Märchen aus der Deutschen Bank (7): Mit Migration und Arbeitsmarkt-Flexibilität gegen die Krise
5. August 2013 | Patrick Schreiner
Es wird immer deutlicher, dass die seit Jahren praktizierte, neoliberale Kürzungs- und Austeritätspolitik in Südeuropa nicht aus der Krise führt, sondern diese mehr und mehr verschärft. Produktion stagniert oder geht zurück, Arbeitslosigkeit explodiert. Nun hat Deutsche Bank Research ein gar nicht so neues Karnickel aus dem Hut gezaubert: Mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt sowie mehr Migration von Süd nach Nord sollen zu einem wesentlichen Instrument der Krisenbekämpfung werden.
Der von Bernhard Gräf schon Ende Juni dieses Jahres veröffentlichte Text mit dem Titel „Deutsche Sonderstellung – Gefahr für den Euro?“ stellt zumindest in der Überschrift die richtige Frage. In der Tat wäre kritisch zu hinterfragen, ob nicht etwa Deutschland aufgrund seiner extremen Exportüberschüsse und seinem Unwillen, hieran durch eine veritable Stärkung von Löhnen, Staatsausgaben und damit der Binnennachfrage etwas zu ändern, das Kernproblem der Eurozone ist.
Allerdings: Von der Überschrift seines Artikels abgesehen, stellt Gräf diese Frage gerade nicht. Für ihn besteht die „Sonderstellung“ Deutschlands lediglich in auf den ersten Blick vergleichsweise guten Daten zu Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Er unternimmt, nachdem er diese Zahlen kurz dargestellt hat, einen ebenso kurzen Ausflug in die Geschichte neoliberaler Währungspolitik: Mit der Krise des hochregulierten Währungssystems von Bretton Woods seien zwei wichtige Theorien von Währungssystemen entwickelt worden. Während Milton Friedman auf flexible Wechselkurse setzte, untersuchte Robert Mundell die Bedingungen eines „optimalen Währungsraums“. Er stellte also die Frage, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein Währungsraum funktioniert. (Tatsächlich ist es keineswegs neu, zur Analyse der Eurozone auf Mundell zu rekurrieren: Schon vor der Einführung der Währungsunion bot dieses Theorem neoliberalen PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen immer wieder gerne herangezogene Argumente – wahlweise für eine noch weitergehende Deregulierung des europäischen Arbeits- und Binnenmarkts oder, wenn diese Deregulierung nicht als weitgehend genug angesehen wurde, für eine Absage an die Währungsunion.)
Gräf fasst Mundells Überlegungen nun wie folgt zusammen:
[Mundell] kam – grob gesprochen – zu dem Ergebnis, dass ein Währungsraum dann optimal ist, wenn zur Abfederung von Schocks eine ausreichende Faktormobilität vorherrscht, d.h. wenn insbesondere die Arbeitsmärkte hinreichend flexibel sind. [...] Die Anpassungen an einen Angebotsschock laufen wie folgt: Im Zuge der sinkenden Produktion steigt die Arbeitslosigkeit in einem Land an. [...] Arbeitnehmer, die in ihrem Heimatland keine Beschäftigung mehr finden, wandern in ein Land mit stabiler Nachfrage und höheren Löhnen ab – und zwar so lange, bis sich Lohnstückkosten und Preisniveau zwischen Heimat- und Zielland angeglichen haben. Damit das geschehen kann, muss die Arbeitskräftemobilität hinreichend hoch sowie Löhne und Preise in und zwischen den Ländern, die einen gemeinsamen Währungsraum bilden, flexibel sein.
Gräf untersucht im Folgenden die Unterschiede zwischen den einzelnen Eurostaaten hinsichtlich Inflation und Wirtschaftswachstum. Er kommt zu dem Schluss, dass diese Unterschiede keineswegs groß oder bedenklich seien. Hingegen seien die Differenzen bei den Arbeitslosenzahlen überdeutlich. Wenig überraschend leitet er unter Bezugnahme auf Mundell aus diesen Behauptungen ab, dass die „Faktormobilität“ im einheitlichen Währungsraum Europas unzureichend sei.
Die Eurozone ist offensichtlich kein optimaler Währungsraum, wobei das Kriterium einer hinreichend hohen Faktormobilität nicht erfüllt ist. […] Vermehrte Wanderungen in den letzten Jahren aus den südlichen Peripheriestaaten nach Deutschland sind allerdings ein Zeichen dafür, dass sich Verhaltensweisen ändern lassen. Arbeitsmarktreformen – falls politisch gewollt – könnten die Anreize für eine höhere zwischenstaatliche Arbeitsmobilität erhöhen.
Mit anderen Worten: Es braucht für Gräf (auch) mehr Migration aus den Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit in jene Länder mit niedriger Arbeitslosigkeit. Im Grunde fordert Deutsche Bank Research hier also das, was Lettland seit Jahren betreibt und wofür es von Neoliberalen gefeiert wird – nämlich, durch den Massenexodus von Menschen Arbeitslosigkeit zu exportieren. Dass DBR mit dieser Haltung keineswegs alleine steht, zeigt beispielsweise ein im Juli 2013 erschienener Artikel in der FAZ über junge spanische Auszubildende in Hannover.
Eine solche Argumentation ist aus mehreren Gründen fragwürdig:
- Erstens vernachlässigt sie die eigentlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit in Südeuropa. Lediglich zu konstatieren, die dortigen Wachstumsraten wichen nicht allzu sehr von jenen Deutschlands ab, genügt als Argument nicht, um zu belegen, dass sie unbedenklich seien. Vielmehr ist die unzureichende wirtschaftliche Entwicklung in Südeuropa, hervorgerufen durch drastische Kürzungen bei Löhnen und Staatsausgaben, durchaus die Ursache der wachsenden Arbeitslosigkeit. Es gilt, diese Ursache zu bekämpfen, endlich eine expansive, wachstumsorientierte Politik zu betreiben und Arbeitsplätze zu schaffen. Alles andere ist Augenwischerei.
- Zweitens ist Gräfs Argumentation moralisch fragwürdig. In Mundells/Gräfs Ideologemen sind ArbeitnehmerInnen keine freien Menschen, sondern Spielbälle wirtschaftlicher (tatsächlich aber wirtschaftspolitisch provozierter) Zwänge, sie sind nur "Faktoren" der Produktion. Sie haben der Arbeit dorthin zu folgen, wo Arbeit angeboten wird. Die Frage, wo die Menschen eigentlich leben wollen und ob ihre Migration freiwillig erfolgt, ist für Gräf irrelevant.
- Drittens verschließt Gräfs Argumentation die Augen vor den Folgen des Migrations-Arbeitsmarkts-Regimes, das Mundell/Gräf beschreiben. Tatsächlich nämlich wären nicht Arbeit und gute Arbeitsbedingungen für alle Menschen in Europa die Folge, sondern hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der Löhne eine Spirale nach unten. Es genügt, um eine Idee hiervon zu bekommen, einen Blick auf die Lebenssituation derer zu werfen, die derzeit nach Deutschland kommen: Die Realität ist, dass diese Menschen in aller Regel weit unter ihrem Qualifikationsniveau zu schlechten Löhnen zu arbeiten gezwungen sind. Das gilt für junge SpanierInnen, die eine Zukunft hierzulande suchen, ebenso, wie für Menschen aus Osteuropa, die im Rahmen temporärer Arbeitsmigration etwa in der hiesigen Fleischindustrie, in der Pflege, am Bau oder in der Gebäudereinigung arbeiten.
- Die auf diese Weise entstehende Dumpingkonkurrenz am Arbeitsmarkt, und nichts anderes wäre die Konsequenz, würde viertens das Lohnniveau letztlich europaweit drücken. Genau das ist von Gräf auch explizit gewünscht („höhere Flexibilität bei Löhnen“). Die soziale Ungleichheit würde damit aber noch weiter zunehmen, die volkswirtschaftliche Nachfrage in letztlich allen Ländern Europas zurückgehen. Dann wären aber gerade nicht zusätzliche Arbeitsplätze, sondern zusätzliche Arbeitslosigkeit die Folge. Denn wenn die Eurokrise eines gezeigt hat, dann doch das: Die Zahl der Arbeitsplätze hängt unmittelbar mit der Nachfrage zusammen, denn Unternehmen investieren nur, wenn sie durch diese Investitionen Geld verdienen. Und Geld lässt sich nur verdienen, wenn produzierte Waren und Dienstleistungen auch gekauft werden.
Dies spricht nicht gegen Migration als solche. Ganz im Gegenteil halte ich es für eine Errungenschaft, dass Menschen zumindest innerhalb Europas sich ohne größere Probleme Wohnung und Arbeit in anderen Ländern suchen können. Diese Migration muss aber freiwillig sein, und sie muss unter Wahrung von Lohn- und Sozialstandards erfolgen. Und sie muss für alle gelten, also beispielsweise auch für Flüchtlinge - und damit nicht nur für diejenigen MigrantInnen, die dem Kapital und den Arbeitgebern nützlich erscheinen. Alles andere führt zu purer Ausbeutung vor allem der Migrierenden und mittelfristig zu noch mehr Arbeitslosigkeit.
Eines kann Migration damit aber nicht sein: Ein Mittel zur Bekämpfung der Eurokrise. Die Krise zu bekämpfen, erfordert vielmehr, ihre tatsächlichen Ursachen zu erkennen und anzugehen.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.