Klassen und sozioökonomische Ungleichheit im Finanzmarktkapitalismus
9. September 2020 | Christoph Butterwegge
Die krasse Ungleichheit der Einkommen und Vermögen lässt sich nur unter Rückgriff auf die analytische Schlüsselkategorie der Klasse verstehen. Deshalb ist eine Beschäftigung mit den Erkenntnissen von Marx und Engels immer noch sinnvoll.
»Klassengesellschaft« ist ein Begriff, der hierzulande als Signalwort der marxistischen Linken verpönt ist und als Relikt des Industriezeitalters im vergangenen oder im vorletzten Jahrhundert gilt, das längst überwunden und nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine »nivellierte Mittelschichtgesellschaft« (Helmut Schelsky) ohne tiefgreifende soziale Interessengegensätze abgelöst worden sei. Man muss allerdings gar kein Marxist sein, um zu erkennen, dass Deutschland eine Gesellschaft mit wachsender sozioökonomischer Ungleichheit ist, deren Hauptgrund im fortwirkenden Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit besteht.
Armut und Reichtum in Deutschland
Laut einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) entfallen inzwischen 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent konzentrieren sich auf das reichste Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt immer noch auf 20 Prozent des Nettogesamtvermögens. Der auf dieser Datengrundlage berechnete Gini-Koeffizient liegt bei 0,83. Dabei handelt es sich um ein Ungleichheitsmaß, das bei völliger Gleichverteilung (alle Personen besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. 0,83 entspricht fast dem US-amerikanischen Vergleichswert, der üblicherweise mit 0,85 bis 0,87 angegeben wird, was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage hierzulande zeigt.
Einerseits besitzen inzwischen weniger als 45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, d.h. über 40 Millionen Menschen. Denn diese ebenfalls vom DIW stammende Zahl ist schon älter und durch die jüngste Vermögensentwicklung bereits wieder überholt. Andererseits gehören zu den 40 Prozent der Bevölkerung, die kein oder sogar ein negatives Vermögen (Schulden) haben, hauptsächlich im Niedriglohnsektor beschäftigte Arbeiter/innen, Arbeitslose und Kleinstrentner/innen, die man ausnahmslos der arbeitenden Klasse zurechnen muss.
Nach den Maßstäben der Europäischen Union galten über 13,3 Millionen Menschen im Jahr 2019 hierzulande als von Armut betroffen oder bedroht. Sie hatten weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung, was für Alleinstehende 1.074 Euro im Monat entsprach. Mit 15,9 Prozent erreichte die Armuts(gefährdungs)quote einen Rekordstand im vereinten Deutschland. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbslose (57,9 Prozent), Alleinerziehende (42,7 Prozent) und Nichtdeutsche (35,2 Prozent) auf. Kinder, Jugendliche und Heranwachsende waren ebenfalls stark betroffen, während das Armutsrisiko der Senior(inn)en seit geraumer Zeit am stärksten zunimmt.
Deutschland ist aber nicht allein deshalb eine Klassengesellschaft, weil es unvorstellbar Reiche (Multimilliardäre) auf der einen und ganz Arme (Wohnungs- und Obdachlose) auf der anderen Seite des sozialen Spektrums gibt, sondern weil die kapitalistische Wirtschaftsstruktur dafür sorgt, dass Reiche auf Kosten der Armen immer reicher werden. So hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich durch die Covid-19-Pandemie selbst, die ökonomischen Verwerfungen des ihr geschuldeten Lockdowns großer Teile der Gesellschaft und die verteilungspolitische Schieflage der meisten Hilfsmaßnahmen des Staates in jüngster Zeit noch weiter vertieft: Die meisten Reichen sind reicher und die Armen zahlreicher geworden. Erstellt man eine Liste jener Konzerne, die von der pandemischen Ausnahmesituation sogar profitiert haben, reicht sie von A wie Amazon bis Z wie Zalando. Auch wer einen Baumarkt besaß, der nicht geschlossen werden musste, hat mehr Gewinn als ursprünglich erwartet gemacht.
Umgekehrt gehörten Obdach- und Wohnungslose, aber auch andere Bewohner/innen von Gemeinschaftsunterkünften wie Geflüchtete, (süd)osteuropäische Werkvertragsarbeiter/innen der Subunternehmen deutscher Großschlachtereien bzw. Fleischfabriken und nichtdeutsche Saisonarbeiter/innen, Migrant(inn)en ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdiener/innen, Kleinstrentner/innen und Transferleistungsbezieher/innen (Empfänger/innen von Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleistungen) bisher zu den Hauptleidtragenden der Coronakrise.
Marxens Klassentheorie und die Kritik der politischen Ökonomie
Eine zentrale Frage lautet: Wird diese Form der extremen Ungleichheit nur individuell erlebt bzw. als soziale Ausgrenzung und Armut erlitten, oder handelt es sich dabei um ein Kollektivschicksal, wiewohl sich die betroffenen Personen dessen zumindest heute meist nicht bewusst sind? Wenn das Erstere der Fall wäre, könnte man das Verhalten der einzelnen Individuen für ihren geringen sozialen Status verantwortlich machen und sie – wie es beispielsweise Neoliberale und Nationalkonservative tun – zu mehr Privatinitiative, Selbstvorsorge und Eigenverantwortung aufrufen; ist jedoch Letzteres der Fall, sind Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse für die Spaltung der Gesellschaft in Großgruppen, Klassen und Schichten ausschlaggebend.
Immer noch überzeugt, dass Marx und Engels das Thema »Ungleichheit« als strukturelles Problem und seine Ausprägungen als kollektives Schicksal begreifen, das sich in der Klassenstruktur einer Gesellschaft niederschlägt. Sie haben in zahlreichen Schriften gezeigt, dass die Ungleichverteilung der materiellen Ressourcen im Kapitalismus auf der Klassenungleichheit zwischen Bourgeoisie und Proletariat beruht, die wiederum im Privateigentum an den Produktionsmitteln wurzelt. Für sie repräsentierten soziale Klassen wie keine andere Großgruppe die Ungleichheit in einer Gesellschaft. Klassen und Schichten verkörpern quasi die sozioökonomischen Herrschaftsstrukturen einer Gesellschaft. Dabei bilden sie kein festgefügtes Kollektiv, sondern verändern laufend ihre Zusammensetzung.
Marx und Engels zufolge entstehen Klassengesellschaften, wenn sich eine Personengruppe aufgrund ihrer privilegierten Stellung im Prozess der materiellen Produktion das gesellschaftliche Mehrprodukt anzueignen vermag. Das kapitalistische Privateigentum fällt nicht vom Himmel, sondern entsteht durch (gewaltsame) Aneignung bzw. durch Enteignung der Mehrwert produzierenden Lohnarbeiter/innen. Das bestehende Wirtschaftssystem basiert auf rechtlicher Gleichheit, aber sozioökonomischer Ungleichheit, die es auch ständig reproduziert.
Klassen repräsentieren für Marx und Engels die Produktions-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse einer Gesellschaft, bilden aber nicht bloß deren Sozialstruktur ab, bestimmen vielmehr auch die Richtung und das Tempo des sozialen Wandels. Die soziale Ungleichheit beruht auf der ökonomischen Ungleichheit, welche sich in der Klassenspaltung manifestiert und politische Ungleichheit nach sich zieht.
»Entfesselung« der Finanzmärkte und Entwicklung der Klassenverhältnisse
Geändert haben sich im Übergang zum Finanzmarktkapitalismus der Gegenwart die technologischen Grundlagen (Computerisierung, Digitalisierung und Automatisierung) einerseits sowie die internationalen Rahmenbedingungen (Ende des alten Ost-West-Gegensatzes und Aufstieg Chinas als Wirtschaftsmacht) andererseits.
Mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und dem Kollaps »realsozialistischer« Systeme in Ost(mittel)europa erfasste die Herrschaft des Marktes den ganzen Planeten. Die kapitalistische Wirtschaft war zwar immer auf den Weltmarkt orientiert, ihrem Expansionsdrang und dem freien Kapitalfluss hatte der Staatssozialismus aber reale Grenzen gesetzt. Nach dessen Bankrott gab es ein politisch-ideologisches Vakuum, in das neoliberale Kräfte mit Erfolg hineinstoßen konnten.
Die jüngste Zunahme der Ungleichheit war kein unsozialer Kollateralschaden der Globalisierung und auch kein sozialpolitischer Betriebsunfall, wurde vielmehr bewusst herbeigeführt. Eine vom Neoliberalismus dominierte Regierungspraxis ist für die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich verantwortlich. Weder die Gier der nach Boni lechzenden Investmentbanker noch der Größenwahn des Spitzenmanagements, die Risikofreude der Spekulanten und der Geiz von Großinvestoren können erklären, warum die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland einem Rekordstand zustrebt. Ohne die neoliberale Hegemonie, mithin die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, wäre der Trend zur sozialen Polarisierung und zur Entsolidarisierung nicht dominant geworden.
Durch die Verbindung zwischen Finanzwirtschaft und Internetökonomie ist eine vermögende Oligarchie entstanden, die mittlerweile innerhalb der herrschenden Klasse dominiert. Auf den Finanzmärkten mehren die Hochvermögenden ihren enormen Reichtum, ohne dass sie dafür eine nennenswerte (Arbeits-)Leistung erbringen müssten. Außerdem hat der Kapitalismus in seinem jüngsten Entwicklungsstadium ein Heer von Gehilfen des Finanzkapitals entstehen lassen, die extrem hoch bezahlt sind, ohne gesellschaftlich Sinnvolles zu tun. Zu den Berufsgruppen, die aus gesellschaftlicher Sicht weitgehend überflüssig erscheinen, gehören beispielsweise Investmentbanker, Broker, Fondsmanager, Wirtschaftsprüfer und Versicherungsmakler. Reich wird am schnellsten, wer mit dubiosen Finanzprodukten (Derivaten, Futures und Optionen) handelt, auf den internationalen Kapitalmärkten mit hohem Risiko investiert und erfolgreich an den Börsen spekuliert.
Dagegen gehören Millionen (Langzeit-)Erwerbslose, prekär Beschäftigte, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Senior(inn)en und Migrant(inn)en von Beginn an zu den Verlierer(inne)n, weil sie im Kasino der Finanzmärkte gar nicht mitspielen (können) und die schwächste Position in einer vom Neoliberalismus dominierten Gesellschaft haben.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat zuletzt das Buch »Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland« veröffentlicht. Heute erscheint sein neues Buch »Ungleichheit in der Klassengesellschaft« im PapyRossa Verlag.
Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt.