Lohnentwicklung: Wie der MDR per Faktencheck Verwirrung statt Aufklärung betreibt
13. Juni 2018 | Markus Krüsemann
War die Lohnentwicklung in der Gruppe der Geringverdienenden in der Vergangenheit wirklich so katastrophal? Der MDR will per Faktencheck für Aufklärung sorgen, argumentiert aber sehr einseitig. Dabei wäre eine ausgewogenere Antwort kein Hexenwerk gewesen.
Nicht alle Erwerbstätigen profitieren gleichermaßen vom Aufschwung, einige auch gar nicht. Das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Aber kann es denn sein, dass die Reallöhne für viele Beschäftigte in den vergangen Jahren sogar gesunken sind? Das muss aufgeklärt werden, dachte sich wohl der MDR und machte sich an den Faktencheck. Der aber sorgt nicht für Durchblick.
▸»In Deutschland verdienen 40 Prozent der Beschäftigten heute weniger als noch Mitte der 90er Jahre. Das behauptet die Linkspartei« , so umreisst der MDR die Ausgangslage. Ja, kann das denn stimmen? Anscheinend denkt man beim MDR, dass bei »Behauptungen« von Mitgliedern der Linkspartei höchste Vorsicht geboten ist. Das muss also aufgeklärt werden - am Besten mit Fakten, denn Fakten sind wichtig, sie entlarven Behauptungen.
Bevor nun der interessierten Leserschaft überhaupt Fakten zur Kenntnis gegeben werden, schreibt der MDR jedoch vorweg: »Um es gleich zu sagen: Die Behauptung ist irreführend.« Und setzt damit einen beeinflussenden Grundton.
Die genannte Aussage bezieht sich originär auf eine seriöse Quelle, wie der MDR spät und nicht ganz eindeutig schreibt. Sie beruht auf einer Passage aus dem ▸Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung . Unter der Ãœberschrift »Reale Lohnentwicklung nach Einkommensgruppen« kann man dort auf Seite 59 lesen und an der Grafik auf der folgenden Seite auch studieren, dass die inflationsbereinigten Bruttostundenlöhne der abhängig Beschäftigten im Zeitraum von 1995 bis 2015 in den unteren vier Dezilen gesunken sind.
Jetzt hätte die Stunde des Faktenchecks schlagen können. Denn die Gleichsetzung von vier Dezilen mit 40 Prozent haut streng genommen nicht hin. Wenn im Armuts- und Reichtumsbericht etwa ein durchschnittliches Stundenlohnminus von real vier Prozent im vierten Dezil ausgewiesen wird, so folgt daraus nicht, dass alle Beschäftigten in dieser Gruppe Verluste haben mussten. Eine Teilgruppe hätte durchaus ein Lohnplus realisieren können, während der andere Teil Verluste erlitten hat. Unterm Strich ergab sich aber ein Minus. Das Gleiche gilt mit umgekehrtem Vorzeichen auch für das fünfte Dezil. Die Übertragung des Ergebnisses auf den prozentualen Anteil von Beschäftigten mit Reallohnverlusten bleibt daher mit einer gewissen Unschärfe behaftet. Die 40 Prozent-Aussage ist demnach zwar nicht im Wortsinne irreführend, sie vereinfacht aber den Sachverhalt. Mit solch einer sachlichen Richtigstellung hätte der Faktencheck erfolgreich den Weg der Aufklärung einschlagen können.
Stattdessen wird zwei WissenschaftlerInnen aus (neoliberalen) Wirtschaftsforschungsinstituten - dem Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle und dem arbeitgeberfinanzierten ▸Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln - Gelegenheit gegeben, die auf dem Prüfstand stehende Aussage so zu interpretieren, dass das tatsächliche Problem am Arbeitsmarkt verniedlicht wird.
Natürlich gebe es Menschen, die heute real weniger verdienen als in den 1990er Jahren. Das heiße aber nicht, dass 40 Prozent der »jetzt arbeitenden Deutschen« vor 20 Jahren mehr verdient hätten, lautet der Einwand. Doch hat oben jemand behauptet, es handele sich bei den 40 Prozent um dieselben Menschen? Jein! So steht es zwar nicht da, doch in der Tat gibt die oben zitierte Aussage Raum für eine derartige Auslegung. Das kann man sachlich bemängeln und den LeserInnen den Sachverhalt verdeutlichen: Die Gruppe (!) der ArbeitnehmerInnen mit den vergleichsweise geringsten Stundenlöhnen musste zwischen 1995 und 2015 Reallohnverluste erleiden. Diese Gruppe umfasst etwa 40 Prozent aller abhängig Beschäftigten. Und: Diese Gruppe der Geringverdienenden ist heute natürlich anders zusammengesetzt als vor 20 Jahren. Da sind etwa auch vormals Arbeitslose dabei, weshalb Judith Niehues vom IW Köln wohl auch sagen darf: »Hinter dieser scheinbar skandalträchtigen Zahl steckt eigentlich ein Erfolg auf dem Arbeitsmarkt.«
Das aber ist nun nicht nur verwirrend, sondern da wird die Realität doch arg beschönigt. Von einem »Erfolg auf dem Arbeitsmarkt« zu sprechen, ist zynisch. Denn Reallohnverluste über einen Zeitraum von 20 Jahren sind beträchtlich und ein Skandal - selbst wenn man unterstellt, dass in den untersten Dezilen heute mehr ehemals Arbeitslose und vielleicht mehr Geringqualifizierte tätig sind. Die Statistik im Armuts- und Reichtumsbericht verweist daher sehr wohl auch und vor allem auf die ▸Zerrüttung des deutschen Arbeitsmarkts, ▸auf abnehmende Tarifbindung, ▸auf zunehmende prekäre Beschäftigung, ▸auf immer weiter um sich greifende atypische Jobs. Der Rückgang der Reallöhne in den untersten vier Dezilen ist sehr wohl auf Politik und Fehlentwicklungen zurückzuführen. Dieses Ursachenbündel dürfte in seinem Ausmaß sehr viel bedeutsamer sein als die Tatsache, dass viele frühere Arbeitslose heute einen Job haben.
Am Ende verweist der MDR noch auf den Mindestlohn, der nicht nur nominal, sondern auch real höher liege als der Lohn, den die am schlechtesten Entlohnten 1998 bekommen haben. Welchen Erkenntniswert das haben soll, bleibt das Geheimnis des MDR. Denn es ist nun mal Aufgabe des Mindestlohns, höher zu sein als die untersten Löhne aus Zeiten, in denen es noch keinen Mindestlohn gab.
Am eingangs angeführten Zitat hätte es einiges richtig zu stellen gegeben, wenn man den zu Grunde liegenden, in der zitierten Aussage aber vereinfacht dargestellten und Missverständnisse nicht ausschließenden Sachverhalt korrekter, präziser, nachvollziehbar und verständlich wiedergeben möchte. Warum der MDR stattdessen eine Aussage so einseitig durch den Wolf dreht, bleibt ein Rätsel.
Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Regionalforschung. Unter www.miese-jobs.de betreibt er ein Informationsportal zu atypischen und prekären Beschäftigungsformen.