Marika Pierdicca: „Rassismus wirkt an der Strukturierung von Arbeitsverhältnissen mit“
9. April 2014 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Marika Pierdicca zur Rolle und Funktion des Rassismus am kapitalistischen Arbeitsmarkt. Marika Pierdicca promoviert an der Humboldt-Universität Berlin; sie befasst sich unter anderem mit Fragen des Rassismus und des Antirassismus. Sie ist Mitverfasserin eines Artikels zum Thema dieses Interviews, der im Januar 2014 im Sammelband „Migration und Arbeit in Europa“ erschienen ist.
Die zentrale These Eures Artikels ist, dass Rassismus der Strukturierung des Arbeitsmarktes dient. Weshalb ist das aus Eurer Sicht so?
Marika Pierdicca: In dem Artikel, den ich gemeinsam mit Sebastian Friedrich geschrieben habe, richten wir den Fokus nicht auf die ausschließenden Praktiken, auf die Exklusion von (Post-)Migrant_innen aus dem Arbeitsmarkt. Im Gegenteil dazu haben wir uns auf die sozusagen „produktive“ Funktion des Rassismus fokussiert, also wie er aktiv an der Strukturierung bestimmter Arbeitsverhältnisse mitwirkt. Dabei war uns wichtig, hervorzuheben, dass Rassismus kein ungewollter „externer“ Effekt von sozialen Beziehungen ist, sondern dass er vorsätzlich „intern“ als konstitutives gesellschaftliches Verhältnis wirkt. Durch den politischen Versuch, Migration zu regulieren, werden viele (Post-)Migrant_innen aus unserer Sicht nicht einfach aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen, vielmehr werden sie funktionalistisch für die Bedürfnisse des Kapitals integriert. Wir haben zwei Momente der bundesrepublikanischen Migrationspolitik aus der Perspektive der politischen Migrationsbewegungen und ihren antirassistischen Kämpfen betrachtet und beschreiben, wie und inwiefern Rassismus diese zentrale Rolle für den Arbeitsmarkt übernimmt.
Ihr macht das deutlich an zwei Beispielen, nämlich der so genannten Gastarbeiter-Einwanderung der 1960er und 1970er Jahre sowie dem aktuellen Diskurs um die Einwanderung von Fachkräften. Welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen beiden?
Marika Pierdicca: Wenn Migration für den herrschenden Diskurs legitimiert werden soll, wird sie gestern wie heute als eine Chance interpretiert; sie soll wirtschaftlichen Bedürfnissen entgegenkommen. Dass (Post-)Migrant_innen in Deutschland arbeiten können und sollen, bedeutet oft nicht, dass sie das gleiche Recht auf Arbeit wie weiße Deutsche besitzen, sondern dass sie einen von den „einheimischen“ Arbeiter_innen nicht gewollten, meist schlechtbezahlten Arbeitsplatz übernehmen sollen. Es erweisen sich jedoch Unterschiede in der Art und Weise, wie dies öffentlich legitimiert wurde und wird. Im ersten Beispiel analysieren wir eine Broschüre aus dem Jahr 1971, die Vorurteile gegen die damals so genannten „ausländischen Arbeitnehmer“ abzubauen versuchte. Es wird dort paternalistisch und kulturalistisch argumentiert, sodass Vorurteile gegen „Gastarbeiter“ faktisch bestätigt werden. Ihre untergeordnete Position am Arbeitsmarkt wird dadurch noch stärker legitimiert. Die Broschüre beschreibt Gastarbeiter_innen als kulturell absolut andersartig, dies verfolgt das Ziel, sie als Träger_innen legitimer Arbeitsrechte zu verleugnen. Im zweiten Beispiel aus der heutigen binneneuropäischen Einwanderung wird Migration stark mit einem „Vielfalt“-Diskurs verbunden, und diese „Vielfalt“ bringe der Gesellschaft Leistungsfähigkeit. Dank einer Einwanderung von „guter Qualität“ – hier werden Migrant_innen als Ware definiert – kann Deutschland wohlhabend bleiben. Es wird damit eine Unterscheidung von guter und schlechter Migration entlang neoliberaler Leistungskriterien getroffen.
Was meinst Du mit "neoliberalen Leistungskriterien", und wie funktioniert die Unterscheidung von guter und schlechter Migration mithilfe dieser Kriterien?
Marika Pierdicca: Im politischen Integrationsdiskurs wird der Begriff „Leistung“ mit einer moralisierenden Deutung aufgeladen, welche wiederum mit einer neoliberalen Logik der Ausdehnung des Markts – und des Reichtums – angeknüpft ist. Sich integrieren (können) bedeutet aus dieser Perspektive, die eigenen Fähigkeiten für wirtschaftliche Zwecke bereitzustellen. Das Vorbild eines für die Ökonomie „nützlichen“ Menschen wird zum Kriterium dafür, die sogenannte „Integrationsbereitschaft“ zu testen, aber auch die Person als solche zu beurteilen. Als „nützliche und gute“ (Post-)Migrant_innen werden dann diejenigen angesehen, die (hoch)qualifiziert sind und zum wirtschaftlichen Wachstum beitragen. Als „nutzlos und schlecht“ werden hingegen diejenigen kategorisiert, die arm oder geringer qualifiziert sind. Arm-Sein gilt als selbstverschuldet; die Betroffenen werden als nicht genug verwertbar, flexibel und schnell für den Arbeitsmarkt beurteilt. Hierbei verbindet sich der neoliberale Integrationsdiskurs gesellschaftlich mit einer Entsolidarisierung und politisch mit einem Ab- bzw. Umbau des Sozialstaates. Das Recht auf sozialstaatliche Unterstützung wird als gesellschaftliche und ökonomische Belastung delegitimiert.
Impliziert Eure These, dass es zwischen Migration und Rassismus einen notwendigen engen Zusammenhang gibt?
Marika Pierdicca: Ich würde die Relation zwischen Migration und Rassismus wie folgt definieren: Migration bringt mit ihrem Dasein und mit ihren Kämpfen die rassistische Arbeitsstruktur ans Licht, dabei kann sie die herrschende soziale und politische Ordnung infrage stellen. Ein Blick auf die migrantische Arbeiter_innenbewegung in den siebziger Jahren ermöglicht beispielsweise, das ambivalente Verhältnis zwischen Arbeit und Rassismus wahrzunehmen und zu reflektieren. Rassismus stellt in diesem Zusammenhang kein Randphänomen einer „offenen Gesellschaft“ dar und Migration lässt sich nicht mit dem Konzept einer auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts regulierten Anwerbung identifizieren. Rassistische Maßnahmen setzen sich vielmehr durch neoliberale, mehrheitsfähige und als vernünftig wahrgenommene Argumentationen um. Dabei normalisieren sie sich. Deswegen ist es wichtig und notwendig, die Geschichte und Praktiken der Migration unter anderem auch als politische Bewegung zu erfassen, die die „Normalität“ des Rassismus sichtbar machen kann.
Zum Weiterlesen
Hartmut Tölle / Patrick Schreiner (Hg.): Migration und Arbeit in Europa. Köln: PapyRossa. 229 Seiten, EUR 14,90 [D] / 15,40 [A], ISBN 978-3-89438-550-7 (bol.de, thalia.de, buch.de, ebook.de). Der Sammelband »Migration und Arbeit in Europa« widmet sich aktuellen Migrationsbewegungen und Migrationspolitiken in Deutschland und Europa.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.