Europawahl: Die Krise begünstigt nicht nur nationalistische und reaktionäre Kräfte
26. Juni 2014 | Sebastian Friedrich
Gut 400 Millionen Menschen waren Ende Mai 2014 dazu aufgerufen, ein neues Europaparlament zu wählen. Rechte Parteien konnten zum Teil erhebliche Zuwächse verzeichnen. Vor dem Hintergrund der Krisen in den letzten Jahren scheint das Ergebnis die Annahme zu bestätigen, ökonomische und soziale Krisen begünstigten nationalistische und reaktionäre Kräfte. Doch ein genauerer Blick auf die Wahlergebnisse in Europa und speziell in Deutschland offenbart ein differenzierteres Bild.
In den südeuropäischen Ländern, wo die Krise bisher die tiefsten Spuren hinterlassen hat, konnte die Rechte kaum profitieren. Ausgenommen Griechenland - hier holte die neofaschistische Goldene Morgenröte 9,3 Prozent - gewannen rechte Parteien in den »Krisenländern« im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren keine Stimmen hinzu. In Portugal und Spanien bleiben offen rechte Parteien marginal und schicken auch weiterhin keine Abgeordneten ins Parlament.
In Italien verlor die Lega Nord vier Prozentpunkte im Vergleich zur letzten Europawahl. Ebenfalls deutliche Verluste mussten dort (Rechts-)Konservative um Berlusconi hinnehmen, dessen Forza Italia lediglich auf 16,8 Prozent kam; 2009 hatte die Vorgängerpartei Volk der Freiheit noch über 35 Prozent geholt. Der Verlust relativiert sich teilweise angesichts einiger Spaltungen im konservativen Lager und des Erfolgs der schwer verortbaren Fünf-Sterne-Bewegung um Beppe Grillo, die über zwanzig Prozent holte. In den genannten Ländern waren es vor allem linke Kräfte, die für Aufsehen sorgten. In Spanien gewann die Vereinigte Linke deutlich dazu und ist im neuen Parlament mit sechs statt bisher zwei Abgeordneten vertreten. Außerdem holte die Partei Podemos, die ihren Ursprung in der Bewegung der Indignados (»Empörte«) hat, nur wenige Monate nach ihrer Gründung acht Prozent und schickt fünf Abgeordnete ins Europaparlament.
In Italien konnte das linke Tsipras-Bündnis mit vier Prozent zumindest einen Achtungserfolg feiern. Allen voran aber in Griechenland wurde links gewählt. SYRIZA mit dem Spitzenkandidaten der Europäischen Linken, Alexis Tsiprais, holte 26,6 Prozent der abgegebenen Stimmen - ein Zugewinn von mehr als 20 Prozent. Die KKE holte immerhin sechs Prozent und hat weiterhin zwei Abgeordnete in Strasbourg.
Den eindrucksvollsten Sieg einer rechten Partei gelang dem Front National (FN) in Frankreich. Die Partei um Marine Le Pen verbesserte ihr Ergebnis um knapp 20 Prozent und wurde stärkste Partei Frankreichs. In vorliegenden Wahlanalysen werden als Gründe für diesen Erfolg vor allem vier Erklärungen genannt: Erstens habe der FN von einer ausgesprochen starken Ablehnung der aktuellen Politik des Präsidenten François Hollande profitiert. Zweitens würde die konservative Partei UMP, Union für eine Volksbewegung, als Alternative zur herrschenden Politik für viele WählerInnen ausfallen, da die UMP momentan tief in politischen Affären verstrickt ist.
Drittens sei es der Parteivorsitzenden Le Pen gelungen, der Partei ein moderneres und vor allem moderateres Image zu verpassen. Schließlich habe viertens die rechte Variante einer Problematisierung von Kapitalismus mehr denn je in Wählersegmente eingeschlagen, die sich traditionell dem linken Lager zugehörig fühlen. Unklar ist bisher, inwieweit der FN von der reaktionären Bewegung profitieren konnte, die seit einigen Jahren in Frankreich sichtbarer wird und genau ein Jahr vor der Europawahl Zehntausende gegen die Ehe homosexueller Paare auf die Straße brachte.
Augenfällig bei der Betrachtung der Ergebnisse der rechten Parteien ist, dass diese vor allem in den Ländern zulegen konnten, in denen die Auswirkungen der Krise verhältnismäßig wenig zu spüren sind. In Dänemark wurde die Dänische Volkspartei mit 26,6 Prozent stärkste Partei, was ein Plus von 11,8 Prozent bedeutete, in Finnland gewannen die Wahren Finnen mehr als drei Prozent hinzu, die Schwedendemokraten verdreifachten ihren Anteil und kamen auf knapp zehn Prozent, in Österreich gewann die Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ) sieben Prozent hinzu, im Vereinigten Königreich wurde die EU-skeptische UKIP, die United Kingdom Independence Party, mit 26,8 Prozent stärkste Partei und in Deutschland holte die Alternative für Deutschland (AfD) aus dem Stand sieben Prozent.
Diese Ergebnisse deuten auf einen erstarkten Wohlstandschauvinismus hin, bei dem sich die Identifikation mit der Nation als Wirtschaftsstandort mit einer Abwertung derjenigen einhergeht, die als Gefahr für den Standort identifiziert werden. Für standortnationalistische und wohlstandschauvinistische Ideologien sind - entgegen verbreiteter Meinung - keineswegs diejenigen am ehesten anfällig, die akut von sozialem Abstieg bedroht sind oder bereits deklassiert sind. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Vor einigen Jahren diagnostizierten Bielefelder SoziologInnen um Wilhelm Heitmeyer in der neunten Ausgabe ihrer Langzeitstudie »Deutsche Zustände« eine Vereisung des sozialen Klimas und stellten fest, dass abwertende Einstellungen von für die »Volkswirtschaft« als nutzlos Etikettierten vor allem bei höheren Einkommensgruppen anzutreffen seien.
Der Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft
Aktuelle Umfragen zum Wahlergebnis der AfD bei den Europaparlamentswahlen deuten auf vermehrte wohlstandschauvinistische Einstellungen in den Mittelklassen hin. Laut einer repräsentativen Erhebung von Infratest Dimap am Wahltag stimmten 78 Prozent der AfD-WählerInnen der Aussage zu, dass Deutschland nicht für andere EU-Mitgliedsländer zahlen sollte - im Durchschnitt stimmten dieser Aussage 41 Prozent der Befragten zu. Laut einer Auswertung des Forsa-Instituts Anfang Juni kommen 53 Prozent der AfD-AnhängerInnen aus der »Mittelschicht«, 55 Prozent hätten Abitur und/oder studiert und 44 Prozent verfügten über ein Haushaltsnettoeinkommen von 3.000 Euro oder mehr. Bei Angestellten stünde die Partei besonders hoch im Kurs, bei ArbeiterInnen eher nicht.
In den Wahlanalysen der hegemonialen Medien war wenig zu lesen davon, dass der Erfolg rechter Parteien mit wohlstandschauvinistischen und standortnationalistischen Einstellungen in der »Mitte der Gesellschaft« zusammenhängen könnte. Auffällig war hingegen, dass in einigen Kommentaren die Erfolge rechter Parteien in anderen Ländern dem Wahlergebnis in Deutschland entgegengestellt wurden. Der Tenor: Während andernorts »politische Erdbeben« die Parteienlandschaft erschüttern, ist im deutschen Parteiengefilde alles wie gehabt.
Solche Einschätzungen erstaunen, ist es doch erst das zweite Mal, dass bei einer bundesweiten Wahl eine Partei rechts der Union über fünf Prozent erzielen konnte. Nur 1989 konnten die Republikaner mit 7,1 Prozent einen ähnlichen Erfolg feiern. Trotz einiger kritischer Berichte zum AfD-Erfolg im medialen Mainstream setzt bereits jetzt eine gewisse Gewöhnung an die AfD ein. Ähnliches ist im parlamentarischen Establishment festzustellen. Zwar gehen innerhalb der Regierungsparteien die Einschätzungen über die AfD auseinander, doch mehr und mehr PolitikerInnen aus den Unionsparteien melden sich zu Wort, die sich gegen eine Dämonisierung der Partei und sogar für mögliche Koalitionen mit der neuen Partei aussprechen.
Die Bereitschaft zur Kooperation mit der AfD in Teilen der Union dürfte auch auf das schlechte Abschneiden der FDP zurückzuführen sein. Der angebliche Lieblingskoalitionspartner erreichte bei der Europawahl lediglich 3,4 Prozent und setzte seinen Abwärtstrend fort. Damit drohen die Freiliberalen akuter denn je vor allem durch Grüne und AfD verdrängt zu werden. Die Grünen dürften vermehrt für Linksliberale und Gutverdienende eine Alternative zur FDP darstellen. So überrascht es nicht, dass die Grünen bei Selbstständigen am besten abschnitten (15%), einst die Hauptwählergruppe der FDP - bei der Bundestagswahl 2009 wählte sie noch jedeR vierte Selbstständige.
Die AfD ist vor allem für euroskeptische, rechtsliberale und nationalkonservative Spektren interessant, die sonst gerne auch mal ihr Kreuz bei der FDP machten. Eingekeilt zwischen Links- und Rechtsliberalen dürfte es für die FDP auf lange Sicht schwer werden, sich aus dem Tief zu befreien. Mit dem zu erwartenden weiteren Bedeutungsverlust der FDP fällt der Union ein potenzieller Koalitionspartner weg, der nicht nur für reale Koalitionen, sondern auch bei Koalitionsverhandlungen mit anderen möglichen Koalitionspartnern wichtig ist, um die Verhandlungsposition zu verbessern. Ähnliche Überlegungen dürften bei der CDU in Sachsen dazu geführt haben, die AfD als Koalitionspartner nicht kategorisch auszuschließen. Dort finden am 31. August 2014 Landtagswahlen statt und die FDP, der jetzige Koalitionspartner der CDU, liegt aktuell bei vier Prozent, während die AfD momentan den Sprung in den Landtag schaffen würde.
Die Normalisierung der AfD auf medialer und parlamentarischer Ebene dürfte sich also erst einmal fortsetzen, vorausgesetzt deren Parteiführung versteht es weiterhin, zwischen nationalkonservativen und neoliberalen Positionen zu changieren. Nach Einschätzung des Soziologen Andreas Kemper wird es dem neoliberalen Flügel zumindest aus ideologischen Gründen nicht schwerfallen, auf die Nationalkonservativen zuzugehen. Wird dem so sein, ist zu erwarten, dass die kommenden Monate vermehrt nationalkonservative Töne, insbesondere in familienpolitischen Fragen, angestimmt werden. Anknüpfungspunkte gibt es genügend. Seit Anfang des Jahres mobilisieren AfD-Mitglieder ebenso wie fundamentalistische Christen, extreme Rechte, Neonazis und Konservative gegen den Bildungsplan 2015 in Baden-Württemberg, in dem eine Verankerung der Thematisierung sexueller Vielfalt vorgesehen ist.
Offensive Thematisierung von Klassenstrukturen
Mit der Normalisierung der AfD droht eine Verschiebung des gesellschaftlichen Klimas nach rechts. Bereits in der aktuellen Debatte um Arbeitsmigration innerhalb der EU nahm die AfD die Funktion eines Verstärkers für rechte Positionen ein. Getrieben durch die Gefahr, die Hegemonie im rechtskonservativen Spektrum in Bayern zu verlieren, startete die CSU Ende letztens Jahres mit ihrem Slogan »Wer betrügt, der fliegt« eine Kampagne gegen »Sozialtourismus«.
Zwar steht CSU-Chef Horst Seehofer für diese Strategie angesichts der Stimmverluste bei der Kommunalwahl im März 2014 und der Europawahl in der Kritik, doch zeichnet sich keine Kehrtwende ab, denn auch die CDU hat sich zuletzt auf diese Strategie eingelassen. So gab Angela Merkel wenige Tage vor der Wahl gegenüber der Passauer Neuen Presse (22.5.2014) zu Protokoll, dass die EU keine Sozialunion sei und dass es kein Hartz IV für EU-BürgerInnen geben werde, »die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten«. Kurz zuvor wurde zudem ein Gesetzentwurf öffentlich, nach dem die Bundesregierung gegen »Sozialleistungsmissbrauch« verstärkt vorgehen will.
Es gibt noch eine weitere Entwicklung: Gegen Abschottung und Abgrenzung rechter Parteien wurde in vielen Wahlanalysen, die sich betont schockiert von den Erfolgen rechter Parteien zeigten, die EU als weltoffenes und liberales Projekt entgegengesetzt. Auf der einen Seite stehen die Rechten, die gegen die EU sind, auf der anderen Seite diejenigen, die die EU befürworten.
Hier wird einer extremismustheoretischen Logik folgend auch linke Kritik an bestehenden EU-Strukturen allzu schnell als nationalistisch und rückwärtsgewandt diffamiert. Die Erfolge linker Kräfte in Südeuropa deuten an, dass eine deutliche Kritik an der EU aus linker Perspektive durchaus möglich ist und auf Zuspruch stoßen kann. Allerdings setzt das in Ländern, die als Krisengewinnler gelten, eine offensive Thematisierung der Klassenstrukturen innerhalb Europas voraus, um dem Wohlstandschauvinismus etwas entgegensetzen zu können.
Dieser Text erschien zuerst in analyse & kritik Ausgabe 595. Wir danken für die Genehmigung zur Übernahme des Textes. Er ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.