Interview
Jürgen Schwark: »Sportgroßveranstaltungen werden funktionalisiert und mit falschen Versprechungen belastet«
7. Mai 2020 | Patrick Schreiner
Jürgen Schwark über sportliche Großveranstaltungen und die Rolle der Kommunen als deren Ausrichter. Schwark ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Westfälischen Hochschule Bocholt.
Sie schreiben vom Zusammenhang zwischen der »neoliberal geprägten Stadt« und Sportgroßveranstaltungen. Was soll das sein: die »neoliberal geprägte Stadt«?
Jürgen Schwark: Städte sind in meinem Verständnis zuerst Gemeinwesen. Politik und Verwaltung haben pflichtige und freiwillige Leistungen für alle in der Stadt zu erbringen. Seit Anfang der 1980er Jahre sind jedoch zunehmend Prozesse zu verzeichnen, die öffentliche Leistungen reduzieren und gleichzeitig zu privaten Unternehmen überführt haben. Etwa in der Energie-, Abfall und Wasserwirtschaft zum einen und in Medizin und Bildungswesen zum anderen. Und nicht nur das! Städte sollen wie Unternehmen oder Konzerne geführt werden, die sich in einem gegenseitig konkurrierenden Standortwettbewerb um Betriebsansiedlungen, kreative und zahlungskräftige Bevölkerungsschichten und Touristen bemühen. Der damalige Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi, hat bereits 1983 zum ersten mal öffentlich die Idee vom Unternehmen Stadt präsentiert.
Ich spreche übrigens nicht von der neoliberalen Stadt, weil das zu umfassend wäre. Vielmehr halte ich den abgeschwächten Begriff der Prägung für angemessen, weil sich in Teilen der Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft auch Unmut und Widerstand regen und sich diesem neoliberalen Stadtverständnis widersetzen. Das zeigen auch etliche Beispiele der so genannten Rekommunalisierung.
Worin besteht dieser Zusammenhang zwischen der »neoliberal geprägten Stadt« und Sportgroßveranstaltungen?
Jürgen Schwark: Die großen Veranstaltungen des Sports sollten besonderer Ausdruck des Festes und der Feier sein. Sie stellen eine Präsentation auf breitensportlicher oder spitzensportlicher Basis dar. Es geht also vorrangig um den Sport als kulturelle Praxis um seiner selbst willen - für die SportlerInnen, BürgerInnen und Gäste. Veranstalter und ausrichtende Stadt haben sich also um eine gelingende Sportveranstaltung und um eine Kultur als guter Gastgeber zu bemühen, ohne dabei verschwenderisch zu sein. Und für die BewohnerInnen der Stadt geht es über das Zuschauen hinaus, auch um selbsterzeugte Partizipation, die über Freiwilligenarbeit, ehrenamtliches Engagement sowie über konkrete Breitensport- und verbindende Kulturangebote im Kontext der Sportgroßveranstaltung herzustellen ist.
Beim neoliberalen Konzept des Standortwettbewerbs geht es Akteuren aus Politik, Stadtmarketing und Sportagenturen hingegen um so genannte weiche Standortfaktoren und lediglich darum, eine möglichst medien- und imagewirksame Großveranstaltung an Land zu ziehen. Hier werden Sportgroßveranstaltungen funktionalisiert und mit falschen Versprechungen belastet. Bei den ganz großen Veranstaltungen geht es immer auch um Infrastrukturprojekte, Gentrifizierungsprozesse von Stadtteilen, die mit dem Versprechen vermeintlich positiver ökonomischer Effekte legitimiert und rascher als sonst möglich umgesetzt werden. Die mehrheitliche Ablehnung der jüngsten Olympiabewerbungen macht übrigens deutlich, dass nicht der Sport abgelehnt wird, sondern seine missbräuchliche Benutzung für sportfremde Zwecke.
Inwiefern werden Sportgroßveranstaltungen funktionalisiert, und mit welchen Versprechungen werden sie – in Ihrem Worten – »belastet«?
Jürgen Schwark: Deutlich wird das bei den Förderrichtlinien der Städte. Fast ausnahmslos werden Leistungen des Sports benannt, die für andere Zwecke dienlich sein sollen. Im Einzelnen mag das für soziale und gesundheitliche Zwecke nachvollziehbar sein, aber in der Summe wird deutlich, dass der Sport vor allem auch für ökonomische Partialinteressen eingespannt wird. Eine Förderung um des Sportes wegen findet sich kaum. Anderen kulturellen Bereichen, wie beispielsweise dem Theater, würde man mit derartigen Anforderungen nicht begegnen. München etwa hat eine ausdifferenzierte und nachvollziehbare Begründung für die Kulturförderung entwickelt. Die Sportgroßveranstaltungen presst man, nicht nur in München, in eine fortwährende Wiederholung von zumeist falschen oder völlig überzogenen Behauptungen aus dem Sprachbaukasten einer x-beliebigen Wirtschaftsförderungs- oder Beratungsgesellschaft: Image- und Wirtschaftsfaktor, effektives Instrument des Regionalmarketings, unbezahlbare Werbung, effektiver als Kampagnen, Städtewettbewerb, Ansiedlung neuer Betriebe, Verbleib des »Humankapitals«, Profilbildung im kommunalen Wettbewerb bis hin zur Stadtrendite. Von der Kunstfertigkeit des Spitzensports und der bereichernden Festkultur des Breitensports ist da nicht die Rede.
Der Unterschied zwischen Sport und Theater scheint mir hier allerdings allenfalls graduell. Dem Theater vergleichbare kulturelle Einrichtungen werden doch ebenfalls mancher der genannten Anforderungen unterworfen: Kultur als Imagefaktor, als Instrument des Marketings, als Vorteil bei der Ansiedlung von Betrieben, zur Profilbildung usw.
Jürgen Schwark: Dass Kultur und auch die so genannte Hochkultur funktionalisiert wird, ist zutreffend. Und auch ein zunehmend gefälliges, marktkonformes und damit tendenziell beliebiges Angebot ist festzustellen. Aber Bannerwerbung von Baumärkten mitten auf der Theaterbühne sichtbar zu präsentieren, das ginge dem bürgerlichen Publikum, übrigens aus gutem Grund, doch zu weit. Der Kern der Aufführung wäre respektlos gestört. Für Sport als »Schwarzes Schaf« der Künste gilt das offensichtlich nicht. Für die Präsentation eines Spitzen-Handballspiels zum Beispiel in Düsseldorf hat der Rüstungskonzern Rheinmetall den Anwurfkreis medial in Beschlag genommen, während sich im Torraum die PSD-Bank breit macht. Zwischendurch läuft man über Banner von Audi usw. Das hat schon eine andere Qualität, auch wenn sie vom Sport selbst eingegangen wird. Sponsoren sowie Medien greifen in die Autonomie des Sports ein beispielsweise durch die kaum leistungsförderliche Verlegung von Wettkämpfen in die Nacht (Beach-Volleyball ab 23:00 Uhr, Olympische Spiele 2012) oder in die Morgenstunden (Olympische Spiele 2016), räumliche Verlegung von Wettkämpfen (Supercoppa Italiana 2018/19 in Riad/Saudi Arabien oder die Vorgaben für - sexy - Sportbekleidung beim Beach-Volleyball oder Eisschnelllauf). Einen weiteren Unterschied sehe ich im politischen Umgang zwischen bereits länger vorhandenen kulturellen Einrichtungen und einmalig durchgeführten internationalen Sportgroßveranstaltungen. Letztere sind von politischer Seite viel eher ein willkommener Anlass zur städtischen Potenzschau, Gentrifizierung oder narzisstischen Selbstdarstellung und Denkmalsetzung.
Sportgroßveranstaltungen kosten die Städte in der Regel Unmengen an Geld. Dennoch finden sie statt, es muss also Hoffnung auf Vorteile irgendwelcher Art geben. Welche Vorteile sind das?
Jürgen Schwark: Wie viel an Geld ausgegeben und an Personal bereitgestellt werden muss, hängt wesentlich davon ab, wie imageträchtig eine Sportgroßveranstaltung ist und wie viel sie an medialer Aufmerksamkeit erzeugen kann. Das bestimmt die Vorgaben in den Pflichtenheften (bid books) und Verträgen und reicht über kostenlose Hotelkapazitäten und Mobilität für Funktionäre über Technikausstattung, Sicherheitsmaßnahmen und restriktive »clean zones«. Teilweise können nachträglich noch Kosten auf die Ausrichterstädte abgewälzt werden. Für die Bewerbung um die Fußball EM 2024 ging das beispielsweise dem OB von Dortmund zu weit und er hat zusammen mit anderen Kommunen erfolgreich über den DFB interveniert. Auf der anderen Seite wird keine Stadt dazu gezwungen, sich diesen Anforderungen zu unterwerfen. Die Frage ist nun, sind die Anforderungen nachvollziehbar, will sich eine Stadt mit ihrer Bevölkerung so ein Sportfest leisten, oder stehen Investoreninteressen (Ausbau der Infrastruktur, Gentrifizierung) und individueller Narzissmus im Vordergrund - »Seht her, ich habe die Spiele geholt.«
Allerdings gibt es auch Ausprägungen jenseits des Spitzensports. Das Deutsche Turnfest oder die Gymnaestrada etwa sind große Veranstaltungen des Breitensports und der Festkultur. Das sollte nicht unterschlagen werden. Und auch weniger imageträchtige Sportgroßveranstaltungen können finanziell für eine Ausrichterstadt lukrativ sein, wie zum Beispiel Internationale Meisterschaften der Masters oder spezieller Berufsgruppen.
Was den Städten jedoch fehlt, von Hamburg einmal abgesehen, ist eine begründete und längerfristig angelegte Konzeption.
Der Dortmunder OB hatte erfolgreich interveniert – war das ein Einzelfall? In welchem Ausmaß kann sich Stadtpolitik gegen diese Anforderungen und Vorgaben wehren?
Jürgen Schwark: Bremen, Freiburg und Kaiserslautern haben Rückzieher gemacht. Das ist schon ein indirektes Statement gegenüber dem DFB gewesen. Die Anzahl der austragungsfähigen Stadien ist ja nicht unbegrenzt. Für Dortmund gilt die Besonderheit, dass die Stadt auf der Fußball-Landkarte eine derart exponierte Stellung einnimmt, dass sich die politische Stadtspitze gegenüber der Bevölkerung einen Rückzieher nicht leisten kann. Das Dilemma besteht jedoch in der hohen Verschuldung der Stadt, so dass die finanziellen Zumutungen und Unwägbarkeiten des bid books hier zu einer Zuspitzung führten. Allerdings darf auch nicht unterschlagen werden, dass zahlreiche Großveranstaltungen im Pflichtenheft ausschließlich sportspezifisch begründete und notwendige Anforderungen aufführen.
Insgesamt ist der Umgang der Kommunen mit Sportgroßveranstaltungen weniger konzeptionell begründet als vielmehr abhängig vom Schuldenstand, von persönlichen wirtschaftlichen oder politischen Interessen und Zufälligkeiten. Düsseldorf hat 2017 beispielsweise die Tischtennis-WM und die Sprint-Triathlon-EM ausgetragen. Das alleine wäre für die 620.000-Einwohner-Stadt eine beachtliche Leistung gewesen. Doch als kurzfristig London und Münster wegen der hohen Kosten einen Rückzieher von der Austragung des Grand Depart der Tour de France machten, preschte der rennradbegeisterte OB vor, ohne das im Rat der Stadt angemessen diskutieren zu lassen.
In der Frage, wie viel Geld für Sportgroßveranstaltungen ausgegeben wird, ist in einem offenen und breit angelegten Diskurs darauf zu orientieren, zu welchen Veranstaltungen es sporthistorische und aktuelle Bezüge gibt, welche zur Stadt passen, ob viele EinwohnerInnen partizipieren und ob positive Bezüge zum Breiten- und Schulsport hergestellt werden können. Diese konzeptionellen Entwürfe stehen zumeist noch aus. Diese ganze Diskussion habe ich als Kritik und Unterstützung in meinem jüngsten Buch aufgegriffen.
Der Autor hat jüngst ein Buch zum Thema geschrieben: ▸»Sportgroßveranstaltungen. Kritik der neoliberal geprägten Stadt«
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.