Formelkompromiss "Wachstum": Wie sich Merkel & SPD aus dem Fiskalpakt-Patt rausmogeln könnten
2. Mai 2012 | Patrick Schreiner
Der Begriff des "Wachstums" scheint zunehmend zu einem Schlüssel für die Auflösung der Pattsituation zu werden, in die sich die Eurokrisen-Bekämpfung im Allgemeinen sowie Bundeskanzlerin Merkel und die SPD im Besonderen manövriert haben. Eine Auflösung allerdings, die nur rhetorisch und euphemistisch sein kann und wird. Sollte Francois Hollande neuer französischer Präsident werden, so droht auch er Teil dieser Auflösung zu werden. Eine Analyse der derzeitigen Debattenlage und eine Prognose des zu erwartenden Kompromisses zwischen Merkel und der europäischen Sozialdemokratie.
Die Pattsituation beruht darauf, dass ein wie auch immer geartetes Vorgehen gegen die Krise sowohl die Unterstützung Frankreichs als auch Deutschlands und zugleich sowohl der Konservativen wie auch der Sozialdemokratie in Europa braucht. Eine schlichte Fortsetzung der bisherigen Kürzungs- und Austeritätspolitik gegen den Willen eines möglichen neuen französischen Präsidenten Hollande erscheint ebenso undenkbar wie deren Fortsetzung gegen den Willen der SPD im Bundestag, deren Stimmen Merkel zur Erreichung des notwendigen Zwei-Drittel-Quorums für den Fiskalpakt braucht. Zugleich aber ist nicht zu erwarten, dass Hollande und/oder die SPD auf eine – eigentlich angemessene – fundamentale Ablehnung des Fiskalpakts oder der Kürzungspolitik einschwenken werden. Dafür spricht nicht zuletzt auch, dass die SPD für ihre Zustimmung zum Fiskalpakt nicht mehr auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer besteht - nachdem sich diese Einführung als derzeit in Europa politisch nicht durchsetzbar erwiesen hat.
In den Diskussionen um den Europäischen Fiskalpakt, die wir in den letzten Wochen beobachten konnten, haben sich folgende Positionen herauskristallisiert:
(1) Die marktradikale Position Merkels, der deutschen Bundesregierung und des französischen Noch-Präsidenten Sarkozy. Sie setzen auf die Übertragung der deutschen "Schuldenbremse" auf Europa – in Form des Fiskalpakts. Mehr noch als bisher sollen die Staaten zu faktisch ausgeglichenen Haushalten gezwungen werden. Neu gegenüber der "Schuldenbremse" ist, dass auch ein Abbau schon bestehender Schulden verbindlich vorgegeben wird.
Die von Merkel und Sarkozy vorangetriebene Kürzungspolitik in Europa führt nun allerdings ganz offensichtlich nicht zu den gewünschten Ergebnissen: Die Staatsdefizite nehmen nicht nennenswert ab, die Wirtschaft vieler Eurostaaten bricht zusammen. Auf die zunehmende Kritik haben beide zusammen mit der Europäischen Kommission reagiert, indem sie schon mehrfach angekündigt haben, "Wachstumsinitiativen" auflegen zu wollen. Darunter verstehen sie zum einen Maßnahmen wie die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und den Abbau sozialer Sicherheit. Die gibt es ohnehin schon, würden dann aber eben ausgeweitet. Merkel, Sarkozy und Co. haben aber zugleich auch angekündigt, ein paar vergessene Milliarden Euro aus den europäischen Strukturfonds zusammenzukratzen, um damit Wachstumsprogramme in den Krisenstaaten zu finanzieren.
Merkel hat allerdings das Problem, im Bundestag eine Zwei-Drittel-Mehrheit zu benötigen, damit der Europäische Fiskalpakt als völkerrechtlicher Vertrag wirksam werden kann. Damit kommt die SPD ins Spiel. Ihre Positionen:
(2) Die kaum weniger marktradikale, aber sozial getünchte Position Frank-Walter Steinmeiers und Peer Steinbrücks (beide SPD). Beide betonen bei jeder Gelegenheit, dass die Politik von Agenda 2010 und Hartz-Reformen richtig gewesen sei und zum wirtschaftlichen wie auch arbeitsmarktpolitischen "Erfolg" Deutschlands beigetragen habe. Nicht zuletzt in der Bundestags-Debatte zum Fiskalpakt hat Steinmeier dies deutlich gemacht. Er sagte als Reaktion auf kritische Einwürfe aus dem Regierungslager, es sei die SPD gewesen, die "notwendige" Reformen eingeführt habe. Reformen, die man nun auch in den anderen europäischen Staaten einführen müsse. Als Beispiele nannte er die "Schuldenbremse", "Strukturreformen" am Arbeitsmarkt à la Agenda 2010 und Hartz sowie die Rente mit 67. Er stellte diese Beispiele in einen direkten Zusammenhang mit "Wachstum", das notwendig sei und durch die genannten Maßnahmen herbeigeführt werden könne. Daneben scheint Steinmeier auch investiven konjunkturfördernden Maßnahmen in den Krisenländern durchaus nicht abgeneigt – allerdings unter der Maßgabe eines Abbaus der Neuverschuldung.
(3) SPD-Chef Sigmar Gabriel und weite Teile der SPD hingegen scheinen stärker die Notwendigkeit von echten Wachstumsprogrammen im Sinne von Konjunkturpaketen zu sehen. Auch scheinen sie deutlich kritischer als Steinmeier/Steinbrück gegenüber der europäischen Kürzungs- und Austeritätspolitik zu sein. Mit konkreten Äußerungen allerdings hält sich Gabriel eher zurück. Hingegen positionierte sich in Frankreich der Sozialist und Präsidentschafts-Favorit Hollande recht deutlich in diesem Sinne. Dies weist auf einen gewissen Widerspruch zwischen der deutschen Steinmeier-Steinbrück-Fraktion und den französischen Sozialisten hin.
Die beiden innerhalb der SPD bzw. der europäischen Sozialdemokratie vertretenen Positionen sind nicht völlig widerspruchsfrei, aber weisen doch deutliche Überschneidungen zueinander auf. Dies wurde nicht zuletzt im so genannten Troika-Papier deutlich, das ich an anderer Stelle analysiert habe. Dort wie auch in der SPD-Debatte insgesamt hat sich der Begriff des "Wachstums" als rhetorischer Formelkompromiss herauskristallisiert. Die Kürzungspolitik Merkelscher und Sarkozyscher Prägung solle durch eine Wachstumspolitik ergänzt werden. Sowohl die Steinmeier-Seite als auch die Gabriel-Hollande-Seite können sich hinter die Forderung nach wachstumsfördernden Maßnahmen stellen. Allerdings setzen beide unterschiedliche Akzente hinsichtlich der Frage, welche Maßnahmen dies genau sein sollten; sie vertreten damit unterschiedliche Ansichten, wie genau Wachstum erzielt werden könne. Steinmeier betont stärker arbeitsmarktpolitische Flexibilisierung und den Abbau sozialer Sicherheit nach deutschem Vorbild; Gabriel hingegen betont stärker investive Maßnahmen.
Damit deutet sich in der SPD-internen Debatte schon an, wie eine rhetorische Auflösung der eingangs beschriebenen europäischen Pattsituation aussehen könnte. Doch zunächst zurück zu Merkel. Wenn sie kürzlich erklärt hat, man bereite für den Juni-Rat eine "Wachstums-Agenda" vor, so war dies – wie gesagt – keineswegs neu. Schon seit längerem redet sie davon, dass neben die Finanzpolitik (gemeint: Kürzungspolitik) eine Politik treten müsse, die Wachstum und Beschäftigung fördere und die Staaten wieder wettbewerbsfähig mache. Auch für sie stellt der Begriff des "Wachstums" also das anzustrebende Gute dar, das sie den schlechten, aber leider notwendigen Kürzungen rhetorisch gegenüberstellt. An ihrer Ablehnung neuer Konjunkturprogramme allerdings hält sie nach wie vor fest.
Interessant ist, dass sowohl Gabriel als auch Hollande Merkels jüngste Äußerungen als "Umfaller" bzw. als Entgegenkommen gewertet haben. Interessant ist dies, weil diese Interpretation zwar inhaltlich falsch, aber strategisch geschickt ist. Wie gesagt – Merkel hat sich schon in der Vergangenheit wiederholt entsprechend geäußert. Und an Austeritätspolitik hält sie nach wie vor fest. Wenn Gabriel und Hollande dennoch ein "Umfallen" Merkels zu erkennen glauben, so deutet sich hier an, dass die Sozialdemokratie dieses angebliche "Umfallen" als Teil der Auflösung der eingangs skizzierten Pattsituation zu akzeptieren beginnt.
Als Kompromiss zu erwarten ist vor diesem Hintergrund ein Gesamtpaket, das die Fiskalpakt-Pattsituation rhetorisch-euphemistisch auflösen kann. Es dürfte in etwa folgende Bestandteile enthalten:
- Arbeitsmarktpolitische Flexibilisierung nach deutschem Vorbild (Agenda 2010, Hartz-Reformen) sowie Abbau sozialer Sicherheit. Eine entsprechende Politik wird zwar schon seit 2 Jahren in Südeuropa massiv betrieben und führt dort ohne nennenswerten Erfolg zu immer größerem sozialem Elend. Gleichwohl ist anzunehmen, dass man die Gelegenheit nicht verstreichen lässt, weitere solcher Maßnahmen als angeblich "wachstumsfördernd" zu verkaufen und durchzusetzen. Steinmeier und Merkel stehen ohnehin hinter einer solchen Politik, Gabriel und Hollande dürften sie in einem begrenzten Ausmaß schlucken. Allen vieren ermöglicht dies, den (falschen) Eindruck zu erwecken, man würde nicht nur kürzen, sondern auch etwas für mehr Wachstum und Beschäftigung tun.
- Kleinere Konjunkturpakete, finanziert aus irgendwelchen europäischen Restmitteln. Ins wirtschaftliche Gewicht dürften diese nicht wirklich fallen, denn echte Konjunkturpakete oder Investitionsprogramme in großem Umfang sind mit Merkel und den europäischen Konservativen nicht zu machen. Kleinere Programme aber, die nicht viel kosten und für die das Geld irgendwo in Brüssel herumliegt, ermöglichen der europäischen Sozialdemokratie die Gesichtswahrung; man habe ja schließlich die Forderung nach solchen Programmen durchgesetzt. Allen Beteiligten dienen sie zusätzlich dazu, den (falschen) Eindruck zu erwecken, man tue etwas für Wachstum und Beschäftigung.
- Eine leichtere Revision des Fiskalpakts, der dann – als Gegenleistung für vermeintliche wachstumsfördernde Maßnahmen und Konjunkturpakete – auch die Zustimmung von SPD und Hollande findet. Für Merkel bedeutet dies Gesichtswahrung, da sie ihren Fiskalpakt durchgesetzt bekommt. Für die SPD und Hollande bedeutet dies Gesichtswahrung, da sie auf vermeintliche "Verbesserungen" im Fiskalpakt sowie auf angebliche zusätzliche "wachstumsfördernde" Maßnahmen verweisen können. (Nicht auszuschließen wäre, dass die SPD im Bundestag den Fiskalpakt in der "alten" Fassung tatsächlich zunächst platzen lässt, um ihn zu einem späteren Zeitpunkt in leicht revidierter Fassung dann doch mitzutragen.)
Wirklich sinnvoll wäre dieses Gesamtpaket nicht, denn es würde die bisherige Politik der Kürzungen und des Sozialabbaus schlicht fortsetzen. Es bedeutete eine Preisgabe des letzten Restes sozialer Bestandteile in sozialdemokratischer Politik, wäre aber von SPD und Hollande durchaus gut als Einknicken von Merkel und den Konservativen zu verkaufen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.