Moritz Altenried & Mariana Schütt: "Die Krise als kapitalistische Normalität beschreiben"
21. August 2013 | Patrick Schreiner
Ein Interview mit Moritz Altenried und Mariana Schütt über den Begriff der Krise im Kapitalismus. Altenried promoviert derzeit am Centre for Cultural Studies der Goldsmiths University of London (Großbritannien). Schütt lebt und arbeitet in Berlin, sie hat am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der Freien Universität Berlin studiert. Beide haben in dem Sammelband "Nation - Ausgrenzung - Krise. Kritische Perspektiven auf Europa" gemeinsam einen Artikel zu dem Thema dieses Interviews verfasst.
Was bedeutet für Euch "Krise"?
Moritz Altenried: Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, wie wir im Laufe der Arbeit an unserem Artikel gemerkt haben. Einerseits produziert der Kapitalismus ständig Krisen, und selbst wenn er „funktioniert“, schafft er Verhältnisse, die für große Teile der Menschheit krisenhaft sind. Die Krise lässt sich also mit einigem Recht als kapitalistische Normalität beschreiben.
Mariana Schütt: Auf der anderen Seite gibt es natürlich Verdichtungen und Zuspitzungen, wie in der momentanen Situation. Wir versuchen Krise daher als eine Situation zu beschreiben, in der die Reproduktion der herrschenden Ordnung in Frage steht. Auch im Wortsinn beschreibt Krise einen Moment der Entscheidung, einen potentiellen Wendepunkt. Diese – zugegeben etwas sperrige - Definition verweist auch auf eine gewisse historische Offenheit, die wir betonen möchten, denn obwohl der Kapitalismus inhärent widersprüchlich und krisenhaft ist, sind Krisenverläufe keineswegs notwendig vorherbestimmt. Aus diesem Grund möchten wir Krisen in den Zusammenhang der sozialen Auseinandersetzungen stellen, die auch ihr Auslöser sein können und die sich im Verlauf der Krise neu zusammensetzen.
Moritz Altenried: Deswegen interessiert uns an der Krise auch ihre politische Form. Wie wird die Krise regiert und wie wird mit der Krise regiert? Die „Krisengouvernementaliät“ und die Austeritätspolitiken bedienen sich einer transformierten Regierungslogik, die aber große Parallelen zu den „neoliberalen Jubeljahren“ der 1990er Jahre hat. Wir beschreiben das als Verschiebung von einem „triumphalistischen“ zu einem „fatalistischen“ Modus. Allerdings funktioniert diese Verschiebung nicht reibungslos, wie die Proteste gegen die Austeritätspolitik in vielen europäischen Ländern, aber auch die autoritäre und post-demokratische Verhärtung zeigen.
Warum haltet Ihr den gängigen Krisen-Begriff für problematisch?
Mariana Schütt: Der gängige Begriff der Krise bezieht sich ja meist auf das Wirtschaftswachstum. Und darin steckt ja schon die eigentliche Absurdität, dass ein System, das solche gigantischen Mengen an Gütern produziert, bereits in die Krise gerät, wenn es nicht mehr wächst. In dieser Idee von Krise steckt keinerlei Verteilungsdimension oder ähnliches, es ist ein kapitalistischer Krisenbegriff.
Moritz Altenried: Das Problematische daran, wie Krise im Moment verhandelt wird, ist, dass sie als Einbruch in eine funktionierende Ordnung dargestellt wird. Dies lässt sich als „exogener Krisenbegriff“ beschrieben. Da die Märkte eigentlich funktionieren, muss die Krise woanders ausgelöst worden sein, so die Argumentation. Das sind dann wahlweise die „faulen Griechen“, die über ihren Verhältnissen leben, hohe Sozialausgaben oder aber auch „gierige Banker“. Diese Krisenerzählungen verschleiern und normalisieren die Widersprüche, die den Kapitalismus inhärent krisenhaft machen. Was wir brauchen, ist ein Verständnis von Krise, mit dem wir uns gegen die Zumutungen der Troika, der Austerität und der massenhaften Verarmung wehren können, ohne in eine nostalgische Verehrung etwa der fordistischen Periode zu verfallen. Auch politisch brauchen wir dafür den Begriff der Krise, dem aber keine funktionierende kapitalistische Normalität als Ideal gegenüber gestellt werden darf.
Welcher Zusammenhang besteht für Euch zwischen Krise auf der einen Seite und Nationalismus bzw. Ausgrenzung auf der anderen?
Mariana Schütt: Zunächst mal ist es ja offensichtlich, dass mit der Krise verschiedene rassistische und nationalistische Konjunkturen einhergehen. Dazu gehört etwa der deutsche Krisennationalismus, der „faule Griechen“ denunziert – aber auch andere Nationalismen und anti-europäische Rechtspopulismen erleben einen Aufschwung. Auch die brutale und menschenverachtende Militarisierung der EU-Außengrenzen steht im Zusammenhang mit der Krise. Dazu kommen neofaschistische und neonazistische Gruppen, wie etwa Chrysi Avgi in Griechenland, deren erschreckende Erfolge sicherlich nicht ohne den Kontext der Krise zu erklären sind. Dennoch wehren wir uns gegen ein einfaches Schema, das diese Phänome einfach als Krisenprodukte begreift. Die verschiedenen Nationalismen und Rassismen, deren Konjunkturen wir momentan erleben, sind Bestandteile europäischer Normalität und nicht erst durch die Krise entstanden, auch wenn sie sich jetzt natürlich verändern.
Zum Weiterlesen
Sebastian Friedrich / Patrick Schreiner (Hg.): Nation – Ausgrenzung – Krise. Kritische Perspektiven auf Europa. edition assemblage, 240 Seiten, 18,00 EUR [D]. ISBN 978-3-942885-36-2. (bol.de, thalia.de, buch.de, ebook.de).
Der Sammelband untersucht Formen und Auswirkungen ausgrenzenden und nationalistischen Denkens im Kontext der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa. Weitere Informationen zum Buch: Nation - Ausgrenzung - Krise.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.