Gestrandet im Westen - Entsandte Beschäftigte zwischen Elend und Ausbeutung
25. Juli 2012 | Volker Macke
Sie sind jung, ohne Arbeit und leben auf der Straße. Immer mehr Osteueropäer scheitern auf der Suche nach einer Zukunft in deutschen Großstädten. In Hamburg, Berlin, München und auch in Hannover symbolisieren sie tagtäglich die Schattenseiten moderner Leiharbeitsverhältnisse.
Morgens neun Uhr, Hannover, Raschplatz. Etwas abseits von den anderen Wohnungslosen, die sich am Kontaktladen »Mecki« zum ersten Kaffee treffen, stehen sie in Gruppen zusammen, sortieren sich in den Nischen des Raschplatzpavillons selbst nach Sprachen. Russisch, Polnisch, auch Rumänisch ist darunter. Deutsch können die wenigsten der jungen Männer, die schon früh ihr Scheitern in Alkohol zu ertränken versuchen. Als Leiharbeiter oder Arbeitssuchende waren sie nach Deutschland gekommen. Der Job ist zuende oder nie gefunden worden, die Hoffnung auf eine Anschlussbeschäftigung blieb offenbar unerfüllt. Ihre Unkterkunft, den Baucontainer, mussten sie verlassen. Aggression gegen sich und andere macht sich breit.
Seit Mai 2011 gilt für Esten, Letten, Litauer, Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn und Slowenen die so genannte Arbeitnehmerfreizügigkeit, eingeschränkt auch für Rumänen und Bulgaren. Andere von noch weiter im Osten kommen gänzlich illegal ins vermeintliche Job-Paradies Deutschland. Ihre geringen Lohnansprüche sowie die Sprachbarrieren machen diese Arbeitsmigranten zu angesagten Arbeitnehmern am Bau, in der Gebäudereinigung und in der Gastronomie. Große Leiharbeitsunternehmen unterhalten in osteuropäischen Ländern entsprechende Dependancen. »Auf Probe« werden die Männer und Frauen, die am heimischen Arbeitsmarkt keine Chance haben, eingestellt. Nach einem Monat harter Maloche in Deutschland gibt es 200 Euro auf die Hand und die Kündigung gleich dazu. »Das Thema brennt im Hilfesystem«, sagt Rolf Jordan, Fachreferent bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Bielefeld (BAG-W). Die Dachorganisation der großen Hilfeeinrichtungen und Beratungsstellen verzeichnet seit einigen Jahren stetig steigende Zahlen von Menschen osteuropäischer Herkunft in den ambulanten Obdachloseneinrichtungen wie Kleiderkammern, Essensausgaben und Tagestreffpunkten. »In den Winternotprogrammen der großen Städte haben wir mittlerweile Anteile von 50 bis 70 Prozent.« Im gesamten Wohnungslosenhilfesystem machten 2008 Männer aus Osteuropa 15 Prozent aus, 2010 waren es schon 20 Prozent. Bei den Frauen stieg der Anteil von 21 auf 27 Prozent.
Der steile Antieg ist noch bedeutsamer, wenn man bedenkt, dass die meisten stationären Einrichtungen für Osteuropäer verschlossen bleiben. Während die Notfallversorgung keinen Unterschied bezüglich der Herkunft ihrer Klientel machen kann, fallen die modernen Arbeitsnomaden durchs Netz der stationären Hilfe wie Wohnheime hindurch. Denn meist fehlen Möglichkeiten zur Kostenübernahme: Ein Anspruch auf Hartz IV oder Sozialgeld besteht frühestens nach drei Monaten und auch nur dann, wenn die Antragsteller zuvor bereits in Deutschland gearbeitet haben und sich nicht nur zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten. »Das deutsche Sozialrecht ist hier sehr uneindeutig, auch unter Fachleuten ist unklar, welche Anspruchsgrundlagen im Zweifel anwendbar sind«, kritisiert Jordan.
Schwierige Versorgung
Ganz zu schweigen davon, dass die jungen Gestrandeten von ihren ohnehin wenigen Rechten schonmal gar nichts wissen und mangels Sprachkenntnissen auch kaum in Erfahrung bringen können. »In der Theorie kann man natürlich einen Dolmetscher beantragen, wenn man mit einem der Osteuropäer zu tun hat«, sagt Petra Tengler, Geschäftsführerin der hannoverschen Selbsthilfe Wohnungsloser (Sewo), die unter anderem den Tagestreffpunkt Nordbahnhof unterhält, der täglich rund 120 Obdachlose versorgt. »Aber in der Praxis funktioniert das nicht. Die kommen hier schon sturzbetrunken an. Bleiben kurz und sind dann wieder weg. Da können wir froh sein, dass unsere Küchenhilfe gelegentlich ins Russische übersetzen kann.«
Schlechte Zähne, offene Wunden, Organbeschwerden: Nicht wenige der jungen Obdachlosen seien in einem erbarmungswürdigen gesundheitlichen Zustand, wenn sie den Weg in den Tagestreff finden, so Tengler. Das weiß man auch bei der Straßenambulanz der Caritas. Machten Zuwanderer 2010 noch acht Prozent aller Behandlungsfälle der ehrenamtlichen Ärzte aus, waren es im Jahr 2011 bereits rund 16 Prozent. Das hat das Zentrum für Qualität im Gesundheitswesen der Ärztekammer Niedersachsen aus den Falldokumentationen der Straßenambulanz errechnet. »Das sind vor allem Menschen aus dem Gebiet der GUS-Staaten und aus dem Baltikum«, meint Ursula Lange, Leitende Ärztin der Straßenambulanz.
Mensch ist Mensch. Und doch ist die Versorgung der Gestrandeten – ganz unabhängig von der noch offenen Frage der Gegenfinanzierung – weit schwieriger als die des durchschnittlichen deutschen Wohnungslosen: »Wir haben es da mit ganz unterschiedlichen Problemursachen zu tun«, sagt Jordan von der BAG-W. Die hier Obdachlosen aus Osteuropa wurden nicht durch familiäre Schicksalsschläge oder eigenes Suchtverhalten aus der Bahn geworfen. »Ursächlich ist eher die Armutsproblematik in den Herkunftsländern und die arbeits- und aufenthaltsrechtliche Situation in Deutschland«, so Jordan.
Minister ohne Zahlen
Zwar gibt es Mindestlöhne in der Abfallwirtschaft und im Baugewerbe, auch in der Gebäudereinigung und bei der Wäschereidienstleistung gibt es eine Lohnuntergrenze. Und die Wochenarbeitszeit ist – zumindest nur mit Ausnahmen – auf maximal 48 Stunden begrenzt. Doch wer kontrolliert das alles? Nur Stichproben sind möglich. Ein beispielhaftes Ergebnis: Auf knapp jeder fünften von der »Soko Bau« der Stadt Hamburg besuchten Baustelle gibt es arbeitsrechtliche Unregelmäßigkeiten.
Und wer sagt es den Gestrandeten? »Für diese wachsende Armutsklientel brauchen wir ganz neue Vernetzung«, sagt Jordan. In Hamburg wurde zu diesem Zweck eine Beratungsstelle für EU-Ausländer im dortigen Winternotprogramm für Wohnungslose eingerichtet. Sie klärt auf über Ansprüche auf Sozialgeld oder ALG-II und über medizinische Hilfe. Zudem kümmert sich die Beratungsstelle Migration und Arbeit (MigrAr) im Gewerkschafts-Center im Besenbinderhof speziell um die arbeitsrechtlichen Belange der modernen Arbeitsnomaden. Das scheint dringend nötig. »Geschichten aus der Welt der Minijobber, Leiharbeiter und Tagelöhner lesen sich wie ein Wirtschaftskrimi«, sagt Hamburgs Verdi-Chef Wolfgang Rose.
Eine entsprechende Initiative des DGB, auch in Niedersachsen derartige Beratungen mit Mitteln des Landes einzurichten, ist bislang am Widerstand des Wirtschaftsministeriums gescheitert. In der jüngsten Plenarwoche des Landtags hat Wirtschaftsminister Jörg Bode anlässlich einer Anfrage der SPD-Fraktion nach Unterstützung von Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland oder auch illegal Beschäftigten noch einmal betont, er sehe keinen Grund, neben den Überwachungsbehörden wie Zoll oder Rentenversicherer Beratungs- und Hilfeeinrichtungen mit aufzubauen, und verweist schlicht: »Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer kann seine Ansprüche auf gesetzeskonforme Entlohnung und Arbeitsbedingungen vor dem zuständigen deutschen Arbeitsgericht einklagen.« Und verlässt sich offenbar darauf, dass keine Zahlen gute Zahlen sind. Wie häufig kommen Leiharbeiter aus Osteuropa und illegal Beschäftigte in der Gastronomie, auf dem Bau, in der Reinigungsbranche unter? Für wie lange im Durchschnitt? Was wird da gezahlt und was müsste eigentlich gezahlt werden? Wie werden Sie angeworben? Und wo wohnen sie? Weder die Bundesagentur für Arbeit noch der Zoll oder die Deutsche Rentenversicherung erheben umfassend Daten zu den Fragen. Auch wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema gibt es kaum.
Um endlich grundlegende Hinweise auf die Schattenseiten der Leiharbeitsgeschäfte mit Zuwanderern zu bekommen, brauche man dringend die Beratungsstellen, so der DGB. »Wir brauchen eine Willkommenskultur, eine Gesellschaft, die die Würde aller Menschen achtet. Auch die der Menschen, die im Rahmen grenzüberschreitender Leiharbeit in Deutschland arbeiten oder die von Unternehmen nach Deutschland entsendet werden«, fordert Niedersachsens DGB-Chef Hartmut Tölle.
Der Artikel erschien zuerst in der sozialen Straßenzeitung Asphalt. Ich danke für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung. Dieser Artikel ist von der für meinen Blog üblichen CC-Lizenzierung ausgeschlossen; Kopieren und Weiterverbreiten ist nicht zulässig.
Volker Macke schreibt für die soziale Straßenzeitung "Asphalt Magazin".