Rezension
Klassentheorie - Vom Making und Remaking
20. Januar 2021 | Bernd Hüttner
In dem neuen, von Mario Candeias herausgegebenen Buch geht es um Theorien, die über Klassen, konkret die »Arbeiterklasse«, in der marxistischen und marxistisch-feministischen Linken entwickelt wurden.
Nach Candeias (Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg) hängt die Position der Arbeiter*innen, und damit auch die Möglichkeit zu Kämpfen, im Wesentlichen von drei Faktoren ab. Erstens der Stellung im Produktionsprozess, also in welchem Sektor mit welcher Wertschöpfung man/frau zu welchen Bedingungen beschäftigt ist. Dann zweitens der Zugang zu Infrastruktur und zum »Öffentlichen«, also den Bereichen wie zum Beispiel Gesundheit, Wohnen, Bildung und Mobilität, in denen es heute viele öffentlich wahrnehmbare Konflikte gibt. Der dritte Bereich ist Konsum (und Kultur). Konsum wird hier als struktureller Zusammenhang mit der Produktion gedacht. Nicht zu vergessen ist der Staat als Feld des Klassenkampfes und als Verdichtung von Kräfteverhältnissen. Hegemonie besteht eben, nach Gramsci, aus Zustimmung und Gewalt.
Nach diesem Raster einer modernen, von Gramsci herkommenden Klassentheorie hat Candeias nun die ▸über zwei Dutzend Texte ausgesucht. Sie sind im Buch thematisch sortiert (vgl. ▸Inhaltsverzeichnis ) und stammen aus einem Zeitraum von 1906 (Rosa Luxemburg) bis heute. Nach drei historischen (zweimal Gramsci und, wie erwähnt, Luxemburg) kommen ein Dutzend aus der Zeit von 1963 bis 1988, also der ungefähren klassischen Phase des Fordismus (unter anderem von Balibar, Bourdieu, Dalla Costa, Stuart Hall und zu Poulantzas und Negri).
Nach einem Sprung folgen weitere zwölf aus dem Zeitraum 2002 bis heute (also der Hochphase des Neoliberalismus?). Hier sind unter anderem Klaus Dörre, Frigga Haug, Ursula Huws, Gayatri Chakravorty Spivak und fünf Texte aus 2017ff. zur Debatte um »Neue Klassenpolitik« zu finden, wie sie etwa im Sonderheft der Zeitschrift LuXemburg und anderswo dokumentiert ist. Jetzt zu kritisieren was fehlt (etwa Althusser oder weitere feministische Denkerinnen) ist wohlfeil, zumal der Herausgeber in seiner sehr guten und pointierten Einleitung (S. 9-35) darauf hinweist, dass nicht alle erwünschten Abdruckrechte eingeholt werden konnten.
Was aber nun vorliegt, ist ein preiswertes, umfangreiches Lesebuch zur entwickelten neomarxistischen und marxistisch-feministischen Klassentheorie. Es ist ein kleiner Beitrag zur Wiederaneignung eines reichhaltigen Fundus. Das formulierte Ziel einer queeren, ökologischen Klassenpolitik, die Identitäts- und Klassenpolitik nicht als Widerspruch denkt, ist sympathisch. Ob die »verbindende Partei« und die »verbindende Klassenpolitik«, wie sie in der LINKEN und von einzelnen linken GewerkschafterInnen propagiert wird, dafür ein Instrument sein kann, muss sich noch weiter zeigen.
Bibliografische Angaben
Mario Candeias (Hrsg.): Klassentheorie. Von Making und Remaking, Argument Verlag 2021, 560 Seiten, 20 EUR.
Bernd Hüttner ist Politikwissenschaftler. Er lebt und arbeitet in Bremen und ist Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Webseite: www.bernd-huettner.de.