Rezension
Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt
26. November 2020 | Bernd Hüttner
Mit diesem Buch möchten die Herausgeber*innen dazu beitragen, das Schweigen zu brechen. Das Schweigen von jenen, die selbst aus einer Arbeiter*innen-Klasse oder Armutsklasse herkommen und klassistische Erfahrungen gemacht haben.
Unter ▸Klassismus wird gemeinhin ein Unterdrückungsverhältnis beschrieben, das auf einer Abwertung, Ausgrenzung und Marginalisierung entlang von Klasse beruht. Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit und richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, zum Beispiel gegen einkommensarme, erwerbslose oder wohnungslose Menschen oder Arbeiter*innenkinder.
Das Buch enthält elf autobiographische Texte, die auf Basis von Interviews entstanden sind. ▸Theissl und Aumair war es wichtig, so nahe wie möglich an der gesprochenen Sprache zu bleiben, die Texte lesen wie eine protokollierte mündliche Erzählung.
An erster Stelle steht in vielen Beiträgen die Bedeutung von Bildung, da Klassenreisen vor allem aufgrund von Bildungsentscheidungen zustande kommen. Aber auch Sprache, Geschlecht und eine biografische Scham prägen Klassenreisen entscheidend. In diesem Buch wird erstmals auch die dörfliche Herkunft als besondere Quelle der Scham für Klassenreisende thematisiert. Im Gegensatz zur Stadt als (angeblichem) Zentrum des Fortschritts und des kulturellen Lebens wird das Dorf als Hort des Rückständigen konstruiert.
Die beiden Herausgeber*innen verweigern, davon zeugen die fulminante Einleitung und die ebensolche Nachbetrachtung, eine unpolitische Sichtweise auf Klassismus. Für sie ist anti-klassistischer Aktivismus nicht etwas, mit dem für eine Teilhabe von Arbeiter*innen-Kindern an bürgerlichen Privilegien gekämpft wird, sondern die Klassengesellschaft wird herrschaftskritisch an sich infrage gestellt. Sie plädieren für einen ▸intersektionalen Feminismus, der die gegenseitige Verschränkung verschiedener Herrschaftsverhältnisse (Kapitalismus, Rassismus, Sexismus, etc) angreift. Einen solchen Feminismus verstehen sie als eine Utopie, die das gute Leben für alle bedeutet. Armut diene der Aufrechterhaltung bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse, indem sie unmittelbar Betroffene, Erwerbslose und Beschäftigte gleichermaßen diszipliniere.
Zweifellos ist Männlichkeit eng mit Erwerbsarbeit verknüpft. Hegemoniale Männlichkeiten, also jene, die mit dem größtmöglichen gesellschaftlichen Status einhergehen – weiß, heterosexuell, ohne Behinderung – sind stets auch eine des ökonomischen Erfolgs und ein Bestandteil von klassistischen Mustern.
Die Texte sind ein gelungener Mix aus theoretischen Überlegungen und »persönlichen« Erfahrungen, die doch nicht exakt getrennt werden können: »Du gehörst nicht hin, wo du bist, aber du gehörst auch nicht mehr dorthin, wo du herkommst.« Diese Erfahrung machen viele. Aber gibt es eine Vokabel für die Trauer über den sozialen »Aufstieg«?
Bei der Lektüre wird - einmal mehr - deutlich, wie »ungerecht« das Bildungssystem und die Vermögensverteilung sind, und wie stark Klassismus wirkt; wie er Menschen in ein »Unten« und ein »Oben« einteilt und sie in ihren Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt.
Die Lektüre von »Klassenreise« macht Mut und bestärkt. Dafür gebührt den engagierten Herausgeberinnen ein großes »Danke«. Interessant ist, dass ein Titel zu diesem Thema im Verlag des ▸Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) erscheinen kann. Es wäre gut, wenn auch die deutschen Gewerkschaften sich des Themas Klassismus stärker annehmen würden.
Betina Aumair, Brigitte Theißl (Hrsg.): ▸Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt ; ÖGB-Verlag, Wien 2020, 140 Seiten, 19,90 EUR.
Bernd Hüttner ist Politikwissenschaftler. Er lebt und arbeitet in Bremen und ist Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Webseite: www.bernd-huettner.de.