Gute Mobilität geht anders - Lebenswerte Städte sozial-ökologisch gestalten
12. März 2018 | Uwe Wötzel
Noch ist das Auto in Deutschland das beliebteste Fortbewegungsmittel. Doch mit dem Wandel des Leitbildes von einer autogerechten zur lebenswerten Stadt wächst die Bereitschaft zum Wechsel auf andere Verkehrsmittel. Der PKW verliert an Ansehen insbesondere in der Gunst junger Menschen. Fahrräder, auch mit Elektroantrieb sowie Carsharing gewinnen in verschiedenen Milieus wachsenden Zuspruch. Wo geht die Reise hin? Wie wird nachhaltige Mobilität mit Umweltfreundlichkeit, Erschwinglichkeit, Barrierefreiheit, Kinderfreundlichkeit durchgesetzt, verbunden mit guten Bedingungen für alle Beschäftigten und Fahrgäste?
Hohe Bedeutung von Mobilität
Wer allein in Apps, in technischen Konzepten, in neuen Antriebstechniken oder IT-gestützten Mobilitätsdienstleistungen die Antworten erwartet, der übersieht wichtige Faktoren. Heute ist der Wohnstandort der Ausgangspunkt der Mobilität. Die räumlichen Strukturen sind der entscheidende Faktor für den Bedarf an Mobilität und Verkehrsmitteln. Mobilität, die Möglichkeit zur räumlichen Beweglichkeit, ist unverzichtbar zur Erfüllung von menschlichen Bedürfnissen und eine Voraussetzung für die soziale, ökonomische, kulturelle und politische Teilhabe der Menschen am gesellschaftlichen Leben. Mobilität sichert die Wege zur Familie, zur Arbeit, zu Freunden, zur Bildung, zu Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten, zum Arzt, zu Kulturveranstaltungen und in den Urlaub. Mobilitätsanforderungen sind vielfältig.
Mobilität steht für einen Verkehrsbedarf, der als Folge sozialer Aktivitäten wie Wohnen, Arbeiten, Bilden, Erholen von Menschen und der Produktion, dem Handel und dem Konsum von Waren und Dienstleistungen und ihrer räumlichen Trennung entsteht. Diese Trennung nimmt aufgrund der gewachsenen Arbeitsteilung und der räumlichen Ausbreitung von Städten bei gleichzeitigem Abbau ländlicher Strukturen immer weiter zu.
Mit dem Wachstum der Städte wuchs der Verkehr und mit dem Wachstum des Verkehrs wuchsen die Städte. Heute macht die Stadtluft der autogerechten Städte Menschen krank. Schadstoffe aus Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren schädigen die Gesundheit, die Zahl der Todesopfer durch verkehrsbedingte Luftverschmutzung übersteigt inzwischen die Zahl der Unfalltoten in Deutschland. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass die durch fossile Energieträger geprägte Mobilität der Industrie – sowohl der hochentwickelten Industriestaaten als auch der Schwellenländer - mit ihrem Maß an Ressourcenverbrauch die ökologische Tragfähigkeit unserer Erde um ein Vielfaches übersteigt. Immens ist auch die Bindung von Infrastrukturkosten, öffentlichen und privaten Haushaltsmitteln für den motorisierten Straßenverkehr. Wenn ein Pkw 94 Prozent seiner theoretisch nutzbaren Zeit auf kostbarem öffentlichem Grund herumsteht, ist der Mitteleinsatz zudem auch unwirtschaftlich. Trotzdem haben der Besitz und Gebrauch des privaten PKWs nach wie vor hohe Attraktivität gegenüber dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Selbst der tägliche Stau auf den Arbeitswegen und Stellplatzgebühren am Arbeitsort schrecken Auto fahrende Pendler nicht ab.
Mobilität und Ökonomie
Mobilität und Verkehr haben eine bedeutende wertschöpfungs- und beschäftigungssichernde Wirkung. In der Praxis hat der motorisierte Individualverkehr mit dem PKW einen dominierenden Platz mit über 80 Prozent der Personenkilometerleistung. Während zwischen 1950 und heute das Autobahnnetz vervierfacht wurde, schrumpfte das Bahnnetz um ein Drittel. Die gesellschaftlichen Subventionen für den Autoverkehr wuchsen auf 60 Milliarden Euro pro Jahr. Neben den Subventionen trägt die Allgemeinheit auch die externen Verkehrskosten wie Staukosten, Unfallfolgekosten, Gesundheitskosten, Klimakosten, Lärmkosten, Schadstoffkosten; insgesamt nahezu 80 Milliarden Euro pro Jahr. Kein anderes Verkehrsmittel profitiert von so massiver Förderung wie das Auto. Von der Dominanz des motorisierten Individualverkehrs profitieren Finanzdienstleister ebenso wie Automobil und Treibstoff produzierende Unternehmen. Sie verfolgen massiv die Expansion und die Stabilisierung ihrer Rohstoff- und Absatzmärkte. Die Sicherung der stofflichen Basis ihrer Unternehmen wirkt massiv und einflussreich auf die transnationale Handels- sowie Außen- und Sicherheitspolitik der EU und ihrer führenden Mitgliedsstaaten. Die militärische Sicherung der Rohstoff- und Energiezufuhr wird vom Bundesverteidigungsministerium als wichtige Aufgabe identifiziert. Opfer- und Flüchtlingszahlen aus vielen Konfliktregionen stehen im Zusammenhang mit der Eskalation um den Zugang zu knapper werdenden Ressourcen.
Im Zeitalter der auf Marktexpansion gerichteten Globalisierung gibt die Europäische Union den so genannten Grundfreiheiten Vorrang: Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit. Dieser Rahmen bestimmt auch die von ihr bevorzugten Aspekte der Mobilität. Die mit der Mobilität verbundenen Produktions- und Dienstleistungsunternehmen sind selbst zu den ökonomisch bedeutendsten Wirtschaftssektoren der kapitalistischen Wirtschaftsordnung geworden und beherrschen als mächtige transnationale Konzerne die globale Ökonomie. Sie sind nach wie vor Hauptanlageobjekte von Investoren. Diese Unternehmen haben einen bestimmenden Einfluss auf die weltmarktorientierte Infrastruktur-, auf die Handels- und Investitionspolitik der EU. Doch mit der weiteren Digitalisierung und Automatisierung verschieben sich die Gewichte der Akteure. Am Beispiel der laufenden Verhandlungen über TiSA, das Abkommen über die Liberalisierung von Dienstleistungen, wird dies deutlich. »Die Cheerleader der Unternehmen, genannt Team TiSA, werden von Technologiegiganten wie Microsoft, IBM und Google, globalen Logistik- und Transportunternehmen wie DHL, Fedex und UPS sowie Finanzmogulen wie Citigroup und AIG dominiert. Sie haben privilegierten Zugang zu den Verhandlungsführern«, erläutert die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) und warnt vor negativen Auswirkungen für die Beschäftigten und die Allgemeinheit.
Mobilität im Kontext der Raumplanung
Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung und Verkehrsverbesserung werden schon seit Jahrzehnten als Prinzipien von nachhaltiger Stadtplanung anerkannt. Doch nur in wenigen Städten und Regionen wird diese Strategie, wie zum Beispiel in Amsterdam erfolgreich umgesetzt. In Deutschland haben sich viele Regionen eher vom Ziel entfernt. So wuchs von 2000 bis 2015 die Zahl der Beschäftigten, die zur Arbeit in eine andere Gemeinde pendeln von 53 auf 60 Prozent. Geleichzeitig stieg die durchschnittliche Pendelentfernung von durchschnittlich 14,6 Kilometern im Jahr auf 16,8 Kilometer. Die sehr unterschiedliche Qualität von lokalen Angeboten der benötigten Wohn-, Lern- Kultur- und Arbeitsorte sowie ihre wünschenswerte Kombinierbarkeit beeinflussen wesentlich die notwendigen Wege und die Entscheidung über den Bedarf von Verkehrsmitteln. Mobilitätsanforderungen verändern sich durch oft erzwungene Flexibilitätsanforderungen des Arbeitsmarktes und die bisher ungünstige Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt. Das Ideal der fußläufigen Nähe der lebens- und erwerbswichtigen Orte ist selten verwirklicht. So liegen auch heute Wohnungs- und Arbeitsplatzangebote kaum beieinander. Betriebsverlegungen, Befristungen von Arbeitsverträgen, Veränderungen in Lebensgemeinschaften und Gentrifizierung von Wohngebieten bleiben nicht ohne Folgen für Mobilität.
Verkehrsvermeidung ist das vorrangige Ziel einer ökologischen Raum- und Verkehrsplanung. Nachhaltige Raumplanung muss Verkehrsbedarfe regulieren und den Umstieg auf umweltverträgliche Alternativen zum Auto steuern. Ein leistungsstarker ÖPNV ist für die Sicherung der Mobilität in den Städten unverzichtbar. Dabei gibt es eine gute Qualität von Dienstleistungen im ÖPNV nur mit guten Sozialstandards und Arbeitsplatzsicherheit bei Betreiberwechseln. Bedarfsgerechte Wegenetze und gute Verknüpfungen von ÖPNV, Fuß- und Radverkehr, eine Infrastruktur für Fahrzeug-Sharing und Elektro-Fahrzeuge sind weitere wichtige Planungsthemen.
Zur Reduzierung der verkehrsbedingten Umweltbelastungen in den Städten sind politische und rechtliche Veränderungen der Verkehrsmittelwahlsituation zugunsten umweltfreundlicher Alternativen entscheidend. Kommunen, Mobilitätsdienstleister und Wohnungsunternehmen sollten bei der Lösungssuche alle Verkehrsteilnehmenden intensiv beteiligen und dabei ihre gemeinnützige Selbstorganisation wirksam unterstützen.
Die »Rote-Punkt-Aktion« in Hannover
Gute Initiativen, um Mobilität und Verkehr nach den Bedürfnissen der Menschen umzugestalten, sind nicht neu. Ein bemerkenswertes und frühes Beispiel für die öffentliche Auseinandersetzung mit Mobilitätsfragen war eine starke lokale soziale Bewegung, die erfolgreich gegen sehr starke Fahrpreiserhöhungen des ÖPNV der Stadt Hannover gewirkt hat. Die »Aktion Roter Punkt« machte im Juni 1969 bundesweit Schlagzeilen. Initiiert wurden die Proteste von Aktiven der Außerparlamentarische Opposition, auch unter starker Beteiligung von Gewerkschafter/innen aus vielen Betrieben und Branchen. Mit elftägigen Protestaktionen, Boykott und Blockaden des Straßenbahnbetriebes entwickelten in kürzester Zeit große Teile der Stadtbevölkerung einen Ersatzverkehr und erreichten die Rücknahme der Preiserhöhungen. Nahezu alle privaten PKW-Halter zeigten mit einem gut sichtbaren Roten Punkt die Bereitschaft zur Mitnahme von Fahrgästen und organsierten einen erfolgreichen Ersatzverkehr. Die starke Solidarität in der Protestbewegung und die sehr breite und aktive Unterstützung durch die Bürger/innen der Stadt waren entscheidend für den Erfolg der »Rote Punkt Aktion«. So unterstützten auch Betriebsräte, die Gewerkschaften und einige Parteien die Aktion. Nicht nur die Preiserhöhung wurde zurückgenommen. Der Stadtrat beschloss überdies die Kommunalisierung der Verkehrsbetriebe. Ein regionaler Verkehrsverbund entstand, der die Nahverkehrsangebote in der späteren Region Hannover dauerhaft verbesserte.
Forderungen der Rote Punkt Aktion zur Finanzierung des ÖPNV wirken bis heute in mobilitätspolitische Diskurse. Sie war ein wichtiger bundesweiter Anstoß für die Stärkung des ÖPNV und die bis heute andauernde Debatte um neue Tarif- und Finanzierungssysteme. Die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) veröffentlichte 1972 Materialien zur Nahverkehrskonzeption, forderte »Vorrang dem öffentlichen Personennahverkehr« und formulierte Forderungen nach Preisstopp und attraktiven Niedrigtarifen im ÖPNV sowie öffentlich subventionierte gemeinwirtschaftliche Verkehrsdienstleistungen. Die Debatte um einen Null-Tarif im ÖPNV bekam Unterstützung und wurde später in einigen europäischen Städten Realität. Bologna, Hasselt, Templin, Lübben, Aubagne und viele andere Städte haben mit Abgaben- oder beitragsfinanzierten Ticket-losen ÖPNV-Modellen wichtige positive Erfahrungen gesammelt und bis heute die Suche nach guten Lösungen bereichert. Die Semester- und Job-Tickets bestätigen die erfolgreiche Akzeptanz von attraktiven Tarifmodellen.
Eine beachtliche Neuerung enthält der letzte Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes in Hessen. Rund 45.000 Beschäftigte des Landes bekommen ab 2018 ein kostenloses Jobticket. Es gilt zu jeder Tag- und Nachtzeit für ganz Hessen für den Nah- und Regionalverkehr, mit den üblichen Mitnahmeregeln: Partner fahren ab 19 Uhr sowie am gesamten Wochenende kostenlos mit, Kinder sind immer kostenfrei mit dabei.
Fazit
Individuelle, soziale und ökologische Anforderungen sowie technische Gestaltungsmöglichkeiten von Mobilität verändern sich stark. Der Strukturwandel in der Arbeitswelt, prekäre Erwerbsbiografien, die fortschreitende Digitalisierung von Arbeitsschritten, neue Marktakteure und Plattformen, neue Antriebstechnologien, Marktliberalisierungsdruck, Wohnraummangel und Migration stehen in deutlicher Beziehung zu vielfältigen Aspekten der Mobilität. Deshalb ist die Politik gefordert, soziale und ökologische Standards zum verpflichtenden Bestandteil aller Politikfelder zu machen.
Die Endlichkeit fossiler Antriebsstoffe, Kipppunkte im globalen Klima sowie begrenzte Ressourcen an seltenen Erden der für einen Umstieg auf Elektromobilität benötigten Stoffe erfordern den grundlegenden Umbau der Mobilitätskonzepte und systematische Verkehrsvermeidung. Die Geschichte des fossilen Automobilantriebs nähert sich rasant ihrem Ende. Luftverschmutzung und Lärm in den Städten, Gefahren auf den Straßen und Erreichbarkeitsprobleme in ländlichen und strukturschwachen Räumen stoßen auf Ablehnung. Dieses Verkehrssystem schädigt mit dem Ressourcenverbrauch und den Auswirkungen nicht nur unsere Gesundheit und die sensible Erdatmosphäre, es überfordert die Menschen, ihre Biosphäre sowie die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung nachfolgender Generationen. Die illegalen Manipulationen der Diesel-Abgas-Werte waren ein zutiefst törichter Versuch, die Krise des Automobilismus zu verbergen. Entschädigungsleistungen für Betrugsopfer fehlen für den ökologischen Umbau der Mobilitätssysteme. Die Politik hat ihre Funktion als Rahmensetzer und Kontrolleur nicht im Interesse der Allgemeinheit, sondern für die Profiteure einer veralteten Technologie ausgeübt.
Ein Politikwechsel ist überfällig. Nachhaltige Mobilität muss den begrenzten ökologischen Ressourcen, den Klimaschutzerfordernissen, dem Gesundheitsschutz, dem Wandel der Arbeitswelt, Teilhabebedürfnissen und einem veränderten Freizeit- und Konsumverhalten gerecht werden und zugleich für alle verfügbar und erschwinglich sein.
Dieser Text ist die überarbeitete und stark gekürzte Fassung eines Artikels aus dem ▸»Jahrbuch Gute Arbeit 2018«. Literatur- und Quellenangaben können dort im Detail nachvollzogen werden.
Uwe Wötzel (geboren 1956 in Hannover) ist Jurist und hauptamtlicher Gewerkschafter. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt die Regulierung der Unternehmensverantwortung, er ist Mitbegründer des CorA-Netzwerks für Unternehmensverantwortung.