu, dass im reicheren Teil der EU Löhne gedrückt und Sozialstandards ausgehöhlt werden.
Zudem sind die Reise- und Personenfreizügigkeit die ersten Freiheiten, die politisch eingeschränkt werden, etwa vor internationalen Protesten oder im Zuge der Flüchtlingsbewegung. Selbst mobilitätsfördernde EU-Projekte wie Erasmus-Austauschprogramme sind letztlich nur einer kleinen Gruppe von Menschen zugänglich. Kapital, Waren und Dienstleistungen können sich hingegen völlig frei bewegen, ihre Freizügigkeit wird kaum eingeschränkt.
2. Neoliberale Wirtschaftspolitik ist der Kern der EU. Daher ist sie nicht in unserem Sinn reformierbar.
Der Kern der EU-Politik ist die neoliberale wirtschaftliche Integration. Das zeigen die Eckpfeiler der EU, etwa die Funktionsweise des Euro und der Binnenmarkt: Die »vier Freiheiten« sind so gestaltet, dass sie den Standortwettbewerb anheizen und Löhne und Sozialstandards sowie Steuern auf Profite und Vermögen unter Druck setzen. Die Art und Weise, wie der Euro konstruiert ist, vertieft diesen Wettbewerb und lässt Zentrum und Peripherie auseinanderdriften. Zusätzlich wurde die neoliberale Budget- und Wirtschaftspolitik über 20 Jahre hindurch von Maastricht bis zum Fiskalpakt immer stärker rechtlich verankert. Dieser rigide Rahmen nagelt die Staaten auf eine neoliberale Politik fest.
Bisher haben wir diesen Fehlentwicklungen die Vision einer grundlegend anderen, neu begründeten EU entgegengehalten. Doch seit der Unterwerfung Griechenlands ist das nicht mehr möglich. Erstmals stellte eine linke Regierung in der EU die neoliberale Grundausrichtung offen infrage. Die europäischen Eliten haben sich geschlossen gegen sie gestellt: die EU-Kommission, die die Austeritätspolitik vorantreiben wollte; die Regierungen, die keinen Millimeter von ihren Verarmungsauflagen abwichen; die Europäische Zentralbank, die den griechischen Banken den Geldhahn zudrehte, um die Regierung zu erpressen.
Im Vergleich dazu setzt die EU - Mitgliedsstaaten und Institutionen - den Übertretungen von rechts kaum etwas entgegen. Als die Visegrád-Staaten ein gemeinsames Vorgehen in der Flüchtlingspolitik verhinderten, geschah nichts. Im Vergleich der beiden Auseinandersetzungen zeigt sich der wahre Charakter der EU: Die politischen Eliten der EU sind eher bereit, die europäische Integration existenziell zu gefährden, als ihren neoliberalen Kern aufzugeben. Angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse ist eine tiefgreifende progressive Reform der EU unmöglich.
3. »Mehr Europa« bedeutet heute immer »mehr Neoliberalismus« und ist daher abzulehnen.
Solange der neoliberale Kern der EU nicht infrage gestellt wird, vertieft jeder neue Integrationsschritt die problematische Ausrichtung. 2016 veröffentlichten Jean-Claude Juncker, Mario Draghi, Donald Tusk, Jeroem Dijsselbloem und Martin Schulz ihren Fünf-Präsidenten-Bericht zur Zukunft der EU. Um die Wirtschafts- und Währungsunion zu »vollenden«, sollen das Recht der Parlamente, über das Budget zu entscheiden, weiter eingeschränkt und der Druck auf Löhne, Pensionen und Sozialleistungen erhöht werden. Auch das Weißbuch der EU-Kommission aus dem Frühjahr 2017 bestätigt diesen Kurs. Die neoliberale Grundausrichtung auf mehr Handels- und Investitionsschutzabkommen, verschärften Standortwettbewerb und undemokratische Budgetregeln steht für die Eliten außer Frage. Hinzu kommen gemeinsame Militärpolitik sowie strengere Migrations- und Grenzkontrollen. Die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion - oft als »mehr Europa« bezeichnet - ist eine Gefahr, keine Lösung.
4. Die Frage, ob ein Austritt aus EU und Euro sinnvoll ist, stellt sich in jedem Land anders.
Vom europäischen Standortwettbewerb profitieren in erster Linie Reiche und Konzerne, während die breite Bevölkerung verliert. Das gilt prinzipiell in jedem Land, aber in manchen stärker als in anderen: Österreich zählt als Volkswirtschaft zu den Gewinnern von EU und Euro, auch wenn diese Gewinne höchst ungleich verteilt sind. Spanien oder Italien zählen insgesamt zu den Verlierern. Der Standortwettbewerb führte dazu, dass die lokale Industrie dort an Boden verlor oder ganz unterging. Die negative Rolle der EU hat sich in der Krise noch verstärkt: In Griechenland und Portugal wurde der Sozialstaat gezielt von EU-Institutionen - als Teil der Troika - zerstört.
Aufgrund dieser Erfahrungen wird die Frage des Austritts bei Linken und sozialen Bewegungen in Südeuropa vermehrt diskutiert. Wenn es innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion keinen Spielraum für progressive Wirtschaftspolitik gibt, kann der Austritt ein notwendiger Schritt sein. In Österreich und Deutschland ist diese Forderung hingegen vor allem von der Rechten besetzt. Unter den aktuellen Machtverhältnissen würde ein Austritt heute, ähnlich wie in Großbritannien, keine Spielräume für emanzipatorische Politik öffnen, sondern sie sogar weiter verengen. Ein solcher Bruch würde die rassistischen und autoritären Kräfte stärken, nicht Linke und soziale Bewegungen. Daher halten wir bei aller Kritik an EU und Euro den Austritt Österreichs derzeit für keine sinnvolle Forderung.
5. Der Gegensatz »Mehr EU oder zurück zum Nationalstaat« ist falsch und führt uns in die Irre.
EU-Kritik wird von liberaler, konservativer und sozialdemokratischer Seite stets mit dem Vorwurf begegnet: »Ihr wollt ja zurück zum Nationalstaat.« Doch erstens gibt es keine allgemeinen nationalstaatlichen oder europäischen Interessen. Es gibt Interessengegensätze verschiedener Klassen und gesellschaftlicher Gruppen, und damit verbunden unterschiedliche politische Ziele. Die allermeisten politischen Konflikte verlaufen heute nach dem Schema »Wirtschaftliche und politische Eliten gegen die breite Bevölkerung« - über Ländergrenzen hinweg.
Zweitens sind Nationalstaat und EU auf institutioneller Ebene und im politischen Prozess nicht trennbar. Wir müssen sie als ineinander verwachsene Blöcke begreifen.
Drittens fördert gerade die neoliberale Politik der EU den Nationalismus. Liberale und sozialdemokratische Eliten behaupten gerne, die EU würde uns vor FPÖ, AfD und Co. schützen. Die Realität zeigt, dass die EU kein progressives Projekt gegen Nationalismus und Konservativismus ist. Gerade die EU-Austeritätspolitik, die Millionen Menschen in die Armut stürzt und berechtigte Existenzängste weckt, bereitet dem Aufstieg der Rechten den Boden.
6. Auch die Rechten stehen für neoliberale Politik - nur noch autoritärer.
Die Rechten sind bisher Hauptprofiteur der EU-Krise. Das liegt an der Schwäche der Linken und am Rechtsruck der sogenannten politischen Mitte. Seien es Obergrenzen für Schutzsuchende, das Kopftuchverbot in Teilen des öffentlichen Dienstes oder die Ausweitung des Überwachungsstaates - die österreichische Regierung macht heute jene Politik, die noch vor einigen Jahren nur die extreme Rechte forderte.
Allen Rechten ist gemeinsam, dass sie ausgewählte Elemente des bisherigen Neoliberalismus eher vertiefen und noch autoritärer durchsetzen wollen. Die Rechten bauen an einem Europa, in dem Waren und Kapital weiterhin frei zirkulieren sollen, während die Grenzen für Menschen neu hochgezogen werden.
7. Für die Entwicklung der EU in den kommenden Jahren sind verschiedene Szenarien denkbar - und keines davon ist gut.
Wir sehen fünf Szenarien für die Zukunft der EU:
Weiterer Zerfall: Ob Frankreich, Deutschland oder Österreich: In vielen Ländern sind Parteien im Aufwind, die den EU- oder Euro-Austritt fordern. Kommen sie an die Regierung, ist ein weiterer Zerfall möglich.
Lähmung: Die Konflikte nehmen so stark zu, dass die Institutionen nicht mehr handlungsfähig sind. Eine solche Selbstlähmung könnte beispielsweise das Ende von TTIP bedeuten.
Durchwursteln: Es findet keine weitere Vertiefung statt. Immer mehr Länder brechen die Regeln und kommen damit durch. Das kann die Durchsetzbarkeit der neoliberalen Regeln aber nur abschwächen.
Taktische Zugeständnisse: Vor Wahlen könnte es etwa Ausnahmen von den Budgetregeln oder angekündigte Investitionspläne geben. Eine solche taktisch motivierte Lockerung ändert aber nichts an der Grundausrichtung der Eurozone. Auch die regelmäßigen Ankündigungen zur sozialen Union fallen in diese Kategorie.
Autoritäre Vertiefung: Seit dem Brexit-Votum predigen die Eliten »Handlungsfähigkeit«. Das heißt: Sie wollen den neoliberalen Kurs beibehalten, aber noch schneller und autoritärer durchsetzen. Die zwei wahrscheinlichsten Bereiche für diese Vertiefung sind die Eurozone sowie die Militär- und Sicherheitspolitik, damit verbunden, die Flüchtlingspolitik.
All diese Szenarien sind schlecht. In jedem wandern die Regierungen weiter nach rechts und werden die Rechtsextremen gestärkt.
8. Aktuelle Initiativen wie DiEM25 oder Lexit greifen zu kurz.
Die Initiative DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025) des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis will die EU reformieren und demokratisieren. Ihre Ziele sind kurzfristig mehr Transparenz und Krisenbekampfung, mittelfristig ein demokratischer Konvent. Sie knupft an altere Diskurse uber ein »anderes Europa« an und formuliert sie neu, teilweise radikaler. Wir teilen die Grundideen von DiEM25, halten die Forderungen aber fur zu abstrakt. Sie sind kaum an real existierende Kampfe gekoppelt und fur viele Menschen wenig anschlussfahig. Menschen gehen vor allem im Rahmen konkreter Auseinandersetzungen fur Transparenz und Demokratie auf die Straße, etwa im Kampf gegen Privatisierungen.
Einige Initiativen fordern einen »Lexit«, also einen linken Austritt aus dem Euro. Ökonomisch spricht manches dafur, etwa die Moglichkeit, die neue Wahrung abzuwerten und eine eigenständige Geld- und Investitionspolitik zu betreiben. Doch die Chancen werden tendenziell über- und die Risiken unterschätzt. In der Lexit-Debatte werden zudem haufig auch die unterschiedlichen ökonomischen und politischen Kontexte der Mitgliedsstaaten nicht reflektiert. Ein Austritt bedeutet in Spanien etwas anderes als in Österreich oder Finnland.
9. Wir brauchen Strategien, die uns handlungsfähig machen.
Wir müssen sowohl unsere Kritik an der EU, aber auch unsere Strategien für Veränderung auf neue Beine stellen. Es bringt uns nicht weiter, auf eine fundamentale Reform der EU zu hoffen, wenn die dafür nötigen Mehrheiten in der Realität in immer weitere Ferne rücken. Für die strategische Debatte stellen wir nachstehende Fragen in den Mittelpunkt:
- Welche Spielräume gibt es innerhalb der bestehenden Strukturen, Prozesse und Institutionen, und für welche Bereiche müssen wir eigene Alternativen von unten aufbauen?
- Welche Themen eignen sich, um im Gefüge der EU sowie auf der Ebene der Mitgliedsstaaten Brüche zu erzeugen, die uns neue Handlungsspielräume eröffnen und emanzipatorische Politik möglich machen?
- Wie können wir die Kräfteverhältnisse auf den verschiedenen Ebenen verändern und die nötige Macht aufbauen, so dass emanzipatorische Politik möglich wird?
Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen sind uns folgende Prinzipien wichtig:
- Es gibt nicht die eine Strategie oder den einen Ansatz.
- Wir müssen vieles ausprobieren und die Ergebnisse immer wieder prüfen: Was macht uns handlungsfähig? Wie erzeugen wir Brüche? Mit welchen Themen oder politischen Formen erreichen wir die Menschen?
- Dabei müssen wir auf lokaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene gleichermaßen ansetzen, je nachdem, wo wir verankert sind und Handlungsmöglichkeiten sehen. Behalten wir stets im Blick, wie diese Ebenen zusammenhängen und wo wir wann die größte Wirkung erzielen können.
Mit dem von Attac herausgegebenen Buch »Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist« (Mandelbaum Verlag 2017, 272 S., 15 EUR) will die globalisierungskritische Organisation die falsche Debatte zwischen »pro- und antieuropäischen« Kräften überwinden und neue Perspektiven eröffnen. Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch.
Ralph Guth ist Politikwissenschaftler und studiert Rechtswissenschaften. Seit zwei Jahren ist er Vorstandsmitglied von Attac Österreich, wo er vor allem zur Krise, der EU und Konzernmacht aktiv ist.
Elisabeth Klatzer ist politische Ökonomin und Vorstandsmitglied von Attac. Sie setzt sich für eine demokratische und sozialgerechte Transformation und feministische Alternativen in der Ökonomie ein.
Lisa Mittendrein ist Soziologin und Sozioökonomin. Sie arbeitet bei Attac zu Eurokrise, Finanzmärkte und Steuern.
Valentin Schwarz ist Historiker. Er arbeitet bei Attac zu Handelspolitik, Eurokrise und politische Kommunikation.