Lektüretipps für den Sommer 2017
14. Juli 2017 | Redaktion
Sommerzeit ist Lesezeit. Sie finden daher nachfolgend einige Hinweise auf Romane, Krimis und (auto-)biografisch gefärbte Veröffentlichungen, die wir für lesenswert erachten. – Mit diesen Lektüretipps verabschieden wir uns in die Sommerpause. Der nächste Artikel erscheint am 21. August. Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern bis dahin eine schöne Zeit!
Christoph Hein: Paula Trousseau
Jedes Leben muss gelebt werden... Paula Trousseau entstammt schwierigen Familienverhältnissen. Als sie sich für die Malerei entscheidet, kann sie sich von den sie einengenden Beziehungen befreien. Doch immer wieder muss sie Widerstände überwinden, wobei sie konsequent bis rücksichtslos ihren eigenen Weg geht. Das hat mitunter drastische Folgen für ihre Mitmenschen, doch die dahinter stehende unbedingte Härte gegen sich selbst ist auch für Paula nicht dauerhaft erträglich. Am Ende des Buches wird man sie wohl dennoch ins Herz geschlossen haben und man versteht, sie konnte nicht anders.
Christoph Hein schildert die Lebensgeschichte aus der rückblickenden Perspektive der Protagonistin, er lässt sie quasi erzählen. Vor allem durch die durchgängig einfach gehaltene Sprache wirkt das sehr authentisch.
[Frankfurt: Suhrkamp 2007, 537 Seiten]
Eine Auswahl von Rezensionen hält der Perlentaucher bereit.
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Upton Sinclair: Boston
In einer Mischung aus quellenbasierter journalistischer Praxis und literarischer Erzählung greift Sinclair hier die Geschichte der beiden italienischen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti auf, die 1920 der Beteiligung an einem doppelten Raubmord bezichtigt wurden und nach einem umstrittenen Gerichtsverfahren mit gefälschten Beweisen und einem befangenen Richter zum Tode verurteilt und nach sieben Jahren Haft hingerichtet wurden.
Der Roman des gesellschaftskritischen und politisch engagierten amerikanischen Schriftstellers Upton Sinclair (1878-1968) erschien bereits im Jahr 1928. Als Beispiel für die Brutalität damaliger US-kapitalistischer Verhältnisse und einer dazu gehörigen korrupten Justiz ist der Klassiker auch heute noch lesenswert, zumal er jetzt in einer Neuübersetzung vorliegt, die von der Kritik viel Lob erfuhr. Im Deutschlandfunk etwa hieß es, die Übersetzung orientiere sich vor allem in der vielschichtigen Figurenrede stärker am Original.
[Zürich: Manesse 2017, 1030 Seiten]
Rezension der Neuerscheinung im Deutschlandfunk.
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Klaus Modick: Die Schatten der Ideen
Während eines Gastaufenthaltes am amerikanischen Centerville College findet der Hamburger Schriftsteller Moritz Carlsen die versteckten Niederschriften eines vor den Nazis in die USA emigrierten jüdischen Wissenschaftlers. Der Historiker beschreibt darin, wie er es nach schwierigem Start zum Professor an eben diesem College gebracht hat, dann aber unverschuldet in die Mühlen von McCarthys Hexenjagd auf Kommunisten gerät. Als Carlsen damit beginnt, die Geschichte in Form eines Romans aufzugreifen, gerät er prompt in Schwierigkeiten, denn der damalige Vorgang ist immer noch brisant.
Literarisch vielleicht keine Sternstunde (Modick hat schon mal inspirierter geschrieben), doch souverän erzählt bietet der Roman einen Einblick in eine in ihrer Irrationalität und Hysterie heute schwer vorstellbare Phase der jüngeren amerikanischen Geschichte. Zugleich wirft das Buch jenseits von platten Antiamerikanismen ein kritisches Licht auf die amerikanische Gesellschaft zur Amtszeit von George W. Bush.
[Berlin: Eichborn 2008, 460 Seiten]
Rezensionen gibt es bei buecher.de.
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Édouard Louis: Das Ende von Eddy
Eddy Bellegueule wächst in beengten und ärmlichen proletarischen Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf auf. In seiner Erzählung schildert er rückblickend eine Welt der rein bipolaren Geschlechterrollenzuweisung, in der er mit seinen femininen Verhaltensweisen einen schweren Stand hat. In den Augen der Gleichaltrigen ist er eine Schwuchtel, und auch die Erwachsenen meinen, mit ihm stimme was nicht, er verhalte sich nicht wie ein „richtiger Mann“.
Nach quälenden Versuchen, doch irgendwie dem Bild des Heterosexuellen zu entsprechen, erlöst ihn der Wechsel in ein Internatsgymnasium von den Demütigungen und der Gewalt. Er wendet sich vom Dorf und von den Eltern ab und wechselt in die bürgerliche Klasse, die dem Homosexuellen toleranter begegnet. Das Buch ist trotz aller Anklage weder Abrechnung noch Rache, denn Louis weiß nur zu gut, dass seine Eltern wie auch die anderen Dorfbewohner von den niederdrückenden Lebensverhältnissen "verunstaltet" worden sind.
[Frankfurt: S. Fischer, 2015, 208 Seiten]
Dazu: Ein Interview mit dem Autor.
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Nora Bossong: 36,9o
Ein mäßig erfolgreicher Wissenschaftler reist nach Rom, um ein lang verschollenes Notizheft Antonio Gramscis zu finden. Privat wie wirtschaftlich vor dem Aus stehend, hofft er, auf diese Weise doch noch zumindest seine Karriere retten zu können. Doch sein obsessiver Hang zu Frauenaffairen, der seine Ehe hat scheitern lassen, bringt ihn auch in Rom aus dem Tritt.
Auf einer zweiten, interessanteren Erzählebene nähert sich Nora Bossong dem italienischen Marxisten Gramsci auf ganz eigene Weise an. Anhand seiner Gefängnisbriefe (nicht seiner berühmteren "Gefängnishefte) schildert sie ihn nicht als brilianten Theoretiker und Philosophen, sondern als liebenden Privatmann. Dabei beschränkt sie sich im Wesentlichen auf jene Lebensphase in den 1920er Jahren, in der sich der erschöpfte und fieberkranke Gramsci in einem sowjetischen Sanatorium erholt, und sich in eine russische Genossin verliebt. Doch wie soll Gransci die an ihn angetragenen Aufgaben als Revolutionär mit dem Wunsch nach privatem Glück verbinden?
[München: Hanser 2015, 318 Seiten]
Rezension des Buches bei FR online.
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KRIMI:
Ian Rankin: Ein kalter Ort zum Sterben
Nach vielen Jahren der Ermittlungsarbeit ist Inspector Rebus pensioniert. Er ist nicht mehr bei bester Gesundheit, doch ein nie aufgeklärter Mord im Edinburgher Caledonian Hotel an einer Bankiersgattin vor 40 Jahren treibt ihn um und lässt ihn Akten wälzen. Schon bald tauchen Verbindungen auf zwischen dem alten Mord und den neuen Fällen, an denen Rebus’ ehemalige Kollegen arbeiten.
Vor dreißig Jahren erschien der erste „Rebus“-Krimi des schottischen Autors Ian Rankin. Mittlerweile sind es 21 geworden, in denen der melancholische Serienheld ermittelt, was seinem Schöpfer zahlreiche Preise eingebracht hat.
[München: Goldmann 2017, 475 Seiten]
Interview mit dem Autor über seinen neuen Roman.
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Christian von Dittfurth: Zwei Sekunden
Ein Politthriller, der ausgehend von einem fehlgeschlagenen Terroranschlag auf die Bundeskanzlerin und ihren Gast Putin das große Rad dreht und dabei Zweifel an der Sicherheitsarchitektur streut. Im Zentrum steht Kriminalhauptkommissar Eugen de Bodt vom Berliner LKA. In der Zusammenarbeit mit russischen Kollegen ergibt sich bald der Verdacht, dass der Anschlag vielleicht gar nicht missglückt ist, womit die Jagd auf die Attentäter erst beginnt.
„Die Kunst dieser Art von Thriller besteht darin, den Thrill des Spekulativen, die Plausibilität des Szenarios und die unterhaltenden Elemente organisch zusammen zu bringen. Genau das gelingt in "Zwei Sekunden" blendend“, konstatierte Thomas Wörtche im Deutschlandfunk.
[München: Carl’s Books 2016, 460 S.]
Rezension im Deutschlandfunk.
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Klaus Ulaszewski: Selbstverständlich Pistolen
Eine Agentur für besondere Wünsche organisiert für einen Auftraggeber ein angeblich ungefährliches Duell mit alten Pistolen. Dann aber geht doch alles schief, die Polizei muss ermitteln. Ein scheinbar harmloser Fall gerät ins Rollen, der ungeahnte Dimensionen und Motive offenbart und zur Aufklärung eines bisher ungelösten Falles von organisiertem Kunstdiebstahl führt.
Der Debutroman firmiert unter dem Titel Cozy Crime. Es gibt weder einen Mord noch Gewalttätigkeiten. Eine heitere sommerliche Erzählung, die durch den ungewöhnlichen Kriminalfall besticht, in dem sich in guter Krimitradition erst zum Ende hin alles auflöst.
Buchvorstellung bei buecher.de.
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Denis Johnson: Keine Bewegung!
Jimmy Luntz hat Spielschulden bei einer Organisation ehrenwerter Herren. Als ihn deren Geldeintreiber in die Finger kriegt, kann er dem zwar mit heiler Haut entkommen, sitzt nun aber er erst recht in der Tinte. Auf der eher planlosen Flucht kreuzen sich seine Wege mehrmals mit einer attraktiven Frau - und plötzlich sind sie ein Tandem, und es geht um 2,3 Millionen, die an Land zu ziehen möglich scheint.
Es gibt Bücher, die ziehen einen schon mit den ersten Sätzen in sich hinein. Die als Thriller titulierte Ganovengeschichte vom kürzlich und zu früh verstorbenen amerikanischen Autor Denis Johnson ist so ein Buch. Johnson, sonst für eher ernstere Geschichten und Reportagen bekannt, hatte wohl Lust, sich auch mal am Krimigenre zu versuchen. Herausgekommen ist eine Art schwarzer Komödie, die sich einen (satirischen?) Spass daraus macht, mit den Genre-Klischees von Trivialromanen zu spielen. Am besten ein paar Stunden Zeit nehmen und in einem Rutsch lesen.
[Reinbek: Rowohlt 2010, 460 S.]
Eine Rezension und ein Nachruf auf Denis Johnson aus der NZZ.
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COMING OF AGE:
Zwei Arbeitersöhne an der Schwelle zur Pubertät, zweimal Sommerferien, schwierige Verhältnisse und erstes sexuelles Begehren. Und doch könnten die Romane unterschiedlicher nicht sein.
Paul McVeigh: Guter Junge
Mickey wächst in einer katholischen Siedlung im irischen Belfast der 80er Jahre auf. Er hat gerade die Grundschule beendet und verbringt seine Ferien in der bangen Hoffnung, vielleicht doch nicht auf die Hauptschule gehen zu müssen, sondern auf eine höhere Schule wechseln zu können. Doch das Geld dafür ist praktisch nicht vorhanden, denn sein Vater ist abgehauen und seine Mutter muss jeden Penny zweimal umdrehen.
Der Debutroman des 1968 in Belfast geboren Autors spielt zur Zeit des Nordirland-Konflikts in einem Arbeiterviertel. Die herrschenden kriegsähnlichen Zustände sind in der Erzählung immer präsent, sie bilden die Hintergrundfolie, auf der die Normalität der aus der Perspektive des Jungen geschilderten Kindheitserlebnisse merkwürdig absticht.
[Frankfurt/M.: Wagenbach 2016, 256 S.]
Rezension im RBB-Kulturradio.
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Ralf Rothmann: Junges Licht
Der Roman spielt in einer Zechensiedlung der 60er Jahre im Ruhrgebiet. Der Bergarbeitersohn Julian hat gerade die Grundschule beendet und verbringt die Sommerferien zuhause, weil das Geld für einen Urlaub nicht für die ganze Familie reicht. Während Mutter und Tochter an die See verreisen, bleibt er mit seinem Vater zuhause, wo nicht nur ihm die Nachbarstochter den Kopf verdreht - mit ungeahnten Folgen.
Rothmann kennt das Milieu aus eigener, wohl auch leidvoller Erfahrung. Die aus der Sicht des Jungen eher unbefangen gehaltene Erzählung gibt die beklemmenden Verhältnisse in vielen Arbeiterfamilien und den rauen Umgang der Jugendlichen untereinander dennoch in einer Art und Weise zu erkennen, die wenig Platz lässt für romantische Verklärungen des Proletariats.
[Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, 237 S.]
Buchvorstellung bei Freitag.de.