Interview
Gareth Dale: »Mit dem Neoliberalismus wurde das Werk Karl Polanyis wieder hochaktuell«
14. Februar 2019 | Matthias Lievens
Ein Interview mit Gareth Dale, dem Biografen Karl Polanyis, über dessen Werk. Der Ökonom Polanyi (1886-1964) hat sich in den letzten Jahren als wichtige Inspirationsquelle für die Kritik am Marktfundamentalismus erwiesen.
Vom Neoliberalismus bis zur Umweltpolitik, vom Aufstieg des Kapitalismus bis zur Wechselwirkung zwischen Demokratie und Markt scheint Karl Polanyi etwas zu sagen zu haben. Kann man von einer Wiedergeburt Polanyis sprechen?
Gareth Dale: Ja, mit Sicherheit. In den 1950er und 1960er Jahren war Polanyi vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaftsanthropologie bekannt. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus in den 1980er Jahren wurde sein Werk jedoch wieder hochaktuell. Im Mittelpunkt seines Schaffens steht vor allem die Zeit bis zum Erstarken des marktwirtschaftlichen Fundamentalismus, also der Zeitraum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.
Polanyi hat sich in mehreren Zweigen der Sozialwissenschaften ein gewisses Ansehen verschafft. Er ist sozusagen einer der Theoretiker aus der zweiten Reihe: nicht so berühmt wie Karl Marx, Max Weber oder Emile Durkheim, aber seine Arbeiten sind einer großen Anzahl von Akademikern bekannt und haben auch darüber hinaus weite Kreise erreicht.
Viele Marxisten und Kritiker des Neoliberalismus sind in ihren Analysen von der Sichtweise Polanyis inspiriert. Was genau sind hier seine Einflüsse?
Gareth Dale: Der Einfluss von Polanyi ist nicht auf marxistische Kreise beschränkt. Er ist zum Beispiel auch der Schule der Weltsystemanalyse ein Begriff, die nicht nur von Karl Marx und Fernand Braudel, sondern eben auch von Polanyi inspiriert wurde. Terry Hopkins und Immanuel Wallerstein, die Begründer der Weltsystemanalyse, kannten Polanyi persönlich.
Er beeinflusste auch die linksgerichteten Sozialdemokraten sowie einige rechtsgerichtete Sozialdemokraten, wie Dominique Strauss-Kahn oder Maurice Glasman. Der Letztgenannte ist der Initiator von Blue Labour, einem Trend innerhalb der britischen Labour-Partei, der sich für eine striktere Zuwanderungspolitik einsetzt und gleichzeitig eine Annäherung an die Variante des deutschen Kapitalismus befürwortet. Glasman findet bei Polanyi Argumente für eine protektionistische Ausrichtung der Gesellschaft, die mehr Sicherheit bietet, mehr Wert auf handwerkliche Fähigkeiten und die Rolle des Facharbeiters legt und das Finanzkapital strenger kontrolliert. All dies ist mit einem Fortbestand der Klassengesellschaft, in der wir heute leben, grundsätzlich vereinbar.
Welches sind die Schlüsselideen, die Polanyi zu einem bedeutenden Schriftsteller für die politische Linke gemacht haben?
Gareth Dale: Polanyi wendet sich radikal gegen das, was er als »ökonomischen Sophismus« bezeichnet. Mit anderen Worten, die Menschen glauben zu lassen, dass Konzepte, die zur Erklärung und nachgelagerten Rechtfertigung der modernen kapitalistischen Welt entwickelt wurden, auch auf vorkapitalistische Gesellschaften anwendbar sein könnten. Diese Behauptung ist ein charakteristisches Merkmal der Arbeit vieler neoklassischer Ökonomen. Auf diese Weise wurde die Idee von der Transzendenz des Kapitalismus geboren, also die Idee, dass dieses System in alten Gesellschaften immer schon existiert hätte, auch wenn es dort nur in embryonaler Form vorkam. Polanyi zeigt sehr deutlich, dass der Kapitalismus zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt der Geschichte aufgetaucht ist, dass er im Laufe der Zeit alle erdenklichen Entwicklungen durchlaufen hat und dass er daher auch nicht ewig beständig sein muss.
Polanyi ist vor allem durch seine Kritik an der marktwirtschaftlichen Gesellschaft bekannt. Wir können jedoch feststellen, dass diese Art von Gesellschaft im Laufe der Geschichte eher eine Ausnahme als die Norm war. Erst in jüngster Zeit hat die Marktwirtschaft damit begonnen, sich von anderen Sphären zu lösen, um die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu dominieren.
Für Polanyi ist die Marktgesellschaft aus einem sehr spezifischen Umbruch hervorgegangen, der sich Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Großbritannien ereignet hat. Die Konzepte, die es uns ermöglichen, ihre Funktionsweise zu verstehen, gelten nur für diese ganz spezielle Art von Gesellschaft. Diese Überlegungen veranlassten ihn, die Wirtschaftsgeschichte der antiken Gesellschaften zu hinterfragen und eine »Weltwirtschaftsgeschichte« zu entwickeln. Ihm zufolge sind die ökonomischen Prozesse auf drei verschiedene Integrationsmodelle reduziert: Gegenseitigkeit, Umverteilung und Tausch.
Eines der Modelle wird je nachdem, wie die Gesellschaft mit den Faktoren Grund und Boden, Geld und Arbeit umzugehen gedenkt, vorherrschend sein. Ausgehend von dieser Argumentation lieferte er wichtige Arbeiten zur ökonomischen Geschichte der Antike. Berühmtheit erlangte er aber vor allem durch seine Kritik am Marktfundamentalismus.
Der besondere Umbruch, von dem er spricht, der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Großbritannien zum ersten Mal offenbarte, ist die totale Kommerzialisierung von Grund und Boden, Geld und Arbeitskraft. Polanyi spricht von »fiktiven Gütern«, denn Land, Geld und Arbeitskraft sind nicht dazu bestimmt, auf dem Markt verkauft zu werden. Die Schaffung spezifischer Märkte für diese Güter ist daher der Ausgangspunkt eines »utopisch-liberalen« Gesamtprojektes. Der ursprünglich gesellschaftlich verankerte Markt wird sich dann von dieser sozialen Verankerung lösen (»Disembedding«) und alle Bereiche der Gesellschaft seiner Logik unterwerfen.
Diese Vermarktlichung wird zu sozialer Unordnung in Form von Krisen, Arbeitslosigkeit, dem Wegfall des sozialen Gefüges und der lokalen Gemeinschaften, Umweltverschmutzung usw. führen. Sie wird aufgrund der Herabwürdigung der sozialen Wertmaßstäbe auch eine geistig-moralische Krise auslösen. Letztendlich wird diese Dominanz des Marktes zu einer Situation führen, in der die Menschen nicht mehr in der Lage sein werden, die Verantwortung für ihre Entscheidungen zu übernehmen.
Und das wird dann zu verschiedenen Formen des Widerstandes führen, was Polanyi die »Gegenbewegung« nennt?
Gareth Dale: Die Kommerzialisierung von Grund und Boden, Geld und Arbeitskräften stellt eine Bedrohung für die Natur, für die Bevölkerung, aber auch für die Wirtschaft selbst dar. Und das provoziert unweigerlich auch Kritik und andere Formen des Widerstandes. Polanyi zeigt, wie als Reaktion auf dieses utopisch-liberale Projekt recht schnell eine Gegenbewegung entstand, um die Gesellschaft vor den durch die Marktkräfte hervorgerufenen Beeinträchtigungen zu schützen, insbesondere durch Sozialgesetzgebung, Protektionismus, die Steuerung des Geldsystems usw. Polanyi war viel weniger an klassischem Wirtschaftsprotektionismus im Sinne des Schutzes vor ausländischer Konkurrenz interessiert. Für ihn galt es vor allem, sich vor Erschütterungen zu schützen, die für die Zerrüttung des sozialen Gefüges und der sozialen Institutionen verantwortlich sind und die sowohl für den Einzelnen als auch für die Natur schädlich sind.
Eines der Schlüsselkonzepte seines Buches »The Great Transformation« ist die »Doppelbewegung«. Er verweist hier auf den Versuch der Marktfundamentalisten, den Markt aus seiner sozialen Verankerung zu reißen, was eine starke Reaktion zugunsten des sozialen Schutzniveaus vor den Folgen der Marktauswirkungen hervorgerufen hat. Häufig wird diese Doppelbewegung als Pendelbewegung interpretiert: Wenn wir uns zu sehr in Richtung Marktgesellschaft bewegen, führt sie automatisch zu Gegenreaktionen und umgekehrt. Zumindest wird dieses Konzept so am häufigsten gedeutet. Ist es das was Polanyi gemeint hat?
Gareth Dale: Diese gängige Interpretation dieses Konzeptes geht davon aus, dass es in einer kapitalistischen Gesellschaft eine Pendelbewegung zwischen der Tendenz zur totalen Kommerzialisierung auf der einen Seite und der Tendenz (sozialdemokratisch oder anderweitig) der Gesellschaft, sich gegen diese Kommerzialisierung zu verteidigen, auf der anderen Seite gebe. Ich fand in Polanyis Arbeit kein Argument, um diese Theorie zu untermauern. Im Gegenteil argumentiert Polanyi, dass das Entstehen der marktwirtschaftlichen Gesellschaft eine klare und einzigartige Trennlinie in der Menschheitsgeschichte markiert. Diese Bruchstelle hat zu einer unnatürlichen Trennung von ökonomischer und politischer Macht geführt.
Polanyi, beeinflusst von christlichen Wertvorstellungen, erklärt, dass diese Trennung unnatürlich ist, mit anderen Worten, sie verstößt gegen den von Gott gewollten Zustand, dass das Hauptmerkmal der Menschlichkeit darin bestehe, dass die Menschen in Gemeinschaft und nicht gegeneinander wirken. Zusätzlich zum Konflikt zwischen den sozialen Klassen wird es daher auch einen Konflikt zwischen dem Wirtschaftssystem und dem politischen System geben, eine besonders tiefgreifende Auseinandersetzung. Vor allem, wenn die Beschäftigten ein allgemeines Wahlrecht erhalten und Sozialschutzmaßnahmen einfordern, wird es schwierig, das stabile Gleichgewicht zwischen diesen beiden Systemen aufrechtzuerhalten. Sobald das System einmal in Frage gestellt ist, werden Laissez-faire-Ökonomie und Demokratie miteinander unvereinbar.
»The Great Transformation« analysiert das Funktionieren der Marktgesellschaft, die im 19. Jahrhundert relativ stabil verlaufen ist, aber unweigerlich auf ihre eigenen Widersprüche stößt und ihre eigenen Überlebensbedingungen Anfang des 20. Jahrhunderts zerstört. Die Lebensbedingungen vieler Menschen entwickeln sich zurück und provozieren eine Reaktion (»Gegenbewegung«). Das Ungleichgewicht zwischen der beschützenden Gegenbewegung und dem Durst nach liberalem Vermarktungsdrang wird schließlich nicht mehr zu stabilisieren sein. Polanyi teilt die These der Österreichischen Schule, dass jede Intervention in den Markt sein Funktionieren verändern wird: Höhere Löhne führen zu weniger Investitionen und eine starke Gewerkschaftsbewegung reduziert die Fähigkeit des Kapitalismus, sich zu regenerieren. Der regulierte Kapitalismus ist daher von Natur aus instabil. Spannungen häufen sich und verwüsten die Gesellschaft, was zu einer Reihe von Desastern führte: Erster Weltkrieg, Große Depression, Zweiter Weltkrieg.
Die Krise der Marktgesellschaft ist ein zentraler Bezugspunkt im sozialistischen Theoriegebäude, aber ist sie nicht auch ein Nährboden für die Ausbreitung des Faschismus?
Gareth Dale: Der Wunsch, die Gesellschaft auf die eine oder andere Weise wieder zu versöhnen und Politik und Wirtschaft in Einklang zu bringen, ist im Kontext einer Krise sehr attraktiv. Dies kann entweder reaktionär durch den Faschismus geschehen, der darauf abzielt, die Gesellschaft unter dem Einfluss des Kapitals wieder zu vereinigen und die Demokratie zu schwächen, oder progressiv durch sozialistische Vorgehensweisen. Für Polanyi ist die Sowjetunion der Vertreter einer semi-progressiven Strategie. Während er in den 1920er Jahren der Oktoberrevolution sehr kritisch gegenüberstand, beginnt er in den 1930ern Jahren überraschenderweise die Sowjetunion und Stalin zu verteidigen. In seinen historischen Studien analysiert er, wie verschiedene Formen der Tyrannei als Auftakt zur Demokratie dienen können, eine Analyse, die er sich beim Studium der Sowjetunion im Hinterkopf behält. Eine Erhöhung des Bildungsniveaus könnte beispielsweise die Tür zu einer Demokratisierung öffnen. Später wird er auch diese Aussagen zurücknehmen und gegenüber der Sowjetunion viel kritischer sein.
Polanyi hoffte auf einen demokratischen Sozialismus, der bis zu einem gewissen Grad vom amerikanischen New Deal und den sozialdemokratischen Regierungen wie der von Clement Attlee in Großbritannien verkörpert wurde. Er ging davon aus, dass der Trend zur Zusammenführung der Gesellschaft unter dem demokratischen Sozialismus im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich an Bedeutung gewinnen würde. Auch wenn dieses Szenario nicht zustande kam, akzeptierte Polanyi zu keinem Zeitpunkt, dass der Trend letztlich schwächelt oder scheitern würde oder nach dem Krieg sogar umgekehrt würde. Er fragte nie wirklich, ob seine Prognose wahr war wurde oder nicht.
Den New Deal, die Regierung Attlee und die Sowjetunion als Ausdruck ein und derselben Gegenbewegung zugunsten der Demokratie zu betrachten, jenseits der Spaltung zwischen Wirtschaft und Politik, ist das nicht eine viel zu vereinfachte Vorstellung vom Staat?
Gareth Dale: Für Polanyi ist der Staat nicht in erster Linie ein Mittel der politischen Unterdrückung oder ein Instrument der bürgerlichen Herrschaft. Sein Staatsverständnis ist eher Mainstream: Der Staat ist eine Institution, durch die eine Gemeinschaft von Bürgern zu einem kollektiven Subjekt mit einem gemeinsamen Willen wird. Ihm zufolge hat die moderne Demokratie eine an sich sozialdemokratische Seite wegen der Rolle, die die Bürger in ihr einnehmen werden. Aus marxistischer Sicht ist die Vorstellung, dass Kapitalismus und Demokratie getrennte und gegensätzliche Systeme sind, natürlich unhaltbar. Die Vorstellung, dass dies getrennte Systeme sind, ist jedoch ein Beispiel für fetischistisches Denken, das Beziehungen zwischen Menschen als Beziehungen zwischen Dingen betrachtet.
Heute gibt es verschiedene Erscheinungsformen einer nach Schutz suchenden Gegenbewegung. Wie sind diese zu interpretieren? Was sollen wir beispielsweise von der Forderung nach Protektionismus halten, die heute wieder auftaucht?
Gareth Dale: Das normale Funktionieren einer kapitalistischen Gesellschaft basiert auf Kommerzialisierung und Ausbeutung, was zu allen möglichen Anstrengungen und Formen des Leidens führt. Eine der grundlegenden Aufgaben des Staates besteht darin, dieses Leiden durch Schutzmaßnahmen, wie zum Beispiel den Sozialstaat, zu lindern. So funktioniert auch die Einwanderungskontrollpolitik, die Spaltung und Fremdenfeindlichkeit unter dem Vorwand des Schutzes der »Nation« sät. Ich persönlich betrachte dies als notwendigen Bestandteil des Funktionierens einer bürgerlichen Gesellschaft. Obwohl Polanyis Theorie der Gegenbewegung vielfältig und interessant ist, glaube ich nicht, dass der Protektionismus den grundlegenden Strukturen und Funktionsmechanismen der Marktgesellschaft entgegensteht.
Sie bezeichnen das Buch »The Great Transformation« dennoch als einzigartig, warum?
Gareth Dale: Ich finde dieses Werk sehr aktuell und gleichzeitig sehr zeitbezogen. Von dem, was ich gelesen habe, war Polanyi ein linksgerichteter Sozialdemokrat der alten Schule, zumindest in der Zeit seines Lebens, als sein Ruhm seinen Höhepunkt erreichte, also in den 1930er und 1940er Jahren, als er an seinem Buch »The Great Transformation« arbeitete. Die linke Sozialdemokratie dieser Zeit war nicht die, die wir heute kennen. Die linken Sozialdemokraten jener Zeit waren noch davon überzeugt, dass die von ihnen unterstützten Parteien einer postkapitalistischen Zukunft verpflichtet waren. Es gab einen moralischen Anspruch, und in Polanyis Fall war dies ein christlicher, in linken sozialdemokratischen Kreisen, eine gewisse Ethik der Pflicht und Hilfsbereitschaft gegenüber seinen Mitmenschen. Was ich an diesem Buch einzigartig finde, ist die starke Resonanz dieser Zeit, die ich in der Biographie die »verlorene Welt des Sozialismus« nenne. Eine Form des Sozialismus, die heute nicht mehr existiert. Die großen sozialistischen Persönlichkeiten, zu denen Polanyi Kontakte pflegte, wie G.D.H. Cole oder Richard Tawney, sind heute praktisch unbekannt.
Das Buch ist zugleich sehr aktuell in dem Sinne, dass es versucht zu verstehen, wie die Gesellschaft des allumfassenden Marktes, die auf Profit und rein wirtschaftlichen Interessen basiert, dazu neigt, die gesamte Gesellschaft zu überrumpeln und in ein Anhängsel wirtschaftlicher Interessen zu verwandeln. Ein sehr aktuelles Argument in dieser neoliberalen Ära.
In einem fesselnden Kapitel Ihres Buches »Reconstructing Karl Polanyi« zeigen Sie, dass Polanyi den neoliberalen Autoren wie Friedrich von Hayek intellektuell nahestand. Das ist doch eher überraschend und zugleich faszinierend: Ausgehend von ähnlichen Hypothesen zu radikal gegensätzlichen Schlussfolgerungen zu gelangen.
Gareth Dale: Die Verbindung zwischen Hayek und Polanyi ist spannend. In der Tat teilen diese beiden Autoren identische Vorstellungen über bestimmte Aspekte und verteidigen völlig gegensätzliche Standpunkte zu anderen. Polanyi war durch die Österreichischen Schule geprägt, die später eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung neoliberaler Ideen spielen sollte. Er befürwortet ihre Werttheorie, ihre Theorie des Grenznutzens oder Marginalismus, die sich radikal von Marx' Arbeitswerttheorie unterscheidet.
Wie bei Hayek finden wir die Idee der Eigenverantwortung, die auch in der Ethik von Polanyi eine zentrale Rolle spielt. Das Konzept der Spontaneität ist ebenfalls für beide wichtig. Die Idee, dass der Markt eine spontane Ordnung ist, die sich aus dem individuellen Verhalten ergibt, ist bei Hayek fundamental. Für Polanyi hingegen manifestiert sich gerade in der Gegenbewegung, die sich dem Markt entgegenstellt, eine Form der Spontaneität. Polanyi ist hier von Jean-Jacques Rousseau beeinflusst. Ihm zufolge ist der Markt eine künstlich konstruierte Institution, die verschiedene Formen des Leidens erzeugt. Die soziale Reaktion dagegen, ein Ausdruck dieses menschlichen Leidens, ist eine spontane Reaktion. Sie manifestiert sich in der Forderung nach mehr sozialem Schutz durch die Gewerkschaften, den Staat, die Kirche etc. Hayek hingegen stellt Spontaneität in das Funktionieren des Marktes, während er sozialistische Alternativen als künstlich konstruiert und damit als gefährlich ansieht.
Sie teilen auch die gleiche Auffassung vom Staat als deutlich vom Markt getrenntem Bereich. Wenn der Staat nicht als Nachtwächter, sondern direkt am Markt agiert, werde eine Grenze überschritten. Wenn der Staat in den Markt eingreife, schreibt Hayek, störe er das Funktionieren des Marktes. Dies werde zu Krisenphänomenen führen, die die Nachfrage nach zusätzlichen oder intensiveren Eingriffen in den Markt erhöhen. Das berüchtigte Argument, das Hayek in seinem Buch «Der Weg zur Knechtschaft» entwickelt hat, geht wie folgt: Wenn man einmal beginnt, in das spontane Funktionieren des Marktes einzugreifen, setzt man eine Logik immer größerer staatlicher Intervention in Gang, die schlussendlich zum Totalitarismus führen wird.
Polanyi kehrt dieses Argument um: Arbeiter und andere Gruppen werden sich zwangsläufig organisieren, um sich gegen die verheerenden Auswirkungen des Marktes zu verteidigen. Sie fordern insbesondere ein staatliches Eingreifen. Dies wird zu Unterbrechungen der Marktmechanismen und der Forderung nach tiefgreifenderen Veränderungen führen. Dieser Prozess würde dann letztlich zu einer Transformation und Überwindung der Marktgesellschaft führen.
Polanyi glaubte also etwas naiv, dass die Demokratisierung zum Sozialismus führen würde. Nach Hayeks Vision hingegen führt das Überschreiten der Grenze zwischen Staat und Wirtschaft zur Knechtschaft. Also gibt es hier eine Ähnlichkeit, wobei was für Hayek ein Albtraum ist, ein Traum für Polanyi wäre. All dies natürlich nur unter bestimmten Bedingungen, denn Polanyi erkennt, dass die Gefahr besteht, dass diese spontane Gegenreaktion auch zum Faschismus führen kann. Das war die Frage vorhin: Würde die Gegenbewegung nach seinen Worten unvermeidlich zum Sozialismus oder Faschismus führen?
Welchen Mehrwert bringt Ihrer Meinung nach «The Great Transformation» der marxistischen Tradition?
Gareth Dale: Polanyi war ein außergewöhnlicher Intellektueller, ein brillanter Autor. Jemand, von dem wir immer etwas lernen können. Sie fragen mich, ob er in der ein oder anderen Frage weiter ging als die Marxisten? Ich würde antworten, dass es von dem Marxisten abhängt, an den Sie denken. Viele der Themen, mit denen er sich eingehend befasste, wurden von Marx in gewissem Umfang bereits angesprochen, wie etwa die Analyse des Warenfetischismus oder die Kritik an der ökonomischen Sophistik. Polanyi kritisierte die klassische politische Ökonomie, insbesondere Malthus und Ricardo, und gab eine detaillierte Erklärung der Krise, die zwischen den beiden Weltkriegen ausbrach. Ich will damit nicht sagen, dass seine Analyse reicher oder fortschrittlicher ist als beispielsweise die von Gramsci. Aber Polanyis Vermögen, die Veranlagung des internationalen Systems zur Krise, die Entwicklung der Weltwirtschaft und des Nationalismus und das, was er den Kampf zwischen Demokratie und Kapitalismus nennt, in einer einzigen Betrachtungsweise zusammenzufassen, ergibt eine originelle Sichtweise auf den Zusammenbruch der liberalen Gesellschaften während der Zwischenkriegszeit. Führt «The Great Transformation» eine Forschungsagenda ein, die über den Marxismus hinausgeht? Das glaube ich nicht. Erweitert dieses Buch unser Verständnis der klassischen politischen Ökonomie des 20. Jahrhunderts und der internationalen politischen Ökonomie? Ja, ganz sicher.
In seiner Analyse betrachtet Polanyi den Schaden, den der Markt der Gesellschaft in unterschiedlichsten Bereichen zufügt, und die verschiedenen Gegenreaktionen, die dies auslöst. Können wir sagen, dass nach Polanyi das Potential für Widerstand größer ist als in den Analysen des Marxismus? Marktgesellschaftliche Krisen betreffen weit mehr Menschen als nur die Arbeiterklasse.
Gareth Dale: Die Vorstellung, dass für Marx das Konzept des Veränderungsakteurs auf diejenigen beschränkt ist, die in der Produktion arbeiten, ist ein Missverständnis. Es wird oft gesagt, dass Marx sich auf die Produktion konzentrierte, während Polanyi sich auf das durch den Markt verursachte Leid wie Entfremdung, Arbeitslosigkeit und Preisschwankungen konzentrierte und damit auf das Leid, das jeden treffen kann, einschließlich der Kapitalisten und Grundbesitzer. Das ist in der Tat Polanyis Hauptinteresse. Wenn wir das verstehen, können wir seine Unterstützung für die Volksfront in den 1930er Jahren besser verstehen, eine Zeit, in der er der kommunistischen Bewegung sehr nahestand.
Polanyi zufolge erzeugt das Marktsystem verschiedene Formen des Leidens in allen sozialen Klassen. Alle, auch Kapitalisten und Grundbesitzer, sind vom Markt betroffen. Deshalb ist der Akteur des Wandels in der gesamten Gesellschaft zu finden. Mit diesem Argument unterstreicht Polanyi einen Fetischismus der Gesellschaft: ein Verständnis von Dingen, die in Marktprodukten versteckt sind, und hinter denen die sozialen Bedingungen verschwinden. Er unterschätzt die Bedeutung von Klassenwidersprüchen. In seiner Argumentation über Koalitionen sozialer Kräfte vernachlässigt er die krassen Widersprüche, die zwischen diesen Kräften bestehen; letztendlich könnten diese Widersprüche den Widerstand auch unterminieren.
Aber ich plädiere hier nicht für eine Rückkehr zum Marxismus, der die Industriearbeiterklasse als Speerspitze des fortschreitenden Wandels betrachtet. Das war nie Marx' Ansatz oder der der bekanntesten Marxisten. Die Bildung von Koalitionen sozialer Kräfte ist unerlässlich. Die heutige kapitalistische Gesellschaft erlebt alle Arten von Unterdrückung. Die Verknüpfung der Bewegungen und Interessen ausgebeuteter und unterdrückter Gruppen ist von grundlegender Bedeutung für jede revolutionäre Politik.
Polanyi hatte dennoch sehr enge Beziehungen zu einigen berühmten Marxisten seiner Zeit?
Gareth Dale: Polanyi ist in Budapest aufgewachsen. Er hatte gute Beziehungen zu Georg Lukács, dem berühmten ungarischen marxistischen Philosophen. Freunde der Kindheit, blieben sie es bis zum Ende ihres Lebens, wenn auch nur sporadisch. Es war um 1917, als ihre Meinungsverschiedenheiten am ausgeprägtesten waren. Lukács wurde ein revolutionärer Marxist. Polanyi seinerseits, obwohl er während des kurzen Bestehens der Räterepublik Ungarn 1919 ein wenig mit dieser Perspektive geflirtet hat, hat nie den Schritt getan, den Lukács getan hat. Auf der philosophischen Ebene wurde Polanyi wie Lukács stark von Marx' Theorie des Warenfetischismus beeinflusst. Nach dieser Theorie werden die Beziehungen zwischen den Menschen im Kapitalismus in Beziehungen zwischen den Dingen umgewandelt. Diese Dinge, nämlich Geld, Güter und Kapital, entwickeln dann ihre eigene Dynamik und übernehmen die Menschen.
In den 1920er Jahren wird sich Polanyi jedoch in vielen Bereichen dem Marxismus feindlich gesinnt zeigen, vor allem in seiner bolschewistischen Form. Später wird er sich dem Marxismus in seiner austromarxistischen Variante nähern. Auch zeigte er lange Zeit große Sympathie für die Arbeit von Eduard Bernstein. In den 1930er Jahren dann verteidigte er die Sowjetunion.
Die ethischen Anliegen der Austromarxisten und die Bedeutung, die diese der Bildung der Arbeiterklasse beimaßen, haben ihn besonders angezogen. Dass die Austromarxisten Ferdinand Tönnies' Werk bewunderten, das auch von Polanyi sehr geschätzt wurde, spielte sicherlich auch eine Rolle. Tönnies war ein deutscher Soziologe, für den es einen Unterschied gab zwischen «Gesellschaft» und dem dazugehörigen Modell der entpersönlichten, kalten und formalen sozialen Beziehungen (insbesondere unter der Dominanz des Marktes) und «Gemeinschaft», wo die sozialen Beziehungen viel stärker und persönlicher waren. Laut Polanyi hätte der Sozialismus erst wieder echte Gemeinschaftsbeziehungen zwischen den Menschen herstellen müssen. Dies erklärt auch seine Sympathie für den Gildensozialismus, oder Sozialismus der Zünfte, der sich für die Selbstverwaltung durch Arbeiterzünfte, Verbraucherorganisationen und andere gemeinschaftliche Organisationen einsetzte.
Polanyi wurde vor allem durch die Erfahrung des «roten Wien» geprägt. Zwischen 1918 und 1934 wurde die österreichische Hauptstadt von einer Mehrheit der sozialdemokratischen Partei mit starkem marxistischen Einfluss regiert. Polanyi war besonders beeindruckt von der kulturellen Erhebung, dem Selbstbewusstsein, der öffentlichen Sichtbarkeit der Arbeiterklasse in Wien und den konkreten Veränderungen im Alltagsleben. Damals blühten viele Kulturvereine auf, es entstanden Bildungsprogramme, Bibliotheken und Kindergärten. «Sein, aber nicht haben» fasst Polanyi diese konkrete Erfahrung des gemeinsamen Sozialismus zusammen.
In der Biographie erwähnen Sie Polanyis jüdische Herkunft. Er interessierte sich jedoch sehr für christliche Werte und ging sogar so weit, eine Art christlichen Sozialismus zu verteidigen. Wie erklären Sie das?
Gareth Dale: Polanyi war nie ein praktizierender Jude, er war eher ein Jude der Herkunft. Er war aus dem jüdischen Kleinbürgertum, stark vertreten unter den freien Berufen, aber auch unterdrückt. Juden aus seinem Milieu fühlten sich von der nationalen Gemeinschaft nicht akzeptiert. Polanyi identifizierte sich dennoch sehr stark mit der ungarischen Nation. Die Suche nach einem ausgeprägteren Gemeinschaftsgefühl war sein ganzes Leben lang eine große Motivation. Zum Teil erlebte er es in der kosmopolitischen Gemeinschaft der linken Intellektuellen und Aktivisten, zum Teil aber auch abstrakter im Christentum. Er entlehnt dem Christentum die Vorstellung, dass ein religiöses System eine Gemeinschaft der Gläubigen nachhaltig stimulieren kann. Er hoffte, diesen moralischen Gemeinschaftsgeist mit der sozialistischen Bewegung zu verbinden. Er glaubte, dass diese Vereinigung zu einer totalen und radikalen Veränderung der Gesellschaft führen würde.
Seine Vorstellung vom Sozialismus scheint daher auf moralischen Werten und Gemeinschaftsgeist zu beruhen. Haben seine Ideen irgendeine Relevanz für die Reflexion über den Sozialismus heute?
Gareth Dale: Seine Ideen finden in den aktuellen Debatten eine gewisse Resonanz. Einer der Gründe für Polanyis Popularität ist das heutzutage weit verbreitete Gefühl, dass mit dem globalen System etwas Grundsätzliches nicht stimmt. Aber gleichzeitig leben wir nicht in einer Zeit großer sozialer Bewegungen, wie dies in den 1960er und 1970er Jahren der Fall war. Damals hatten wir kollektive und sichtbare Akteure, die der Gesellschaft eine radikal andere Orientierung zu geben schienen. Die Situation ist heute anders, und obwohl die Kritik am System weit verbreitet ist, ist die Form des gemeinschaftlichen Handelns relativ schwach. In einem solchen Kontext kann eine allgemeine Moralkritik des Systems, wie die von Polanyi, die ethische Werte und die Bedeutung von Genossenschaften betont, leicht ihren Weg finden.
Obwohl Gareth Dale sich selbst eher als Marxist denn als Anhänger Polanyis bezeichnet, ist er zu einem der bedeutendsten zeitgenössischen Spezialisten Karl Polanyis geworden. In den letzten zehn Jahren widmete er sich der Erforschung des Lebens und Schaffens des ungarischen Ökonomen. - Das Interview erschien zuerst auf ▸lavamedia.be. Wir danken für die Genehmigung zur Ãœbersetzung und Zweitveröffentlichung. Ãœbersetzung: Martin Ahrens.
Matthias Lievens ist Lehrbeauftragter an der Katholischen Universität Leuven in Belgien.