Marcel Fratzscher und die »Enteignungen«
13. Oktober 2021 | Patrick Schreiner
Einer der renommiertesten Ökonomen des Landes äußert sich kritisch zum erfolgreichen Volksentscheid für die Vergesellschaftung großer privater Wohnungsbestände in Berlin. Überzeugen kann seine Argumentation nicht.
Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, einem der großen Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland. Man wird nicht bestreiten können, dass er dieses Institut nach dem Abgang seines mehrjährigen neoliberalen Präsidenten Klaus F. Zimmermann wissenschaftlich und politisch wieder aufgerichtet hat. In SPD-Kreisen bezieht man sich wirtschaftspolitisch gerne auf ihn – vielleicht, weil er wie die Partei gerne links blinkt, um dann doch nicht dorthin zu fahren.
Am 8. Oktober veröffentlichte Fratzscher bei Zeit Online einen Beitrag (auch: ▸https://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.826568.de ), in dem er sich gegen die »Enteignungen« von Wohnungen großer Konzerne in Berlin wendet. Dort hatte sich eine Mehrheit in einer Volksbefragung für die Vergesellschaftung (was nicht Enteignung ist) von Wohnraum ausgesprochen. Nicht zuletzt Franziska Giffey, die sozialdemokratische Wahlsiegerin und voraussichtliche nächste Regierende Bürgermeisterin, steht dem allerdings ablehnend gegenüber.
Fratzscher führt sechs Gründe an, weshalb Berlin nicht – wie von der Mehrheit der Bevölkerung gefordert – das Wohnungseigentum von Konzernen mit mehr als 3000 Wohnungen vergesellschaften solle. Keines seiner Argumente überzeugt – bisweilen erscheinen sie sogar absurd.
1. Fratzscher schreibt, dass Wohnungsangebot werde sich dadurch nicht vergrößern.
Womit er Recht hat – nur dass es darum eben gerade nicht geht. Fratzscher hat ein Marktmodell vor Augen, demzufolge ein steigendes Angebot zu sinkenden Preisen führe (bei gegebener Nachfrage). Ganz so einfach ist es am Immobilienmarkt gleichwohl nicht ( ▸https://www.blickpunkt-wiso.de/post/schuld-ist-immer-der-deckel--2386.html ). Allerdings: Es geht bei der Vergesellschaftung von Wohnraum auch um etwas anderes. Ziel ist es, durch eine bessere öffentliche Kontrolle des Wohnungsmarkts auch eine bessere öffentliche Kontrolle der Mietentwicklung zu erlangen. Nicht zuletzt auch, weil der Druck wegfiele, mit den Wohnungen Profite zu machen, könnten Mietsteigerung mindestens ausgebremst werden. Ãœber diesen Wirkmechanismus aber schweigt Fratzscher sich aus. Stattdessen behauptet er: »Investoren werden keine neuen Wohnungen mehr bauen, da das Risiko von Enteignungen oder anderer schädlicher Regulierung einfach zu groß wäre«. Als ob es nicht heute schon große öffentliche Wohnungsunternehmen in Berlin gäbe, die die entsprechenden Investitionen übernehmen könnten. Interessant ist übrigens auch seine Behauptung, die »Enteignungen« würden Ängste vor Regulierungen auslösen – fordert er Regulierungen wie eine »strikte Mietpreisbremse«, die von der Immobilienlobby regelmäßig als »schädlich« bezeichnet wird, am Ende seines Textes doch selbst.
2. Fratzscher schreibt, dass die Mieten durch die »Enteignung« weiter anstiegen.
Genauer schreibt er: »Weniger Angebot und mehr Risiko für die Investoren erhöhen die Mietpreise«. Warum die Vergesellschaftung von Wohnraum zu »weniger Angebot« führen soll, bleibt sein Geheimnis – schließlich würden die Wohnungen ja weiter vermietet, nur eben dann durch die öffentliche Hand und ohne Profite zu erzielen. Hätte Fratzscher Recht, dann müsste Berlin im Umkehrschluss Wohnraum sogar weiter privatisieren: Das müsste seiner Ansicht nach das Angebot dann ausweiten und das Risiko für Investoren weiter senken. Wodurch die Mieten zurückgingen. Absurd.
3. Fratzscher schreibt, dass die Kosten enorm seien.
Die Höhe der Entschädigung ist eine offene juristische Frage. Es spricht einiges dafür, dass die durch das Land Berlin zu zahlenden Entschädigungen weit unter dem Marktwert der Wohnungen liegen kann. Dennoch operiert Fratzscher mit Horrorzahlen von »30 oder 40 Milliarden Euro«. Falsch ist auch seine Behauptung, dass dieses Geld dem Berliner Haushalt fehlen und daher nicht für andere Zwecke verwendet würde. Denn durch die Wohnungen ergeben sich ja auch Einnahmen. Die Entschädigungen, die zu zahlen wären, dienten dem Erwerb von Immobilienvermögen: Sie könnten weit überwiegend durch Kredite finanziert werden, wobei Zins und Tilgung wiederum ganz oder größtenteils aus Mietzahlungen geleistet werden könnten. Dabei ist zu beachten, dass die öffentliche Hand einen solchen Erwerb von Vermögen immer günstiger finanzieren kann als private Investoren, da das Risiko für die Geldgeber geringer ist – ein Bundesland kann nicht Pleite machen.
4. Fratzscher schreibt, die Ungleichheit werde wachsen.
Seine Begründung ist nicht sehr klar formuliert, aber er scheint zu meinen, dass von den günstigen Mieten in den vergesellschafteten Wohnungen nur die profitieren, die in diesen wohnen – während alle anderen weiter steigende Mieten zu zahlen hätten. Er ignoriert damit, dass schon heute die öffentlichen Wohnungsunternehmen einen hohen Anteil der Mietwohnungen in Berlin besitzen – etwa 20 Prozent. Dieser Anteil würde durch die Vergesellschaftung weiterer etwa 15 Prozent der Wohnungen ansteigen. Die Marktmacht der öffentlichen Wohnungsunternehmen würde also zunehmen. Dann aber ist das Gegenteil des von Fratzscher Behaupteten der Fall: Je größer der öffentliche (und gemeinnützige) Sektor am Wohnungsmarkt, desto schwieriger wird es für Private, ihre übersteigerten Mietvorstellungen durchzusetzen. Das zeigt nicht zuletzt die Stadt Wien, in der öffentliche und gemeinnützige Wohnungsanbieter dominieren. Hätte Fratzscher Recht, müsste Wien die ungleichste Großstadt Europas sein. Einmal mehr: Absurd.
5. Fratzscher schreibt, es ginge Vertrauen verloren.
Er behauptet: »eine funktionierende soziale Marktwirtschaft lebt von Vertrauen – auch dem Vertrauen in den Staat und dass dieser Eigentumsrechte respektiert«. Fakt ist: Fratzscher hat hier nur das Interesse der Investoren im Blick. Der Vertrauen der Menschen, dass Politik eine gute Wohnraumversorgung gewährleistet, ist für eine Demokratie aber mindestens genauso wichtig. Um dieses Vertrauen zu gewährleisten, ist es legitim, falsche Entscheidungen der Vergangenheit – die Privatisierungen von Wohnraum in Berlin – auch wieder rückgängig zu machen.
6. Fratzscher schreibt, dass die Gerichte »Enteignungen« stoppen würden.
Momentan gilt wie so oft: Zwei Juristen, drei Meinungen. Vergesellschaftungen sind nach dem Grundgesetz erlaubt und möglich. Das ist unbestritten. Ob sie im konkreten Fall nach den von der Berliner Initiative gewünschten Bedingungen möglich sind, wäre zu prüfen – im Zweifel gerichtlich. Von vornherein aber zu behaupten, ein gerichtlicher Stopp der Vergesellschaftung sei so sicher wie das Amen in der Kirche, ist unredlich und schlicht falsch.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.