Rezension
Marx und die Roboter
13. Februar 2020 | Sebastian Friedrich
Für die aufgeregten Debatten um Automatisierung, Künstliche Intelligenz und Roboter lohnt ein Blick in die Schriften eines Mannes aus dem 19. Jahrhundert: Karl Marx.
Es klingt eigentlich nach dem Paradies auf Erden: Der Mensch liegt gemütlich in der Hängematte, während um ihn herum Roboter den Rasen mähen, ein paar Kilometer entfernt in einer Fertigungshalle das Leben erleichternde Produkte herstellen oder in Elektro-Bussen Menschen durch die Gegend kutschieren. Das Leben für uns, die Drecksarbeit für die Roboter.
Doch leider ist die Vorstellung vom tüchtigen Roboter, der uns die Arbeit weg- beziehungsweise abnimmt, unter den gegenwärtigen Bedingungen alles andere als ein Wunschtraum. Denn leider leben wir immer noch im Kapitalismus, wo die allermeisten Menschen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, um irgendwie über die Runden zu kommen.
Roboter – billiger, schneller, zuverlässiger
Regelmäßig machen Prognosen die Runde, nach denen wegen zunehmender Automatisierung massenhaft Arbeitsplätze in den kommenden Jahren verschwinden würden. So haben etwa US-amerikanische Wissenschaftler*innen vorgerechnet, dass in den kommenden Jahrzehnten etwa die Hälfte aller derzeitigen Jobs in den USA wegfallen würden. Roboter sollen die besseren Arbeitskräfte sein: billiger, schneller und zuverlässiger, schließlich brauchen sie keine Mittagspausen, keinen Schlaf, können 168 Stunden pro Woche arbeiten – und nicht nur lächerliche 40.
Sind in der Fabrik der Zukunft also nur noch Robotergeräusche und keine Menschenstimmen mehr zu hören? Um diese Frage zu beantworten, haben sich Sozialwissenschaftler*innen, Politolog*innen und Historiker*innen Rat bei einem Klassiker gesucht: Karl Marx. Herausgekommen ist der Sammelband »Marx und die Roboter«.
Eine alte Debatte
Mit Karl Marx wollen die Autor*innen die aufgeregte Debatte um Automatisierung erden; eine Debatte, die immerhin so alt wie die Dampfmaschine selbst ist. Darauf verweist Karsten Uhl von der Technischen Universität Darmstadt in seinem Beitrag:
»Die Erwartung einer umfassenden industriellen Automatisierung, die in nächster Zukunft zu menschenleeren Fabriken führe, ist keinesfalls eine neue Erscheinung des frühen 21. Jahrhunderts. Sie durchzieht vielmehr sämtliche Phasen der Industrialisierung seit der Industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert.« (S. 88)
Uhl belegt dies mit Quellen aus dem frühen 19. Jahrhundert, in denen bereits das Ende der Arbeit in der Fabrik vorausgesagt wurde. Ein Naturwissenschaftler namens Andrew Ure schrieb im Jahr 1835 über die damaligen Textilfabriken und prognostizierte, dass dort schon bald kein Mensch mehr zu sehen sei. Eingetreten sind solche Voraussagen bisher nicht. Im Gegenteil: Weltweit haben nach Industrialisierungsschüben im Globalen Süden noch nie so viele Menschen in Fabriken gearbeitet wie heute.
Doch warum irren die Prognosen seit beinahe 200 Jahren? Die Diagnose des Sammelbandes: Auch zeitgenössische Analysen betrachteten die technologische Entwicklung isoliert. Mit Marx an der Seite gelänge es stattdessen, Ökonomie mit Politik und Gesellschaft zusammenzudenken.
Der Begriff der Produktivkraft
Ein Schlüsselbegriff in Bezug auf Automatisierung ist Marx' Begriff der Produktivkraft. Darin geht es um die gesamte produktive Kraft, die eine Gesellschaft in sich vereint. Die Produktivkraft umfasst die Naturverhältnisse, den durchschnittlichen Qualifikationsgrad aller Beschäftigten in einer Gesellschaft, die Organisation von Arbeit insgesamt. Technologische Entwicklung ist also nur ein Element unter vielen.
Mit dem Begriff der Produktivkraft wird klar, dass etwa der Vollautomatisierung in der Autoproduktion Grenzen gesetzt sind. Zwar können heute viel mehr Tätigkeiten durch Maschinen erledigt werden als früher, aber gleichzeitig sind die Arbeitsprozesse viel komplexer geworden. Florian Butollo und Sabine Nuss schreiben in der Einleitung:
»Vollautomatisierung in der Automobilindustrie wäre vermutlich schon erreicht, wenn die Produktentwicklung auf dem Stand von Fords Modell T geblieben wäre, das verhältnismäßig einfach aufgebaut und Anfang des 20. Jahrhunderts nur in einer Ausführung hergestellt wurde. Aber die Autoindustrie ist von schnellen Innovations- und Produktzyklen, einer hohen Produktvielfalt und komplexen Produktarchitekturen geprägt.« (S. 15)
Neue Technik, aber auch umweltverträglichere Autos, gleichzeitig zunehmende Mobilität – das alles sind Faktoren, die bei bloßen Berechnungen der technologischen Möglichkeiten ausgeblendet bleiben. Hinzu kommt: Auch die Entwicklung, Wartung und Betreuung der Roboter benötigt menschliche Arbeitskraft. Alte Arbeitsplätze verschwinden, neue entstehen.
Letztlich ein Schreckgespenst
Die Autor*innen der 18 Aufsätze sind in unterschiedlichen Disziplinen zu Hause: etwa in der Soziologie, der Politikwissenschaft oder der Geschichte. Entsprechend gelingt es eindrücklich, die Phänomene Roboter, Künstliche Intelligenz und Automatisierung aus vielen Blickwinkeln zu betrachten. Und die Aufsätze sind trotz der unterschiedlichen Theorie- und Forschungstraditionen verständlich. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass die Diskussionen um Automatisierung wohl kaum mehr als ein Schreckgespenst sind, menschenleere Fabriken erst einmal nicht flächendeckend entstehen werden. Schade eigentlich.
Bibliografische Angaben
Sabine Nuss / Florian Butollo (Hg.) 2019: Marx und die Roboter. Vernetzte Produktion, Künstliche Intelligenz und lebendige Arbeit. Karl Dietz Verlag, Berlin. ISBN: 978-3-320-02362-1. 352 Seiten. 20,00 Euro.
Der Artikel erschien zuerst auf ▸kritisch-lesen.de. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.