Globalisierung und technologischer Wandel führen nicht einfach so zu sinkenden Löhnen und sozialer Ungleichheit
27. September 2018 | Patrick Schreiner
Politik neigt dazu, sich aus der Verantwortung für sinkende Löhne, Prekarisierung und wachsende soziale Ungleichheit zu stehlen. »Technologischen Wandel« und »Globalisierung« führt sie dann als Ursachen an, gegen die man leider nichts machen könne. Eine Studie zeigt: Das ist falsch.
Was ist die Ursache für die wachsende soziale Ungleichheit in vielen Industriestaaten (wie auch Deutschland): falsche politische Rahmensetzungen oder unkontrollierbare Entwicklungen wie etwa Globalisierung und technologischer Wandel? Eine gängige Argumentation lautet: Technologischer Wandel und Globalisierung veränderten die Anforderungen an Arbeitskräfte so, dass die Verhandlungsmacht von Gering- und Mittelqualifizierten sinke. Ihre Kompetenzen würden leichter (durch Maschinen oder andere Menschen im In- oder Ausland) ersetzbar und weniger nachgefragt. Dies stärke die Position des Kapitals und einiger Hochqualifizierter, wodurch es zu sinkenden Löhnen für die meisten Beschäftigten, zu wachsender sozialer Ungleichheit und zu sozialer Unsicherheit komme. Politik könne dagegen nichts tun. Dies ist eine Argumentation, die politischen Entscheidungsträgerinnen und –trägern der letzten Jahrzehnte entgegenkommen dürfte, spricht sie sie doch von Verantwortung frei.
Tatsächlich sinkt seit Jahrzehnten die Lohnquote – dieser statistische Wert beziffert den Anteil der Einkommen einer Volkswirtschaft, der auf Arbeit entfällt (wodurch spiegelbildlich der Anteil wächst, den das Kapital einheimst.) Die Lohnquote ist damit ein Maßstab für soziale Ungleichheit, genauer für die Verteilung der Einkommen zwischen Arbeit und Kapital. Nachfolgende Abbildungen zeigen die Entwicklung der Lohnquote in Deutschland seit den 1970er Jahren – mit eindeutiger negativer Tendenz zu Ungunsten der Arbeit bzw. zu Gunsten des Kapitals:
Eine Studie, ▸erschienen ausgerechnet beim neoliberalen Münchener ifo-Institut, hat nun unter Rückgriff auf umfangreiche Daten aus mehreren Ländern untersucht, ob die sinkende Lohnquote tatsächlich auf (kaum beeinflussbare) technologische Entwicklungen und Globalisierungsprozesse zurückzuführen ist. Die Stärke der Studie liegt darin, dass sie Auswirkungen von Globalisierung und technologischem Wandel nicht einfach für alle Länder als identisch behauptet. Sie untersucht vielmehr, in welchem Maße und in welcher Weise sich diese Auswirkungen je nach politischen und institutionellen Gegebenheiten in (hier sechs) verschiedenen Ländern unterscheiden. Dabei differenziert sie nach verschiedenen Branchen und Arbeitsmarktbereichen. Und sie fragt insbesondere, welche Rolle Arbeitsmarktinstitutionen – wie etwa Arbeitslosenversicherungen, Gewerkschaften und Tarifaushandlungssysteme – sowie deren je spezifische Ausprägung dabei spielen.
Das Ergebnis ist eindeutig: Die Behauptung einer mangelnden politischen Handlungsfähigkeit ist nicht haltbar.
Insgesamt deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass der Rückgang der Lohnquote keine unausweichliche Folge des technologischen Wandels und der Globalisierung ist.
Um das Problem wachsender sozialer Ungleichheit und Unsicherheit in den Griff zu bekommen, so die Studie, genüge es nicht, auf »mehr Bildung und Qualifizierung« zu setzen (wie es häufig von denen ▸vorgeschlagen wird, die eine echte Umverteilung verhindern wollen). Vielmehr müsse man die Verhandlungsmacht der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern politisch stärken:
Ein Versuch, die Einkommensungleichheit alleine durch Qualifizierungsmaßnahmen zu verringern, reicht nicht aus. Um den Rückgang der Lohnquote umzukehren, bedarf es vielmehr eines institutionellen Rahmens, der die Verhandlungsmacht der Arbeit stärker mit der Verhandlungsmacht des Kapitals in Einklang bringt. Unsere Ergebnisse deuten an, dass es möglicherweise nicht ausreicht, den gewerkschaftlichen Organisationsgrad zu erhöhen, um solche gleichen Ausgangsbedingungen zu erreichen. Vielmehr bedarf es eines Policy-Mixes, der darauf abzielt, die institutionelle Macht der Gewerkschaften durch eine höhere Tarifdeckung sowie möglicherweise durch eine bessere Tarifkoordination zu stärken und die strukturelle Macht der Arbeit durch die Verbesserung der Sicherungsnetze der Arbeitnehmer zu erhöhen.
Ursächlich entscheidend für sinkende Löhne und wachsende soziale Ungleichheit ist also ein Rückgang der Verhandlungsmacht der Arbeit gegenüber ▸der des Kapitals. Eine solche Verhandlungsmacht ist aber nicht einfach gegeben (oder eben nicht gegeben), sondern sie kann politisch beeinflusst werden. Und sie wurde in den letzten Jahrzehnten durchaus ▸politisch beeinflusst (nämlich gesenkt). Eine bewusste Schwächung der Gewerkschaften spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle.
Die hier vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen – ein höherer Tarifdeckungsgrad, eine bessere Tarifkoordination und ein besseres soziales Sicherungsnetz – sind daher politische Aufgaben. Sie umzusetzen, würde bedeuten, die Politik quasi aller westlicher Regierungen der letzten 30-40 Jahre komplett umzukehren. Man wird sehen, wie groß die Bereitschaft dazu sein wird. Möglicherweise ist es einfacher, weiter das Lied von der Globalisierung und vom technologischen Wandel zu singen, deren Auswirkungen man nicht beeinflussen könne.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.