Finanzialisierung und soziale Ungleichheit
12. März 2020 | Patrick Schreiner
In den letzten Jahrzehnten ist die soziale Ungleichheit in vielen Ländern gestiegen, wie etwa die Entwicklung der Lohnquote zeigt. Eine Studie untersucht Gründe dafür.
Erschienen ist die Arbeit der Ökonomen Karsten Kohler, Alexander Guschanski und Engelbert Stockhammer unter dem Titel »The impact of financialisation on the wage share: a theoretical clarification and empirical test« im Juli 2019 im Cambridge Journal of Economics. Die Autoren identifizieren zunächst vier Mechanismen, hinter denen sie einen Einfluss der Finanzialisierung auf die soziale Ungleichheit vermuten – und spezifizieren so genauer, was sie unter »Finanzialisierung« verstehen:
- Erstens steige die Verhandlungsmacht der Unternehmen gegenüber ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, etwa durch Möglichkeiten zur Produktionsverlagerung ins Ausland. Liberalisierte internationale Finanzmärkte erhöhten die Mobilität von Kapital.
- Zweitens führe Finanzialisierung zu erhöhten Zins- und Dividendenzahlungen der Unternehmen an Kapitalbesitzende. Diese Zahlungen würden auf Preise übergewälzt, was die Reallöhne verringere.
- Drittens steige durch den verschärften Wettbewerb auf den Kapitalmärkten und durch die größere Transparenz des Unternehmenswerts im Aktienkurs der Druck auf Unternehmen, Kosten zu senken – etwa durch niedrigere Löhne und Gehälter sowie durch den Abbau von Arbeitsplätzen.
- Viertens sei eine höhere Verschuldung der Privathaushalte ein wesentliches Element der Finanzialisierung. Sie mache die Haushalte von abhängig Beschäftigten verletzlicher, weil sie die Angst vor Arbeitsplatzverlust erhöhe und das Selbstbewusstsein bei Tarifverhandlungen und Streiks schwäche. Klassenbewusstsein gehe verloren.
Diesen Mechanismen spüren die Autoren nun in 14 Ländern für den Zeitraum 1992 bis 2014 nach. Den stärksten Effekt auf die soziale Ungleichheit, hier gemessen anhand der Lohnquote, identifizieren sie bei der erhöhten Mobilität von Kapital dank der liberalisierten internationalen Finanzmärkte. Auch für die Zahlungen von Zinsen und Dividenden stellten sie einen beträchtlichen Einfluss auf soziale Ungleichheit fest. Die Verschuldung der Privathaushalte sei als Ursache für jene Länder feststellbar, in denen Haushalte mit geringen Einkommen nennenswert verschuldet sind und in denen Institutionen zu Lohnverhandlungen zugleich nur schwach ausgeprägt seien. Der verschärfte Wettbewerb auf Kapitalmärkten hingegen spiele keine große Rolle.
Kohler, Guschanski und Stockhammer untersuchen ferner den Einfluss von vier Faktoren, die sie nicht der Finanzialisierung zuordnen: Arbeitslosigkeit, die liberalisierende Öffnung eines Landes für den internationalen Handel, technologischen Wandel sowie Migration. Von diesen vier wirkten sich nur die ersten beiden (Arbeitslosigkeit und Handel) negativ auf die Lohnquote aus, nicht aber die letzten beiden (Technologie und Migration).
Nicht eine zunehmende Mobilität von Arbeitskräften, sondern eine zunehmende Mobilität des Kapitals sei also für den Rückgang der Lohnquoten in vielen Ländern verantwortlich. Entsprechend sei es notwendig, die Freiheiten des Kapitals wieder zu reduzieren, will man die soziale Ungleichheit wieder verringern. Die Mobilität des Kapitals sei wieder einzuschränken. Zudem müsse durch eine entsprechende Steuerpolitik und Regulierung erreicht werden, dass Unternehmen wieder stärker auf produktive Investitionen setzten, anstatt nur kurzfristig den Shareholder Value steigern zu wollen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.