Im Jahr vor der Mindestlohneinführung war jeder Fünfte zu Niedriglöhnen beschäftigt
13. Dezember 2016 | Markus Krüsemann
Seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist das Thema Niedriglöhne in den Hintergrund getreten, obwohl 8,50 Euro nur für Verschiebungen innerhalb des Niedriglohnsektors sorgen können. 2014 war jeder fünfte Beschäftigte Geringverdiener, und angesichts einer bei zehn Euro angesiedelten Niedriglohnschwelle dürfte das auch 2015 nicht anders gewesen sein - trotz Mindestlohn.
Es ist ruhig geworden um den Niedriglohnsektor in Deutschland. Nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 ist das öffentliche Interesse an seinem Ausmaß, seiner Struktur und seiner Entwicklung abgeflaut, und das, obwohl gerade der Mindestlohn hier gar keine direkte Wirkung entfalten konnte. Bereits 2013 lag die Niedriglohnschwelle schon bei 9,30 Euro. Mit 8,50 Euro hätte es der Mindestlohn also damals schon allenfalls vermocht, die ganz schlecht bezahlten Beschäftigten aus den schlimmsten Hungerlohnzonen rauszuholen. Der Niedriglohnsektor selbst wäre unangetastet geblieben. Doch das war 2013. Wie aber hat sich die Verdienstsituation von Geringverdienenden im Vorjahr der Mindestlohneinführung dargestellt?
Zahlen des IAQ für 2014
Das Institut Arbeit Qualifikation (IAQ), das in den vergangenen Jahren regelmäßig eine Analyse des Niedriglohnsegments vorgenommen hatte, hat in diesem Jahr leider auf eine thematisch umfassende Auswertung von Zahlen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die mittlerweile bis 2014 vorliegen, verzichtet. Einer vom IAQ im Oktober 2016 veröffentlichten Analyse zu den Arbeitsmarktchancen von Geringqualifizierten lässt sich immerhin entnehmen, dass sich die Niedriglohnschwelle 2014 auf 9,97 Euro erhöht hatte. Ob dadurch noch mehr Beschäftigte in den Niedriglohnsektor gerutscht sind, bleibt unklar. In Bezug auf die Gesamtbeschäftigung haben die IAQ-Forscher allerdings berechnet, dass sich der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten an allen abhängig Beschäftigten (ab 18 Jahren ohne Auszubildende, Schüler/innen und Studierende) von 22,9 Prozent im Jahr 2013 auf 22,6 Prozent in 2014 verringert hat.
Anteil der Niedriglohnbeschäftigten an allen abhäng. Erwerbstätigen (in %)
Quelle: IAQ-Report Nr. 3/2016
Zahlen aus der Verdienststrukturerhebung 2014
Sehr viel mehr Informationen enthalten die vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Daten aus der im April 2014 durchgeführten Verdienststrukturerhebung (VSE 2014). Abweichend von den früheren limitierten Erhebungswellen sind in der Befragung diesmal die Beschäftigungsverhältnisse in Betrieben mit mindestens einem Beschäftigten (früher: zehn Beschäftigte) erfasst worden. Und während bislang die Betriebe aus dem Wirtschaftsabschnitt Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei unberücksichtigt blieben, sind deren Verdienstangaben diesmal ebenfalls in die Auswertung eingegangen.
Angestoßen von einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zu Niedriglöhnen in Deutschland hat die Bundesregierung die Ergebnisse der Verdienststrukturerhebung gezielt für die Charakterisierung des Niedriglohnsektors aufbereiten lassen. Ihrer Antwort auf die parlamentarische Anfrage ist zu entnehmen, dass die Schwelle zu Niedriglöhnen im Jahr 2014 laut VSE 2014 bei 10,00 Euro gelegen hat. Damit waren 21,4 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse Niedriglohnjobs (Auszubildende und Selbstständige ausgenommen). Die Zahlen sind zwar nicht mit den Ergebnissen des IAQ vergleichbar, doch es wird deutlich dass auch nach dieser Quelle 2014 noch mehr als jedes fünfte Arbeitsverhältnis (inkl. Mini- und Nebenjobs) im Niedriglohnsektor angesiedelt war.
Die Daten aus der Verdienststrukturerhebung geben darüber hinaus Einblick in die Struktur des Niedriglohnsektors 2014. So liegen etwa nach Alter, Geschlecht oder auch Qualifikationsniveau differenzierte Ergebnisse vor. Unter dem hier gewählten Aspekt verschiedener Beschäftigungstypen zeigt sich, dass das Niedriglohnrisiko für Beschäftigte je nach Art der Beschäftigung höchst unterschiedlich ausfällt.
Anteile Niedriglohnbeschäftigungsverhältnisse nach Arbeitsform 2014 (in %)
Quelle: Verdienststrukturerhebung 2014
Das geringste Risiko, zu Niedriglöhnen zu arbeiten, haben demnach Vollzeitbeschäftigte. Hier war 2014 etwa jedes zehnte Beschäftigungsverhältnis ein Niedriglohnjob. Ganz anders verhält es sich bei den Minijobs, die zu fast zwei Dritteln mit Stundenlöhnen unter zehn Euro vergütet werden. Hohe Niedriglohnrisiken haben auch Leiharbeitnehmer/innen und befristet Beschäftigte.
Fazit und Ausblick auf 2015
Im letzten Jahr vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zeigt der Niedriglohnsektor nur eine geringe Dynamik. Wie schon in den Vorjahren, so arbeitete auch 2014 wieder mehr als jeder fünfte Beschäftigte zu Magerlöhnen. Die Zahlen deuten darauf hin, dass sich Niedriglohnbeschäftigung längst zu einem verfestigten Segment im Arbeitsmarkt entwickelt hat. Ob der gesetzliche Mindestlohn hier im Folgejahr eine positive Veränderung hat auslösen können, darf schon jetzt bezweifelt werden, denn mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro wird niemand aus dem Niedriglohnsektor herausgeholt.
Etwas anderes wäre es, wenn der Mindestlohn sich auf die gesamte Lohnstruktur auswirkte. Das wäre dann der Fall, wenn Unternehmen ihre Lohnspreizung und damit den Abstand zwischen den Lohngruppen beibehalten wollen. Dann müssten sie nicht nur die unterste, sondern auch die nächsthöheren Lohngruppen anheben. Hat der Mindestlohn solche Spillover-Effekte auslösen können? Einen ersten Hinweis darauf liefern Erkenntnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2015, die sich im ersten Bericht der Mindestlohnkommission zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns finden lassen. Danach haben rund 14 Prozent aller von der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns direkt betroffenen Betriebe auch die Löhne oberhalb von 8,50 Euro angepasst (Mindestlohnkommission 2016:55). Ob und wie sehr dies auch für Löhne oberhalb der Niedriglohnschwelle (ab zehn Euro) gilt, ist nicht klar. Auf die Zahlen zum Niedriglohnsektor 2015 darf man also gespannt sein.
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Zum Weiterlesen:
Niedriglöhne in der Bundesrepublik Deutschland. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Susanna Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs 18/10582 (Dez. 2016).
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.