Löhne erhöhen statt Steuern senken – nachhaltige Handlungsoptionen im Aufschwung
3. Dezember 2015 | Ingo Schäfer, Tobias Peters
Steuersenkungen sind populär. Gerade erst hat der Bundestag beschlossen, Steuersenkungen vorzunehmen. Angesichts von Wirtschaftsaufschwung, „Rekordsteuereinnahmen“ und einem ausgeglichen Bundeshaushalt scheint dies ein geradezu logischer Schritt zu sein. Doch bei näherer Betrachtung ist die Analyse nicht ganz so eindeutig – es spricht sogar nur wenig dafür, Steuern großflächig und insbesondere zu Gunsten der höchsten Einkommen zu senken. Angebrachter wäre es, den Steuertarif so zu ändern, dass untere und mittlere Einkommen entlastet würden, jedoch ohne dass es zu Steuerausfällen käme. Vor allem aber sollten die Beschäftigten durch merkliche Lohnerhöhungen am Aufschwung beteiligt werden.
Der Bundestag hat am 18. Juni 2015 mit Zustimmung des Bundesrats vom 10. Juli 2015 beschlossen, die Einkommensteuerbelastung zu senken. Diese Entlastung umfasst im Wesentlichen drei Aspekte: erstens die verfassungsrechtlich gebotene Anhebung des Grund- und Kinderfreibetrags, einschließlich einer (nicht verfassungsrechtlich vorgeschriebenen) Anhebung des Kindergelds. Zweitens wurde der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende erhöht und nach Kinderzahl gestaffelt. Drittens soll die sogenannte „kalte Progression“ bekämpft werden, indem der gesamte Einkommensteuertarif nach rechts gestreckt wird.
Die tatsächliche Entlastung durch die Maßnahmen ist überschaubar. Für einen durchschnittlich verdienenden Single liegen sie 2016 gegenüber 2014 bei knapp acht Euro im Monat. Davon entfallen allein über fünf Euro auf die Anhebung des Grundfreibetrags. Diese Anhebung ist zwingend erforderlich, um – wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert – das Existenzminimum steuerfrei zu stellen. Für höhere Einkommen fällt die Entlastung deutlicher aus, da sie von der Rechtsstreckung des Steuertarifs (im Zuge des Abbaus der „kalten Progression“) profitieren. Alleinerziehende Eltern profitieren zusätzlich von der deutlichen Anhebung des Alleinerziehenden-Entlastungsbetrags. Bei durchschnittlichem Einkommen liegt die Entlastung hier monatlich bei gut 30 Euro. Hinzu kommen die sechs Euro Kindergelderhöhung. Einem Ehepaar mit durchschnittlichem Einkommen verbleiben ungefähr 18 Euro mehr, ebenfalls zuzüglich der sechs Euro Kindergeld.
Die Steuersenkungen führen auf der anderen Seite unmittelbar zu Mindereinnahmen von jährlich 5,4 Milliarden Euro für Bund, Länder und Gemeinden (vgl. Bt.-Drs. 18/5244). Die Erhöhungen der Freibeträge (Grundfreibetrag, Kinderfreibeträge und Alleinerziehenden-Entlastungsbetrag) belasten die öffentlichen Haushalte mit gut 3,5 Milliarden Euro. Die Erhöhungen der Freibeträge sind gleichwohl sinnvoll und notwendig, da sie insbesondere Personen mit niedrigem Einkommen sowie Familien entlasten. Die Bekämpfung der „kalten Progression“ hingegen kommt vor allem Personen mit hohen Einkommen zugute, die in absoluten Zahlen stärker entlastet werden. Die Steuerverluste für Bund, Länder und Gemeinden betragen für den Abbau der „kalten Progression“ rund 1,5 Milliarden Euro.
Einkommensteuer senken wegen „Rekord-Steuereinnahmen“?
Die Auseinandersetzung um die Bekämpfung der „kalten Progression“ wurde besonders intensiv geführt. Hauptargumente der Befürworter eines Abbaus sind die „Rekord-Steuereinnahmen“ und der ausgeglichene (Bundes-)Haushalt, der eine Entlastung um die „kalte Progression“ ermögliche. Aber auch wenn die wiederkehrende Botschaft von den „höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten“ verfängt, sagt sie für sich genommen weder etwas über Haushaltsspielräume noch über effektive Steuerbelastungen aus. Denn der Befund über „Rekord-Steuereinnahmen“ lässt die Infl ation und das nominale Wirtschaftswachstum samt steigender Lohn- und Gewinnsummen außer Acht.
Zurzeit erlebt die Bundesrepublik einen stabilen wirtschaftlichen Aufschwung. Damit einher gehen beinahe zwangsläufig steigende Steuereinnahmen. So führt eine steigende Beschäftigtenzahl selbst ohne Lohnerhöhungen zu höheren Steuereinnahmen. Gleichzeitig sprudeln die Gewinne vieler Unternehmen. Auch der Konsum wächst und mit ihm die Einnahmen aus Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) und anderen indirekten Steuern. Tatsächlich sind seit 1992 die Steuereinnahmen 18 Mal gestiegen, davon 13 Mal auf „Rekordwerte“ (vgl. Abbildung 1). Nur selten dagegen sinken die Steuereinnahmen – das war im selben Zeitraum lediglich fünf Mal der Fall. Gründe hierfür waren Steuerreformen, die Einnahmeausfälle nach sich zogen, und/oder wirtschaftliche Krisen.
Abbildung 1: Entwicklung der Steuereinnahmen in Deutschland 1992-2014 in Mrd. Euro. Quelle: Statistisches Bundesamt.
Zu beachten ist außerdem, dass sich die Einnahmen aus den verschiedenen Steuerarten sehr unterschiedlich entwickeln. Und steigende Einnahmen aus einer Steuerart können unterschiedlichste Ursachen haben. Allgemein von steigenden Steuereinnahmen zu reden – und dann als Konsequenz schlicht Senkungen einer bestimmten Steuerart, beispielsweise der Lohn- und Einkommensteuer, zu fordern – greift zu kurz. So sind die Einnahmen aus den Umsatzsteuern seit 1992 preisbereinigt um 40 Prozent gestiegen (maßgeblich wegen der Erhöhung der Mehrwertsteuersätze). Die Einnahmen aus der Einkommensteuer hingegen stiegen um nur sieben Prozent und blieben damit deutlich hinter dem Wirtschaftswachstum von knapp 20 Prozent zurück – beides preisbereinigt.
Muss die „kalte Progression“ beseitigt werden?
Es soll keineswegs geleugnet werden, dass die „kalte Progression“ ein dem Einkommensteuerrecht immanentes Phänomen ist, das regelmäßigen Anpassungsbedarf nach sich zieht. So führt eine Lohnerhöhung – wie durch einen progressiven Tarif intendiert – zu einer höheren steuerlichen Belastung. Insoweit die Lohnerhöhung lediglich die allgemeine Teuerung ausgleicht, ergibt sich ein relativer Kaufkraftverlust. Der Staat verdient also mit, da seine Einnahmen überproportional steigen. Zwar sind die Inflationsraten in Deutschland in der Regel niedrig, aber über die Jahre summieren sich auch viele kleine Wertverluste – beziehungsweise Mehreinnahmen für den Staat – zu einer erheblichen Summe. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt gleichwohl, dass es in regelmäßigen Abständen (von meist einigen wenigen Jahren) große Einkommensteuerreformen gab. In deren Zuge wurde dann auch jeweils die Problematik der „kalten Progression“ bis auf weiteres ausgeschaltet – oder gar überkompensiert. Eine alleinige und isolierte Beseitigung der „kalten Progression“ hat es hingegen nie gegeben. Tarifänderungen hatten stets auch andere Ziele. Dies sollte auch für die Zukunft ein gangbarer Weg sein.
Ein dauerhaftes Problem war die „kalte Progression“ also nie und wird es auf mittlere Sicht voraussichtlich auch nicht werden – das lassen die niedrigen Inflationsraten vermuten. Vergleiche über längere Zeiträume zeigen, dass die durchschnittliche Einkommensteuerbelastung keineswegs stetig gestiegen ist – insbesondere nicht in höheren Einkommensgruppen. Kurzum: Steigende Steuereinnahmen des Staates sind in einer wachsenden Volkswirtschaft der Normalfall. Sie sind auch nötig, damit der Staat beispielswiese die Sätze für seine Sozialleistungsausgaben an die Preissteigerungen anpassen kann. Einnahmen, die über die Teuerungsrate hinaus gehen („kalte Progression“), sind bislang immer im Zuge von Steuerreformen ausgeglichen worden, sodass langfristig keine Mehrbelastung durch die Einkommensteuer zu attestieren ist.
Öffentliche Aufgaben nachhaltig finanzieren
Die Politik hat im Jahr 2006 die Schuldenbremse für Bund und Länder eingeführt. Ab dem Jahr 2020 dürfen sich die 16 Bundesländer nicht mehr weiter verschulden – und der Bund nur sehr begrenzt. Begründet wurde die Schuldenbremse unter anderem damit, dass „die in Zeiten eines wirtschaftlichen Abschwungs […] verursachten zusätzlichen Defizite durch Bildung von Überschüssen in Zeiten eines Aufschwungs“ nicht wieder ausgeglichen wurden (vgl. Gesetzesbegründung auf Bt.-Drs. 16 / 12410: S. 5).
An diesem neuralgischen Punkt befinden wir uns aktuell: Deutschland hat richtigerweise mit groß angelegten schuldenfinanzierten Wachstumsprogrammen auf den massiven Wirtschaftseinbruch durch die Finanzkrise 2008/2009 reagiert und diesen dadurch vergleichsweise schnell und erfolgreich gemeistert. Allerdings musste der Staat seit 2008 auch rund 400 Milliarden Euro zusätzliche Schulden aufnehmen. Dagegen lag der Überschuss des Staates (Bund, Länder, Gemeinden) im Jahr 2014 bei gerade mal gut drei Milliarden Euro. Und auch dieses Jahr soll er nur unwesentlich höher liegen.
Eine antizyklische Politik heißt, nicht nur Haushaltsdefizite im Abschwung zuzulassen, sondern auch Überschüsse im Aufschwung zu erreichen, um die zur Stabilisierung der Wirtschaft aufgenommenen Schulden zurückzuzahlen. Eine Stärkung dieses Paradigmas war die Absicht hinter der Einführung der Schuldenbremse. Paradoxerweise scheinen ausgerechnet in konservativen Kreisen mittlerweile zunehmend Vorbehalte gegen die Schuldenrückführung (und damit den Verzicht auf groß angelegte Entlastungen) zu bestehen.
Der Bund und einige Länder müssen derzeit tatsächlich keine zusätzlichen Schulden aufnehmen, um ihre Aufgaben zu finanzieren. Auf der anderen Seite müssen finanzschwächere Bundesländer, darunter auch Bremen, weiterhin trotz guter Konjunktur Kredite aufnehmen, um ihre Aufgaben finanzieren zu können. Senkungen der Einkommensteuer gehen wegen der Steuerverteilung rund zur Hälfte auch zu Lasten der Länder. Damit würde das Haushaltsloch in Bremen und anderswo also noch größer werden statt endlich kleiner – und das Einhalten der Schuldenbremse wäre deutlich erschwert.
Der Aufschwung sollte nicht nur genutzt werden, um einen mindestens ausgeglichenen Haushalt zu erreichen und einen Teil des (krisenbedingten) Schuldenstands abzubauen, sondern auch, um die Kommunen zu unterstützen sowie schon lange unterlassene Investitionen zu tätigen. Der Fehler der Vergangenheit – im Aufschwung die Steuern zu senken statt zu investieren und die Schulden teilweise abzutragen – sollte nicht neuerlich begangen werden. Mittelfristig wären über einen Schuldenabbau deutliche Entlastungen des Staates beim Schuldendienst zu realisieren, wodurch sich neue Spielräume eröffneten.
Werden hingegen heute die Steuern gesenkt, fehlen die Einnahmen im nächsten Abschwung umso mehr. Dann stünde unweigerlich erneut die Frage von Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen an. Dies wäre jedoch eine prozyklische Wirtschaftspolitik. Der Staat sollte auf die Einnahmen nun also nicht verzichten. Die „Null-Zins“-Politik der EZB, die deutlich steigende Binnennachfrage sowie die hohe Wettbewerbsfähigkeit der Export-Industrie bieten eine ausreichende Grundlage für weiteres stabiles Wirtschaftswachstum. Insofern wären die Beschäftigten viel besser und nachhaltiger über deutliche Lohnerhöhungen am Aufschwung zu beteiligen.
Investieren und konsolidieren statt Steuern senken
Auch wenn Steuersenkungen zunächst einmal attraktiv klingen, sollten oben angeführte Aspekte bedacht werden. In der Vergangenheit wurden gerade nach Steuersenkungen die Ausgaben des Staates regelmäßig deutlich gekürzt, mit dem Ziel die Neuverschuldung zu senken oder zu beenden. Nicht zuletzt deswegen hat sich ein massiver Investitionsstau in Deutschland herausgebildet (vgl. Böckler Impuls 09/2014). Kaum decken die Einnahmen mal wieder in etwa die Ausgaben, sollen die Einnahmen schon wieder gekürzt werden. Eine solche Spirale kann nicht zu gesunden Staatsfinanzen bei einer gleichzeitig angemessenen Ausgabenbasis führen. Am Ende ständen ein „auf Kante genähter“ Haushalt und ein Staat, der nicht über genügend Geld für Infrastruktur, Bildung und Soziales verfügt. Der durchschnittlich verdienende Beschäftigte hätte dafür durch Steuersenkungen unwesentlich mehr „in der Tasche“, würde aber vermutlich unter dem weiteren Verfall der staatlichen Infrastruktur leiden.
Die Politik hat nun die Einkommensteuer gesenkt. Zumindest auf die „Bekämpfung der kalten Progression“ ohne Gegenfinanzierung hätte dabei verzichtet werden können. Um die Einnahmen nicht erodieren zu lassen und die Schuldenbremse einzuhalten, könnte jedoch zumindest über eine Weitererhebung des Solidaritätszuschlags auch nach 2020 diskutiert werden. Ein Verzicht auf den „Soli“ wäre eine Steuersenkung von rund 18 Milliarden Euro. Diese Steuersenkung wäre also nicht nur teuer, sie würde auch erneut gerade die höchsten Einkommensbezieher entlasten.
Wünschenswert wäre eher eine aufkommensneutrale Reform des Steuertarifs. Ziel müsste es sein, die starke Progression im unteren und mittleren Einkommensbereich (sogenannter „Mittelstandsbauch“) zu senken. Um die oben skizzierten Probleme zu vermeiden und Einnahmeausfälle zu begrenzen, sollte der Einkommensteuertarif im oberen Bereich angepasst werden. Ein entsprechend verlängerter Tarifverlauf (also ein Anstieg des Grenzsteuersatzes über ein zu versteuerndes Einkommen von 52.882 Euro hinaus) wäre eine angebrachte Tarifkorrektur. Auch könnten Kapitalgewinne wieder entsprechend der allgemeinen Einkommensteuer besteuert werden, statt mit der in der Regel begünstigenden Abgeltungssteuer. Dies böte die Möglichkeit für tiefergreifende Tarifkorrekturen. Der Abbau der „kalten Progression“ wäre dann nur ein kleiner Baustein einer großen Reform, deren Ziel eine höhere Belastung im oberen Einkommensbereich sowie Entlastung im mittleren und unteren wäre.
Der Artikel erschien zuerst in WISO-Info 3/2015. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Ingo Schäfer ist Referent für Sozial- und Steuerpolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen.
Tobias Peters ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen.