Gekaperte Staaten von Europa. Wie Regierungen Lobbyismus für Konzerne betreiben
7. Februar 2019 | Patrick Schreiner
In Brüssel ihre Interessen durchzusetzen, wird für Konzerne immer bedeutsamer. Dabei bekommen sie oft und gerne Unterstützung durch die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Das zeigt die lobby-kritische Brüsseler Organisation CEO in einem neuen Bericht.
Die Europäische Union trifft Entscheidungen, die den Alltag der Menschen in Europa, aber auch das Handeln und die Profitmöglichkeiten von Unternehmen in zunehmendem Ausmaß prägen. Die Chancen, auf diese Entscheidungen Einfluss zu nehmen, sind gleichwohl extrem ungleich verteilt. So haben Konzernlobbys (wie etwa der »European Round Table of Industrialists«) einen sehr viel unmittelbareren Zugang zu den EU-Institutionen. Doch nicht nur das: Wie CEO in einem aktuellen Bericht zeigt, sind auch Regierungen der EU-Mitgliedstaaten gerne bereit, in Brüssel im Sinne des jeweils nationalen Kapitals Einfluss auszuüben. Der Zugang zu nationalen Politikerinnen und Beamten, den die Konzerne haben, geht dabei weit über den Zugang von Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften hinaus. Ein Beispiel: Die Mitarbeiterinnen der Ständigen Vertretung der Niederlande führten zwischen Juni 2017 und 2018 über 500 Lobby-Gespräche, wovon 73 Prozent auf Konzerne und nur 15 Prozent auf Nichtregierungsorganisationen oder Gewerkschaften entfielen.
Die Regierungen sind dabei nicht die einzigen, die in diesem Sinne negativ auffallen. Vielmehr zeigen sich auch EU-Kommissare regelmäßig bereit, als Lobby für die Konzerne aus dem jeweiligen Herkunftsland zu handeln. Der Bericht führt neben etwa der dänischen Wettbewerbskommissarin Margarethe Vestager und dem früheren britischen Finanzkommissar Jonathan Hill auch ausdrücklich den Deutschen Günther Oettinger als besonders negatives Beispiel an. Er war zunächst Kommissar für Energie, dann für Digitalisierung, seit 2017 ist er Kommissar für Haushalt und Personal. Von den zehn Lobbyisten, die Oettinger zwischen Dezember 2014 und Juni 2018 am häufigsten traf, arbeiteten fünf für die deutsche Industrie.
Dank ihres Einflusses auf Regierungen und EU-Kommissare konnten die Unternehmen und ihre Verbände zahlreiche Themen setzen und Beschlüsse ihn ihrem Sinne herbeiführen. CEO nennt als eines von mehreren Beispielen die umstrittenen Sonderklagerechte (ISDS) in internationalen Freihandelsverträgen. Diese ermöglichen es den Konzernen, Staaten zu verklagen, wenn Regierungen unliebsame Gesetze beschließen. Schon alleine die Möglichkeit, auf Schadenersatz in Milliardenhöhe verklagt zu werden, dürfte disziplinierend im Sinne der Konzerne wirken. Trotz massiver Proteste der Zivilgesellschaft halten die EU-Staaten ebenso an diesen fragwürdigen Sonderklagerechten fest wie die EU-Kommission und die Mehrheit des Europäischen Parlaments. Die konzernfreundlichen Vorstellungen der Regierungen gehen dabei sogar immer wieder sogar über das hinaus, was die EU-Kommission in den Verhandlungen mit anderen Staaten anstrebt:
Wann immer die EU in den letzten Jahren im Rahmen großer Freihandelsabkommen Schiedsgerichtsverfahren (ISDS) ausgehandelt hat, haben sich Spanien und andere EU-Mitgliedstaaten sogar für noch unternehmensfreundlichere Bestimmungen eingesetzt als die Kommission und ihre Handelspartner selbst. So kritisierten Deutschland und Spanien bei den Verhandlungen über das EU-Kanada-Abkommen CETA das Schutzniveau für Investoren als »zu niedrig«. Besonders unzufrieden waren sie darüber, dass Kanada versucht hatte, die Bankenregulierung teilweise zu schützen, indem es ISDS im Finanzsektor einschränkte.
Die Bundesregierung und ihre nachgeordneten Institutionen wirken auch jenseits der Handelspolitik regelmäßig im Sinne der deutschen Konzerne. Zwei Beispiele stechen besonders hervor: die Zulassung des Herbizid-Inhaltsstoffs Glyphosat und der Diesel-Skandal. An der Wiederzulassung von Glyphosat war das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung führend beteiligt, da es die Unbedenklichkeit des Stoffs bescheinigen sollte. Das tat es mehrfach - indem es, so CEO, ganze Abschnitte aus branchenfinanzierten Studien Wort für Wort in die eigene Glyphosat-Beurteilung übernahm. Im Zuge des Diesel-Skandals setzten sich die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens im Sinne der Autokonzerne dafür ein, die zunächst vorgesehenen Abgas-Grenzwerte bei den neuen, realitätsnäheren Abgastests zu senken.
Nicht selten spielen die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten bei alldem ein doppeltes Spiel. Denn während sie sich einerseits in Brüssel für Konzerninteressen einsetzen, werfen sie der Europäischen Union gerne vor, eben diese Konzerninteressen zu bedienen. CEO schreibt:
Fernab des Rampenlichts treffen die Mitgliedstaaten jedes Jahr tausende Entscheidungen zu EU-Themen. Die Staaten spielen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung, Verhandlung und Verabschiedung von Gesetzen zu zahlreichen Themen wie der Regulierung von Lebensmitteln, Chemikalien, Internet-Datenschutz, Umweltverschmutzung, Steuern und vielem mehr. Darüber hinaus koordinieren sie die Politikgestaltung in Angelegenheiten wie Außenpolitik, Sicherheit und Wirtschaft. Einen Großteil dieser Entscheidungen fällen sie außerhalb der Öffentlichkeit. Das ermöglicht es wiederum den nationalen Regierungen und einer wachsenden Zahl von populistischen Rechtsaußen-Parteien, anonyme EU-Institutionen für eine Politik verantwortlich zu machen, die sie selbst unterstützt hatten oder für die sie selbst eine Mitverantwortung tragen, wie etwa die Glyphosat-Zulassung.
Der CEO-Bericht »Captured states: When EU governments are a channel for corporate interests«, der in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Verband der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, mit attac Österreich und mit LobbyControl erstellt wurde, liegt in einer ▸englischsprachigen Langfassung sowie einer ▸deutschsprachigen Zusammenfassung vor.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.