Kathrin Hartmann: „Veränderungen sind immer erkämpft und nie erkauft worden“
5. November 2015 | Lea Karrasch
Ein Interview mit Kathrin Hartmann. Sie ist Journalistin und freie Autorin. In ihrem Buch "Ende der Märchenstunde" (2009) befasst sie sich kritisch mit Konsum im Allgemeinen und dem angeblich "nachhaltigen" und "gesunden" Konsumieren im Besonderen.
In Ihrem Buch „Ende der Märchenstunde“ zeigen Sie auf, wie die Industrie die so genannten LOHAS und die Lifestyle-Ökos vereinnahmt. Es gibt zwar keine offizielle Definition der LOHAS, aber wie grenzt sich diese Gruppe von anderen gesellschaftlichen Gruppen ab?
Kathrin Hartmann: Der Begriff der LOHAS beschreibt keine soziologische Milieueinteilung. Er beschreibt den Lebensstil der Gesundheit und Nachhaltigkeit und spricht damit eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe als Käufer an. Insbesondere die gehobene Mittelschicht: höher gebildet, besser verdienend, in Großstädten lebend. Ich würde also eher sagen, dass LOHAS ein Marketingbegriff ist. Er zielt auf eine Konsumentenschicht, die ihr Kaufverhalten durch den Klimabericht 2007 angeblich verändert haben. „Einkaufen mit Moral“ ist das Stichwort – aber eher auf eine glamouröse Art. In der Weltgeschichte herumfliegen, aber Bio-Äpfel kaufen. Mittlerweile gibt es mehrere Studien, die sich mit der Kaufkraft dieser gesellschaftlichen Gruppe befassen.
Konsum ist geprägt durch Trends und ändert sich stetig. Ist auch die LOHAS-Bewegung nur ein Trend? Wird sie sich wieder legen, oder wird sich diese gesellschaftliche Struktur verhärten?
Kathrin Hartmann: Es gibt einige Untersuchungen, die die Bereitschaft zu ethischem Konsum messen. Diese Zahlen bewegen sich zwischen 20-30 % aller Konsumenten. Abgesehen von der Frage, ob es überhaupt ethischen Konsum gibt, halte ich dieses Zahlen für wahnsinnig übertrieben. Solche Untersuchungen beinhalten auch immer sozial erwünschte Antworten. LOHAS sind sehr konsumaffin, im Sinne eines Konsums, der sie von anderen absetzt. Sie geben viel Geld für Qualität und den Mehrwert „gutes Gewissen“ aus. Darin ist aber keineswegs ein durchgängig nachhaltiges Konsummuster zu erkennen. Es gibt kein Manifest der LOHAS. Es handelt sich also um Luxuskonsum, der für die Verkaufsstrategie vieler Unternehmen interessant ist. Durch die Ausrufung des LOHAS-Trends wittern viele ein gutes Geschäft. Unternehmen versuchen mittels Qualitätsversprechen, Nachhaltigkeitssiegeln und regionalen Produkten eine neue, zusätzliche Käuferschicht in die Läden zu locken.
Steht denn hinter dem Konsum der LOHAS eine politische Einstellung?
Kathrin Hartmann: Es gibt keine politische Erklärung der LOHAS. Ich würde auch behaupten, dass LOHAS-Konsumenten nicht das Weltladenpublikum sind und auch nicht die unbedingt organisierte Umweltschützer. Dafür ist die Gruppe der LOHAS viel zu heterogen. Es fehlt außerdem ein wichtiges Moment im Verhalten der LOHAS: der Verzicht. Die Losung der LOHAS ist es, weiter zu konsumieren. Ähnliche Produkte wie vorher, aber eben „ mit guter Qualität“ und „gutem Gewissen“.
Wie stehen LOHAS zu anderen gesellschaftlichen Gruppen? Sind LOHAS eine eigene Gesellschaftsklasse, die durch Abstiegsängste versucht sich abzugrenzen?
Kathrin Hartmann: Das ewige Versprechen, durch Leistung wäre ein gesellschaftlicher Aufstieg gesichert, wird nicht eingelöst. Das heißt, dass Abstiegsängste bei der Mittelschicht, in der die LOHAS verortet sind, wachsen. Konsum ist so auch der Versuch der Zughörigkeit und eine emotionale Absicherung. Da lässt sich sehr schön mit dem Finger auf die da unten zeigen, die an allem schuld sind, weil sie falsch einkaufen. Die Debatte um die Textilindustrie zeigt, wie einfach es sich die LOHAS machen: sie zeigen auf den KIK-Kunden, die mit ihre Billigkonsum angeblich die schlechten Arbeitsbedingungen in den Fabriken im Süden zu verantworten haben. Aber niemand geht aus Style-Gründen zu KIK, sondern Leute, die sich nichts anderes leisten können. Das rechtfertigt natürlich nicht die Geschäftspolitik von KIK – aber auch Luxusklamotten werden unter denselben verheerenden Bedingungen hergestellt und sowieso die ganzen tollen technischen Geräte, die vor allem bei LOHAS beliebt sind. LOHAS lenken mit dieser überheblichen Kritik an anderen Konsumenten nur von ihrer eigenen Rolle in einem ungerechten System ab, von dem sie letztlich profitieren. Aber es lässt sich so schön erzählen, dass man moralisch auf der richtigen Seite ist, weil man etwas tue – durch Konsum.
Wie sind die Konsument_Innen einzuschätzen, die sowohl biologisch und fair gehandelt kaufen, sich aber zusätzlich auch politisch engagieren? Ist LOHAS-Konsum per se schlecht?
Kathrin Hartmann: Das Problem ist der Kapitalismus. Er lässt sich nicht durch ein bestimmtes Einkaufsverhalten aus der Welt schaffen. Im Gegenteil: es erhält ihn. Ethischer Konsum suggeriert, dass das System bis auf ein paar unschöne Auswüchse in Ordnung ist. LOHAS haben kein vordergründiges Interesse daran, dass sich politisch die Dinge ändern. : Konsum thematisiert soziale Ungerechtigkeit nicht und wird auch nichts daran ändern. Um gesellschaftliche Änderungen herbeizuführen, brauchen wir starke soziale Bewegungen. Ich würde nicht ausschließen, dass es LOHAS gibt, die auch politisch aktiv sind. Z.B. diejenigen, die sich gegen TTIP einsetzen. Doch gerade dadurch, dass die heterogene Konsumentenschicht der LOHAS keine einheitlichen Ziele oder politische Manifeste haben, gibt es auch keine politische Strategie. Letztlich dreht sich alles um ein Produkt, das irgendwie besser erscheint. Das kritisiere ich auch an der sog. Konsumentendemokratie: es gibt sie nicht. In einer Demokratie haben alle die gleiche Stimme, das ist bei Konsum nicht so. Da bestimmt der Geldbeutel.
Kann es in unserem kapitalistischen System überhaupt „guten“ Konsum geben?
Kathrin Hartmann: Es gibt gutes, gerechtes und ökologisches Wirtschaften jenseits des Kapitalismus. Es gibt die Möglichkeit einer anderen Landwirtschaft, einer anderen Produktion und anderer Strukturen von Großkonzernen hin zu Genossenschaften. Ein derart überbordender Konsum ist dann allerdings nicht mehr drin.  Durch den angeblich ethischen Konsum hat sich nichts verändert, außer, dass sich immer mehr große Konzerne mittels geschickter PR als Weltretter darstellen , um ihre überflüssigen Produkte mit dem Mehrwert „gutes Gewissen“ verkaufen zu können Greenwashing und Corporate Responsibility erhalten ein ausbeuterisches und umweltschädliches Geschäftsmodell in grünem Mäntelchen. Politik und Unternehmen schieben den Konsumenten die Verantwortung zu: „Du kaufst falsch, Du willst es so.“ Deswegen gibt es beim ethischen Konsum auch kein soziales oder solidarisches Moment, sondern nur Schuldzuweisungen. Das ist zynisch. Es ist ein neoliberales Konzept jenseits Solidarität und Demokratie. Der ethische Konsum ist damit der größte Coup der Konsumgesellschaft: Alle kaufen brav weiter ein. Niemand wird gestört. Die Anti-Atom-Bewegung, die sichtbar war und Widerstand geleistet hat, war für Politik und Unternehmen bedrohlich. Aber die LOHAS werden von der Industrie geliebt – schließlich konsumieren sie. Da kann doch was nicht stimmen, oder?
Durch das Verhalten der LOHAS und Lifestyle-Ökos siehst Du langfristig die Demokratie gefährdet. Ist die LOHAS-Gruppe so einflussreich, dass diese Gefahr tatsächlich besteht und demokratische Strukturen noch weiter abgebaut werden?
Kathrin Hartmann: Ja, wenn man LOHAS als gehobene Mittelschicht betrachtet, die sich gesellschaftlich nach oben orientiert. Sie grenzen sich nach unten ab, indem sie sich in bestimmte Stadtviertel zurückziehen, bestimmte Geschäfte meiden und z.B. ihre Kinder in Privatschulen schicken. Diese Abgrenzung erodiert Demokratie, weil es ein Prozess der Entsolidarisierung ist. Wenn Hartz-IV-Empfänger  oder Minijobber nicht ökologisch einkaufen, werden sie abschätzig angesehen. Dabei sind sie nicht zu blöd zum konsumieren, sondern einfach arm. Das Konsumgerede verdeckt diese gesellschaftlichen Probleme. Man spricht nicht mehr über strukturelle Probleme, ihre Ursachen und Alternativen, sondern nur noch über „Lösungen“. Das ist nichts anderes als die neoliberale Ideologie der Alternativlosigkeit: wir können oder wollen nichts m am System ändern, sondern innerhalb des Systems eine „Lösung“ finden, die es erhält. Das ist antipolitisch und antidemokratisch, weil es bestimmte gesellschaftliche Schichten einfach ausschließt. Der Unterschied zwischen Bürger und Konsument wird hier ganz deutlich: Rechte und Geld. Die Rechte wurden erkämpft, das Geld nicht.
Sind LOHAS nicht selbstreflektiert und erkennen die immer stärkere Entsolidarisierung in der Gesellschaft?
Kathrin Hartmann: Insbesondere nach der Finanzkrise kann man einen starken Rückzug ins eigene bürgerliche Milieu, in die eigene Familie beobachten. LOHAS schaffen sich durch ihr Konsumverhalten auch eine kleine heile Welt. Und je mehr man sich nur noch unter seinesgleichen bewegt, desto mehr verliert man den Blick für das große Ganze. Begegnungen zwischen den verschiedenen Schichten finden kaum noch statt. Die alte Arbeitswelt, in der sich Arbeiterkinder hocharbeiten konnten, gibt es nicht mehr – es ist wahrscheinlicher, dass man selbst mit Uni-Abschluss nur einen mies bezahlten befristeten Job bekommt. Wenn man keine Berührungspunkte mit anderen gesellschaftlichen Schichten hat, fällt es auch leichter, auf diese herabzublicken. Wenn man selber alles „richtig“ gemacht hat, müssen die anderen ja was falsch gemacht haben. Reflektion ist schwierig, wenn man unter sich bleibt und sich dieses Weltbild gegenseitig bestätigt. Bei diesem Aspekt der Gentrifizierung sind LOHAS nur ein kleines Element. Die neoliberale Stimmung und Resignation „ich kann nichts mehr ändern, nur an mir selber arbeiten“ ist ja weit verbreitet.
Konsumverhalten, Bildungsbiografien, Abgrenzung nach unten – das sind Merkmale, auf die bürgerliche Gesellschaftsschichten Wert legen. Würden sich die LOHAS selber als „neue Bürgerliche“ einordnen?
Kathrin Hartmann: LOHAS sind sicher Teil der neuen Bürgerlichkeit. Ich könnte mir vorstellen, dass viele den Begriff „bürgerlich“ für sich ablehnen, weil er spießig und konservativ klingt, aber sie sind ja konservativ, sie wollen ihren Wohlstand erhalten Das bürgerliche Milieu hat von Haus aus diese ausschließenden Werte. Wer von Werten redet, hat diese meistens auch selbst bestimmt und befindet sich in der glücklichen Lage, sich in dieser Welt gut eingerichtet zu haben. So entwickelt sich eine Bourgeoisie, die glaubt, sie ist zu Recht da angekommen, wo sie ist. Wenn andere es nicht so weit schaffen, sind sie selber schuld. Die Anhänger dieser neuen Bürgerlichkeit haben überhaupt kein Interesse, alternative Gesellschaftsmodelle zu diskutieren oder auch nur wahrzunehmen. Wenn man sich anschaut, wie die Deutschen in den letzten Jahren gewählt haben, bekommt man schon den Eindruck, dass sie gerne möchten, dass alles so bleibt, wie es ist – nur ein bisschen besser. Für sich selbst. Der Erfolg von Merkel ist für mich ein deutliches Zeichen für Entpolitisierung und Entdemokratisierung. Dazu kommt, dass in der Mittelschicht häufig das Vorurteil herrscht, die einzige Alternative zum Kapitalismus sei der Kommunismus à la DDR, und das ist für die Deutschen ja ein Schreckgespenst. Das führt zu politischem und intellektuellem Stillstand.
Führen also die individualisierte Gesellschaft und die verbreiteten Ängste dazu, dass sich die LOHAS über ihren Konsum definieren und versuchen sich eine Identität zu schaffen?
Kathrin Hartmann: Der Konsum ist auch eine Sinnsuche, aber nicht eine nach Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Suche danach, im Kleinen etwas richtig zu machen. Ich glaube nicht, dass die LOHAS so abgebrüht sind, dass sie nicht merken, dass die  Gesellschaft kippt. Wenn man es sich leisten kann, ist es halt am einfachsten, sich ins Private zurückzuziehen. Der LOHAS-Konsum suggeriert Wahlmöglichkeiten, Freiheit und Sinn. Und er bedient Sehnsüchte. Nicht zufällig arbeitet die Industrie immer stärker mit reaktionär altmodischen Geschichten zu ihren Produkten. Es geht eher darum darin zu schwelgen, wie schön es früher womöglich war und nicht darum, wie die Zukunft aussehen könnte. Diese Stimmung wird den LOHAS häufig mit verkauft – das für mich beste Beispiel ist hier der Nostalgie-Laden Manufaktum, wo sogar noch der Gurkenschäler eine sentimentale Geschichte hat.
Es ist unglaublich schwer, den Mythos aus der Welt zu schaffen, man könne mit seinem Konsumverhalten die Welt verbessern – was absurd ist, denn es gibt ja keine einzigen Beleg. Im Gegenteil. Es ist einfach das schöne neoliberale Märchen, dass man als Einzelner etwas ändern kann. Aber es hat in der ganzen Geschichte niemals Veränderungen durch verändertes Konsumverhalten gegeben. Veränderungen sind immer erkämpft und nie erkauft worden. Nur mit anderen zusammen und gerechten politischen Forderungen kann man die Welt verändern.
Bibliografische Angaben
Kathrin Hartmann: Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die LOHAS und Lifestyle-Ökos vereinnahmt. Blessing-Verlag 2009. 384 Seiten, 16,95 Euro. ISBN 978-3896674135.
Das Interview erschien zuerst in kritisch-lesen.de Ausgabe 36.
Lea Karrasch ist beim DGB Bezirk Niedersachsen - Bremen - Sachsen-Anhalt für Bildungspolitik und den öffentlichen Dienst zuständig.