Ja, es gibt den »Neoliberalismus« tatsächlich!
6. Dezember 2018 | Christine Berry
Einige Ökonomen behaupten gerne, dass es den Neoliberalismus nicht gebe. Sie irren sich.
Margaret Thatcher behauptete einst, es gebe »so etwas wie eine Gesellschaft nicht« (»no such thing as society«). Heute ist es üblich, dass Kommentatoren und Analysten behaupten, es gebe »so etwas wie den Neoliberalismus« gar nicht. Der Begriff sei einfach eine sinnfreie Beleidigung, die von der politischen Linken verbreitet werde, ohne jeden analytischen Gehalt. Aber auf einer »Liste der zehn Anzeichen dafür, ein Neoliberaler zu sein« steht sicher ganz oben, regelmäßig zu behaupten, dass es den Neoliberalismus gar nicht gebe.
Eine wichtige Stimme im Chor der Leugner ist Ed Conway, Wirtschaftskommentator bei Sky News. Auf ▸seinem Blog nennt er vier Gründe, warum der Neoliberalismus keine »Sache« ist und es ihn daher gar nicht geben könnte. Schauen wir uns die angeführten Gründe einmal an:
1. Der Begriff wird nur von seinen Gegnern benutzt, nicht von seinen Befürwortern
Diese Behauptung zu widerlegen ist fast zu einfach, weil sie schlicht nicht wahr ist. Wie Philip Mirowski in »Never let a serious crisis go waste« dokumentiert, »nannten sich die mit der Doktrin verbundenen Menschen für einen kurzen Zeitraum von den 1930er bis zu den frühen 1950er Jahren selbst ‚Neoliberale‘, hörten dann aber relativ plötzlich damit auf« - und entschieden, dass ihrem politischen Projekt besser gedient wäre, wenn sie behaupteten, die Erben von Adam Smith zu sein, anstatt sich bewusst vom klassischen Liberalismus zu distanzieren.
Hier nur ein Beispiel von Milton Friedman aus dem Jahr 1951:
»eine neue Ideologie.... muss der wirklichen und effizienten Einschränkung der Fähigkeit des Staates, in die Aktivitäten des Einzelnen einzugreifen, hohe Priorität einräumen. Gleichzeitig ist absolut klar, dass dem Staat positive Funktionen zugewiesen sind. Die Doktrin, die man als Neoliberalismus bezeichnet und die sich mehr oder weniger gleichzeitig in vielen Teilen der Welt entwickelt hat.... ist genau eine solche Doktrin... Aber anstelle des Verständnisses, dass Laissez-faire das Mittel ist, dieses Ziel zu erreichen, schlägt der Neoliberalismus vor, dass der Wettbewerb den Weg weisen wird«. [eigene Übersetzung]
Interessant ist hier zu bemerken, dass in dem Zitat neben dem Wort »Neoliberalismus« auch das Wort »Ideologie« vorkommt. Doch dazu später mehr.
Es stimmt, dass der Begriff »Neoliberalismus« lange Zeit untergetaucht war, da seine Befürworter es vorzogen, ihre Politik einfach als vernünftige Wirtschaftspolitik zu verkaufen. So mussten sie nicht zugeben, dass es sich um ein radikales ideologisches Programm handelte. Aber das hinderte sie nicht daran, zu wissen, wofür sie stehen, oder gemeinsam - über ein gut ausgestattetes Netzwerk von Think Tanks und Forschungsinstituten - zu handeln, um diese Ideen zu verbreiten.
Es ist bemerkenswert, dass einer dieser Think Tanks, das Adam-Smith-Institut in Großbritannien, in den letzten Jahren bewusst versucht, den Begriff zurückzuerobern. Mit dem Institut verbundene Intellektuelle wie Madsen Pirie und Sam Bowman haben explizit versucht, den Neoliberalismus als solchen zu definieren und ihn zu verteidigen. Es ist kein Zufall, dass dies genau zu der Zeit geschah, als der Neoliberalismus in Großbritannien mit dem Aufstieg von Jeremy Corbyn und dem Schock der Brexit-Abstimmung ernsthaft in Frage gestellt wurde.
2. Es ist unklar, was Neoliberalismus eigentlich bedeutet
Nun, dieser Punkt hier ist zumindest halbwegs wahr. Wie buchstäblich jedes Konzept, das jemals von Bedeutung war, ist das Konzept des »Neoliberalismus« unübersichtlich und tief umstritten, es hat sich im Laufe der Zeit entwickelt und unterscheidet sich in Theorie und Praxis erheblich. Von Anfang an wurde schon innerhalb der neoliberalen Bewegung darüber diskutiert, wie sie sich selbst definieren sollte und wie ihr Programm letzlich aussehen sollte. Und, ja, es wird auf der linken Seite oft denkfaul als ein Oberbegriff für alles verwendet, das vage mit dem Establishment verbunden ist. Nichts davon bedeutet, dass es den Neoliberalismus nicht geben würde. Das ist etwas, was Soziologen und Historiker sofort verstehen, mit dem aber viele Ökonomen große Probleme zu haben scheinen.
Dennoch lassen sich einige allgemein anerkannte Kernmerkmale des Neoliberalismus definieren. Im Wesentlichen privilegiert er die Märkte als die vermeintlich beste Art und Weise, die Wirtschaft und die Gesellschaft zu organisieren, sieht aber im Gegensatz zum klassischen Liberalismus eine starke Rolle für den Staat bei der Schaffung und Erhaltung dieser Märkte vor. Außerhalb dieser Rolle sollte der Staat jedoch so wenig wie möglich tun und vor allem das »natürliche« Funktionieren des Marktes nicht stören. Daher war es schon immer Teil des neoliberalen Projekts, den Staat zu übernehmen und für die eigenen Zwecke zu transformieren, anstatt ihn zu demontieren oder zu deaktivieren.
Natürlich gibt es einen klaren Widerspruch zwischen den erklärten Freiheitsidealen der Neoliberalen einerseits und ihrem Bedürfnis nach einem starken Staat andererseits. Letzteren benötigen sie, um eine Politik durchzusetzen, die oft keine demokratische Zustimmung findet. Wir sehen dies an den Maßnahmen der Bretton-Woods-Institutionen im Zeitalter der »Strukturanpassung« oder am Verhalten der Troika gegenüber Griechenland während der Krise in der Eurozone. Wir sahen es am deutlichsten in Pinochets Chile der 1970er, dem ursprünglichen neoliberalen Experiment. Das erklärt vielleicht, dass der Neoliberalismus manchmal mit Freiheitlichkeit und einem zurechtgestutzten Staat gleichgesetzt wird, während andere diese Charakterisierung ablehnen. Aber: Nichts davon bedeutet, dass es keinen Neoliberalismus gibt.
3. Neoliberalismus ist eigentlich nur gute Wirtschaftspolitik
Den Neoliberalismus gibt es nicht, sagt Ed Conway, aber was es gibt, seien »herkömmliche Wirtschaftsmodelle, die von Adam Smith vor Jahrhunderten geschaffen wurden«, und die Prinzipien, die sie mit sich bringen. Dass sie seit dem Ende des Kalten Krieges »übereifrig umgesetzt und manchmal falsch angewandt« wurden, sei »unglücklich«, aber »kaum mit einer Ideologie gleichzusetzen«.
Das ist der älteste neoliberale Trick überhaupt. Die Art und Weise, wie Conway diese Prinzipien definiert (steuer- und haushaltspolitischer Konservatismus, private Eigentumsrechte und unternehmerische Autonomie), kann kaum als Modell mit analytischer Schärfe gelten, aber wir lassen das erst einmal durchgehen. Stattdessen sei darauf hingewiesen, dass die gesamte Entwicklung der neoliberalen Ideologie darauf zurückzuführen ist, dass die älteren klassischen »Wirtschaftsmodelle« während der Großen Depression der 1930er Jahre offensichtlich gescheitert waren und durch keynesianische Modelle der Nachfrageorientierung als dominierende Bezugsrahmen für das Verständnis der Wirtschaft ersetzt wurden.
Die Neoliberalen mussten ihre Modelle aktualisieren, um ihre Glaubwürdigkeit wiederherzustellen: Deshalb haben sie so viel Aufwand in die Weiterentwicklung der neoklassischen Ökonomie und die Erlangung von Reputation durch die Chicago School gesteckt. Eine der großen Errungenschaften des Neoliberalismus war es, eine kollektive Gedächtnislücke herbeigeführt zu haben, so dass jetzt wieder behauptet werden kann, dass diese Grundsätze einfach »grundlegende wirtschaftliche Regeln« seien, die direkt von Adam Smith auf Steintafeln überliefert wurden, und die daher in der Geschichte des wirtschaftlichen Denkens unangefochten und unanfechtbar sind.
Allerdings sind sogar einige Leute, die allgemein der neoklassischen Ökonomie zugeschrieben werden - wie Joseph Stiglitz - in der Lage, diesen intellektuellen Hintergrund von der politischen Anwendung durch die Neoliberalen zu unterscheiden.
4. 'Neoliberale' Politik wurde in den letzten Jahrzehnten zwar umgesetzt, aber das war eher eine Frage des Zufalls als geplant und gewollt
Privatisierung, Deregulierung des Finanzsektors, Abbau von Kapital- und Devisenkontrollen: Dies sind laut Conway alles Entwicklungen, die durch Zufall entstanden sind. »Jeder, der Wirtschaftsgeschichte studiert hat, wird Ihnen sagen, dass das alles kaum das Ergebnis einer leitenden Ideologie war.« Diese Aussage wird zweifellos eine Neuheit für eine große Zahl bedeutender Wirtschaftshistoriker sein, die den Wandel vom Keynesianismus zum Neoliberalismus ausführlich beschrieben haben.
Diese Aussage wäre auch eine Neuheit für Margaret Thatcher, die angeblich bei einer ihrer ersten Kabinettssitzungen Hayeks »Verfassung der Freiheit« auf den Tisch legte und erklärte: »Gentlemen, das ist unser Programm«, und die berühmt-berüchtigt wurde für die Aussage: »Wirtschaft ist die Methode, das Ziel ist es, die Seele zu verändern«. Und es wäre auch eine Neuheit für diejenigen um sie herum, die für die damalige konservative Regierung mit sorgfältig ausgearbeiteten Schlachtplänen Strategien entwickelt haben, um den Abbau der wichtigsten Institutionen der Nachkriegszeit voranzutreiben.
Was Conway hier zu leugnen scheint, ist die Idee, dass Politikgestaltung innerhalb eines gemeinsamen Rahmens von gemeinsamen Grundannahmen (oder Paradigmen) stattfindet und dass sich diese dominanten Paradigmen im Laufe der Zeit verändern können und dass diese Veränderungen in der Regel von politischen Krisen und daraus resultierenden Machttransfers begleitet werden - was sie zumindest teilweise zu einer Frage der Ideologie und nicht nur der Fakten macht.
Ob es überhaupt sinnvoll ist, zu behaupten, dass es ideologiefreie Fakten über Dinge gebe, die so grundsätzlich politisch sind wie die Frage nach der grundlegenden Ausrichtung der Wirtschaft – darüber führt die Wissenssoziologie eine große Debatte, auf die wir hier aber nicht eingehen werden und die Ed Conway offenbar nicht bekannt ist. Aber er zeigt seine Handschrift, wenn er behauptet, dass die Energieversorgungen privatisiert wurden, weil »die Regierungen erkannt haben, dass sie meist etwas zu blöd waren, diese vernünftig selbst zu betreiben«. Dies ist eine starke - und höchst umstrittene - politische Behauptung, die als Tatsachenaussage getarnt wird. Es ist besonders skurril für einen Wirtschaftswissenschaftler in einer Zeit, in der 70 Prozent der britischen Bahnstrecken im Besitz ausländischer Staaten sind, die die Konzessionen im Rahmen von Ausschreibungen gewonnen haben. Erst vor kurzem mussten wir erfahren, dass die Hauptstrecke an der britischen Ostküste (East Coast line) vorübergehend renationalisiert werden soll, weil sich die privaten Unternehmen Virgin und Stagecoach als zu »blöd« herausstellten, diese zu betreiben.
Es mag eine altbackene Floskel sein, aber das alte Sprichwort »Erst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann kämpfen sie gegen dich, dann gewinnst du« scheint hier angebracht. Der Neoliberalismus versteckte sich jahrzehntelang erfolgreich im Verborgenen, wobei höchst ideologische Pläne mit der Behauptung umgesetzt wurden, dass wir in einer post-ideologischen Welt lebten. Jetzt, da er als ideologische Herausforderung benannt wird, steht der Neoliberalismus plötzlich nackt im Raum und muss erklären, was er hier eigentlich will.
Es gibt eine Reihe von Strategien, mit denen Neoliberale darauf möglicherweise reagieren werden. Die Antwort des Adam-Smith-Instituts ist es, in die Offensive zu gehen und sich dort zu verteidigen. Die Antwort von Theresa May hingegen ist ein Lippenbekenntnis über die Notwendigkeit eines systemischen Wandels bei gleichzeitigem, klammheimlichen Weiter-So. Wer jedoch wie Ed Conway die Existenz des Neoliberalismus nicht einmal zugibt, dürfte bald von der Geschichte überholt werden.
Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf ▸Open Democracy. Wir danken für die Genehmigung zur Ãœbersetzung und Zweitveröffentlichung. Ãœbersetzung: Martin Ahrens.
Christine Berry promoviert am Sheffield Political Economy Research Institute.