Mireia Gomez und Barbara Winkelmann: „Was da stattfindet, ist reine Ausbeutung!“
7. April 2016 | Patrick Schreiner
Mireia Gomez und Barbara Winkelmann über die Lebens- und Arbeitssituation von Wanderarbeitern in Deutschland. Beide sind Beraterinnen in der Beratungsstelle für mobile Beschäftigte Braunschweig.
Sie beraten „mobile Beschäftigte“. Was ist damit gemeint?
Mireia Gomez: Unsere Beratungsstelle richtet sich in erster Linie an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus anderen Ländern der Europäischen Union, die erst kurze Zeit in Deutschland leben und arbeiten. Sie befi nden sich sehr oft in einer Situation der Verwundbarkeit, weil sie kein Deutsch sprechen, ihre Rechte in Deutschland nicht kennen oder nicht wissen, wie das deutsche Sozialsystem funktioniert. Wir machen eine kostenlose und auf Wunsch vertrauliche Erstberatung. Allerdings führen wir keine Rechtsberatung durch. Wir begleiten unsere Klienten diesbezüglich zu Rechtsanwälten, wo wir mit Übersetzungen weiterhelfen. Wichtige Themen sind etwa Arbeitsvertrag, Lohn, Sozialversicherungen, Wohnverhältnisse oder Kündigung. Meine Kollegin Barbara spricht Polnisch als Muttersprache, ich bin Spanisch-Muttersprachlerin. Beide sprechen wir auch Deutsch und Englisch. Ähnliche Beratungsstellen gibt es auch bundesweit, in Niedersachsen neben Braunschweig auch in Oldenburg und Hannover. Wir arbeiten mit diesen anderen Einrichtungen, aber auch mit Gewerkschaften und Behörden eng zusammen.
Wie groß ist die Nachfrage nach solcher Beratung?
Barbara Winkelmann: Die Beratungsstelle für mobile Beschäftigte im Raum Braunschweig-Salzgitter-Wolfsburg ist zum 1. Januar 2015 eröffnet worden, also etwas mehr als ein Jahr alt. Wir können seit den ersten Wochen des Bestehens von einer regen Beratungstätigkeit und einer starken Nachfrage sprechen. Die Zahlen sind da eindeutig. Innerhalb eines Jahres haben wir insgesamt 269 Fälle gehabt. Dahinter stehen 456 Anfragen bzw. Beratungen mobiler Beschäftigter. Wir ermutigen dabei zu einer persönlichen Beratung hier im Haus, um im Gespräch nach Lösungswegen zu suchen und verschiedene Möglichkeiten zu erörtern. Einen weiteren Bestandteil unserer Tätigkeit stellt die sogenannte aufsuchende Arbeit dar. Dank eines Beratungs-Busses können wir eine Vielzahl an mobilen Beschäftigten direkt entweder vor ihrer Unterkunft oder in der Nähe ihres Arbeitsortes ansprechen.
Frau Gomez, in welchen Branchen sind spanische mobile Beschäftigte im
Raum Brauschweig/Wolfsburg/Salzgitter vor allem tätig?
Mireia Gomez: Ich betreue nicht nur spanische, sondern generell viele südeuropäische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie arbeiten normalerweise in den Branchen Pflege, Bau, Gastronomie, Reinigung, Logistik und Transport. Diejenigen, die in den Bereichen Pflege und Logistik arbeiten, kommen in der Regel nach Rekrutierungsverfahren, die im Herkunftsland erfolgen. Völlig unabhängig von der Branche haben die mobilen Beschäftigten aus Südeuropa oftmals Anstellungsverträge, die in Deutschland abgefasst werden und die missbräuchliche Klauseln enthalten. Beispielsweise werden von den Firmen in der Gastronomie und vor Reinigungen in vielen Fällen keine Überstunden sowie Zuschläge für die Arbeit an Feiertagen und in der Nacht bezahlt. Auch gibt es oft keine Lohn- oder Gehaltsgarantie, nämlich dann, wenn ein Teil des Geldes schwarz gezahlt wird. In der Baubranche wiederum finden sich viele Scheinselbständige. Ihr Einkommen liegt nicht selten unterhalb des Mindestlohns der Branche, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz kennen sie in der Regel nicht.
Viele spanischsprachige mobile Beschäftigte kommen ursprünglich aus
Lateinamerika. Wie sehen die Erwerbsbiografi en dieser Menschen aus, die ja zugleich
Migrationsbiografien sind?
Mireia Gomez: Die lateinamerikanischen Beschäftigten, die seit jüngerer Zeit in Deutschland arbeiten, haben meist mehrere Jahre in Spanien oder Italien gelebt und gearbeitet. Oft haben sie auch deren Staatsbürgerschaft angenommen. Aufgrund der dann – mit der Krise – schlechteren wirtschaftlichen Situation in diesen Ländern suchen sie nach Erwerbsmöglichkeiten anderswo, aber innerhalb der EU. Der Entschluss, Arbeit in Deutschland zu suchen bzw. sich deutschen Arbeitgebern anzubieten, entsteht meist spontan und auf Empfehlung aus dem Bekanntenkreis. Die meisten lateinamerikanischen Beschäftigten, die unser Beratungsangebot benötigen, haben im Herkunftsland keine Ausbildung abgeschlossen. Sie arbeiten im Niedriglohnbereich als ungelernte Helferinnen und Helfer. Die Familie bleibt meist in den Herkunftsländern und ist auf das Einkommen aus Deutschland angewiesen.
Frau Winkelmann, in welchen Branchen sind polnische mobile Beschäftigte
im Raum Braunschweig/Wolfsburg/Salzgitter vor allem tätig?
Barbara Winkelmann: Die polnischen mobilen Beschäftigten, die unsere Beratungsstelle aufsuchen, kommen überwiegend aus Branchen, in denen sich allgemein viele Migrantinnen und Migranten fi nden. Hier im Speziellen sind das vor allem die fleischverarbeitende Industrie, die Pflege sowie die Baubranche. Vor allem in der Baubranche ist es weit verbreitet, das Personal rotierend einzusetzen, um zu verhindern, dass die Mitarbeiter Sicherheit gewinnen und bestimmte Ansprüche überhaupt erst einfordern. Dadurch, dass wir auf Baustellen präsent sind, informieren wir die Beschäftigten über ihre Rechte und Möglichkeiten. Es ist aber leider nicht unüblich, dass Arbeitgeber ihre Arbeiter kündigen oder versetzen, sobald diese sich über ihre Rechte aufklären lassen und diese auch durchsetzen wollen.
Wie gut oder schlecht sind die Chancen mobiler Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, ihre Rechte vor Gericht durchzusetzen?
Mireia Gomez: Inzwischen konnten wir zu einer Vielzahl an Gerichtsverfahren beitragen und die mobilen Beschäftigten im Zuge der Verfahren unterstützen. Dazu arbeiten wir eng mit Anwälten zusammen. Vor allem bei Kündigung und Geltendmachung der Ansprüche versuchen wir mit Nachdruck, zu einem Gerichtsverfahren zu ermutigen. Ob und im welchem Umfang die Rechte und Ansprüche durchsetzbar sind, hängt natürlich von dem einzelnen Fall ab. Nicht unwichtig aber ist immer die persönliche Entschlossenheit und das Durchhaltevermögen der Betroffenen.
Welche Rolle spielen die großen Industriebetriebe und Konzerne, von denen
es in Ihrer Region ja einige gibt, bei der Beschäftigung mobiler Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer?
Barbara Winkelmann: Schon seit Längerem werden ja über alle Branchen hinweg Arbeitsplätze ausgelagert, auch, um Löhne zu senken und Arbeiterinnen und Arbeiter zu mehr „Flexibilität“ zu zwingen. Es werden auf diese Weise der Kündigungsschutz und andere Rechte der Beschäftigten umgangen. Dieses so genannte Outsourcing wird unter anderem damit gerechtfertigt, dass es die „Wettbewerbsfähigkeit“ erhöht. Gerade die großen und mittleren Unternehmen vergeben solche Aufträge an Zeitarbeits- oder Dienstleistungsunternehmen, Stichwort Werkverträge. Es sind die Outsourcing-Unternehmen, in denen sehr viele mobile Beschäftigte arbeiten.
Sie sprechen das Thema Werkverträge an. Wie funktionieren die, und welchen Handlungsbedarf sehen Sie in diesem Bereich?
Barbara Winkelmann: Die Bundesregierung hat ja gerade einen Gesetzentwurf zur stärkeren Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen vorgelegt. Schon im Koalitionsvertrag hatte sie dies angekündigt. Und zwar zu Recht: Wir brauchen endlich eine striktere Regulierung! Was da in vielen Branchen und Unternehmen stattfi ndet, ist reine Ausbeutung. Sehr oft sind mobile Beschäftigte die unmittelbar davon Betroffenen. Unternehmen vergeben Werkverträge an andere Unternehmen oder an Scheinselbständige. Dadurch werden unter anderem Tarifverträge und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats umgangen; letztlich wird gute Arbeit in prekäre Arbeit umgewandelt. Dem muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden: Notwendig ist eine klarere Defi nition (und Begrenzung) dessen, was als Werkvertrag gilt, und notwendig sind mehr Rechte für Betriebsräte. Es sieht aber schwierig aus: Leider sind ja vor allem CDU/CSU gegenüber dem massiven Lobbyismus der Arbeitgeber eingebrochen.
Der Artikel erschien zuerst in WISO-Info 2/2016.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.