"Nachhaltigkeit" - neoliberal instrumentalisiert und verwässert
9. April 2015 | Patrick Schreiner
"Nachhaltigkeit" hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem weit verbreiteten, aber in der Tendenz immer unschärferen politischen Begriff entwickelt. Wenngleich er sich ursprünglich sehr stark auf ökologische Frage- und Problemstellungen bezog, so waren doch von Beginn an auch soziale und ökonomische Aspekte Teil der Debatte. Gerade die ökonomische Dimension hat sich dabei zunehmend zu einem Einfallstor für Ziele entwickelt, die der eigentlichen Idee eines umwelt- und naturgerechten Produzierens und Lebens ebenso diametral entgegenstehen wie der Idee eines sozialen Ausgleichs und sozialer Gerechtigkeit. Ich stelle im Folgenden die Begriffsgeschichte der Nachhaltigkeit vor und ergänze durch eigene Überlegungen.
Der Begriff der Nachhaltigkeit als politischem Konzept hat seinen Ursprung in den Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre um die Vereinbarkeit von wirtschaftlicher Entwicklung und Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Seine älteren sprach- und ideengeschichtlichen Wurzeln liegen in der Forstwirtschaft, wo er schon ab dem 18. Jahrhundert den Grundsatz beschrieb, nicht mehr Holz einzuschlagen, als wieder nachwachsen könne. Die bisweilen zu lesende Vermutung, man habe in den 1980er Jahren "nachhaltig" als Übersetzung des englischen "sustainable" direkt aus den Forstwissenschaften entnommen, dürfte allerdings zumindest unvollständig sein: Mit der Bedeutung "dauerhaft" oder "langfristig nachwirkend" findet es sich auch schon bei Anna Seghers und Victor Klemperer.
Als politischer Begriff wurde "Nachhaltigkeit" 1987 in seiner englischen Form "Sustainability" vom Abschlussbericht "Our common future" der nach ihrer Vorsitzenden "Brundtland-Kommission" genannten Weltkommission für Umwelt und Entwicklung prominent platziert. Der für die nachfolgenden Diskussionen äußerst einflussreiche Text identifiziert ökonomische, soziale und technologische Fortschritte der Menschheit, benennt aber zugleich auch hierdurch entstandene, drastische Umwelt- und Entwicklungsprobleme. Mit Letzterem steht er in der Tradition umweltpolitischer Debatten der 1960er und vor allem 1970er Jahre. Der Bericht schlussfolgert, dass Umwelt- und Entwicklungspolitik im Konzept der "nachhaltigen Entwicklung" zusammengeführt werden sollten. Dabei trifft er eine Definition von nachhaltiger Entwicklung, auf die in der Nachhaltigkeitsdebatte anschließend sehr häufig Bezug genommen wurde:
Sustainable development seeks to meet the needs and aspirations of the present without compromising ability to meet those in the future.[1]
Für die Debatten rund um Nachhaltigkeit sind zwei wesentliche Aspekte dieser Definition bis heute relevant:
- Erstens die Vorstellung, dass ökonomische Produktion (zur Befriedigung von Bedürfnissen) so erfolgen solle, dass die – im Wesentlichen ökologischen – Grundlagen des Produzierens nicht gefährdet werden.
- Zweitens der Bezug auf den Topos der Generationengerechtigkeit.
Von diesem Verständnis von Nachhaltigkeit ausgehend, griff der Bericht über die ökologische Frage hinaus auch wirtschaftliche und soziale Aspekte des Themas auf. So wies er etwa auf die Bedeutung von Frieden und sozialer Ordnung hin und gab auch Überlegungen zu Weltwirtschaft, industrieller Produktion sowie der Entwicklung der Weltbevölkerung breiten Raum. Der Vorstellung, nachhaltige Entwicklung brauche eine Abkehr vom westlich-kapitalistischen Wachstumsmodell, erteilte der Brundtland-Bericht eine explizite Absage. Auch auf Wachstum bezieht er sich positiv: Zur Bekämpfung von Armut in Entwicklungsländern brauche es eine "neue Ära des Wachstums".
Dieser Begriff von Nachhaltigkeit, einschließlich seinem Festhalten am westlich-kapitalistischen Modell von Entwicklung, bildete 1992 auch die Grundlage der "Konferenz für Umwelt und Entwicklung" der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro. Die dort gefasste "Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung" definierte "nachhaltige Entwicklung" in erkennbarer Anlehnung an den Brundtland-Bericht wie folgt:
Das Recht auf Entwicklung muss so verwirklicht werden, dass den Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen der heutigen und der kommenden Generationen in gerechter Weise entsprochen wird.[2]
Die Agenda 21, das umfangreiche Beschlussdokument dieses Kongresses, unterscheidet zwischen Handlungsnotwendigkeiten in den Industriestaaten einerseits und Handlungsnotwendigkeiten in Entwicklungs- und Schwellenländern andererseits. In ersteren identifiziert sie eine im Verhältnis zur Bevölkerung zu hohe Beanspruchung der Umwelt, die durch eine effizientere Produktion in einem insgesamt marktwirtschaftlichen Umfeld wie auch durch die Änderung von Konsumgewohnheiten reduziert werden solle. Für Entwicklungs- und Schwellenländer identifiziert sie hingegen einen deutlichen sozialen und wirtschaftlichen Nachholbedarf – etwa hinsichtlich der Integration in den Weltmarkt, im Bereich der Bevölkerungspolitik, der Infrastruktur oder der Armutsbekämpfung.
Wie schon im Brundtland-Bericht, so war auch in der Agenda 21 ein sehr breites Verständnis von Nachhaltigkeit angelegt. Neben dem Erhalt und der Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen thematisierte das Papier auch Fragen der Sozialpolitik (unter anderem Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung sowie Armutsbekämpfung), der Wirtschaftspolitik (mit einem deutlich erkennbaren positiven Bezug auf fairen, aber freien Handel) und der politischen Partizipation.
In den 1990er Jahren kristallisierte sich aus dem breiten Nachhaltigkeitsbegriff des Brundtland-Berichts und der Agenda 21 ein Modell heraus, dem zufolge Nachhaltigkeit aus drei Säulen bestehe – einer ökologischen, einer ökonomischen und einer sozialen. In Deutschland wurde es insbesondere von der Enquete-Kommission des Bundestags "Schutz des Menschen und der Umwelt" 1998 prominent platziert, es hat aber auch international einige Verbreitung gefunden.[3] Die Enquete-Kommission argumentiert, dass die ökologische Dimension nicht isoliert gegen die soziale oder die ökonomische Dimension durchsetzbar sei. Daher sei eine Integration aller drei Säulen anzustreben. Dabei müsse allerdings der Grundsatz gelten, dass soziale und ökonomische Ziele nicht dauerhaft auf Kosten von Natur und Umwelt zu erreichen seien.
Generationengerechtigkeit bildet dabei auch für die Enquete-Kommission das verbindende Element dieser drei Säulen. Als nachhaltig gilt ihr ein Wirtschaften, das nachfolgenden Generationen die Grundlage und Möglichkeit für dieses Wirtschaften bewahrt. Von einer fundamentaleren Umweltethik abgesehen, die Natur und Umwelt als Selbstzwecke versteht, stellt eben dies den entscheidenden ethischen Kerngedanken des Nachhaltigkeitsdiskurses dar: Von einer generationenübergreifenden Gleichheit der Menschen ausgehend, wäre eine Privilegierung der heute Lebenden gegenüber den später Lebenden nicht zu rechtfertigen. Und eine solche Privilegierung wäre eben auch der unumkehrbare Verbrauch nicht-regenerativer natürlicher Ressourcen.
Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Bedeutung des Gleichheitsgedankens für den Nachhaltigkeitsdiskurs allerdings als begrenzt. Schon hinsichtlich der sozialen Gleichheit innerhalb einer Generation findet er sich nur noch sehr eingeschränkt. Man mag ihn im Brundtland-Report und in der Agenda 21 noch dort erkennen, wo den Entwicklungs- und Schwellenländern das Recht auf mehr Wohlstand zugebilligt wird. Auch abstrakte Forderungen nach sozialem Ausgleich finden sich recht häufig. Doch der grundsätzliche Vorrang von Marktmechanismen und das Einfordern von fairem, aber freiem Handel lassen einen gewissen Widerspruch erkennen. Tatsächlich entpuppten sich das Festhalten an marktliberalen Konzepten im Allgemeinen und – später – das Behaupten einer ökonomischen Dimension der Nachhaltigkeit im Besonderen in der politischen Debatte wie auch in der Praxis als entscheidende ideologische Ansätze, um ökologische und soziale Aspekte des Themas ebenso auszuhebeln wie egalitaristische Vorstellungen von Ökologie und Gesellschaft.
Dies zeigt sich für ökologische Nachhaltigkeit beispielsweise an der Unterscheidung von starker und schwacher Nachhaltigkeit, wie man sie in den letzten Jahren entwickelt hat.[4] Ideengeschichtlich lässt sich diese Unterscheidung auch auf ein widersprüchliches Nebeneinander von einerseits marktwirtschaftlich-technologieoptimistischen Strategien und andererseits konsumkritischen Ansätzen im Brundtland-Bericht und vor allem in der Agenda 21 zurückführen.
Hinter dem Konzept der schwachen Nachhaltigkeit steckt die Vorstellung, dass die nachfolgenden Generationen hinterlassenen Objekte, Institutionen und Strukturen erstens einheitlich in Geldform messbar und zweitens wechselseitig austauschbar sind. Ein Weniger an funktionierender Natur und Umwelt sowie sozialer Ordnung wäre dann beispielsweise ersetzbar durch ein Mehr an Maschinen, Infrastruktur und Geldkapital. Im Grunde handelt es sich hier um die Übertragung der Neoklassik auf den Nachhaltigkeitsdiskurs. Ein solches Denken setzt einen ausgeprägten Technikoptimismus voraus: Denn nur unter der Annahme, dass für geschaffene Umweltprobleme stets technische Lösungen entwickelt und für endliche Ressourcen stets nutzbare Ersatzressourcen oder Recycling-Möglichkeiten gefunden werden, kann dieses Konzept funktionieren. Die Koordinierung hierfür soll über Marktpreise erfolgen. Für kapitalistisches Wirtschaften sind aus dieser Warte kaum oder keine ordnungspolitischen Einschränkungen notwendig, da eine angemessene Allokation von Ressourcen und die Entwicklung notwendiger Technologien über Märkte geregelt werden könne.
Die Enquete-Kommission des Bundestags "Schutz des Menschen und der Umwelt" rekurriert zumindest stellenweise auf den Begriff der schwachen Nachhaltigkeit, etwa wenn sie schreibt:
Die in der regulativen Idee der Nachhaltigkeit innewohnende Idee eines Such- und Lernprozesses findet im Wettbewerb der Marktwirtschaft ihre ökonomische Ausprägung.[5]
Hinter dem Konzept der starken Nachhaltigkeit steckt hingegen die Vorstellung, dass Objekte, Institutionen und Strukturen keineswegs beliebig austauschbar sind. Vielmehr werden insbesondere Natur und Umwelt als unabdingbare Lebensgrundlagen der Menschheit verstanden, die in einem (je zu bestimmenden) Ausmaß geschützt und für nachfolgende Generationen bewahrt werden müssen. Ressourcen gelten hier nicht als beliebig ersetzbar, sondern als endlich. Eine deutliche ordnungspolitische Einschränkung und Regulierung von Marktmechanismen ist die folgerichtige Forderung, die sich aus dieser Annahme ableitet.
Das Konzept starker Nachhaltigkeit sieht sich dabei allerdings dem Problem gegenüber, dass ein noch so geringer und effizienter Verbrauch von Ressourcen unter der Annahme einer Endlichkeit dieser Ressourcen früher oder später zu Grenzen führen muss. Neben der drastischen Einschränkung des Ressourcenverbrauchs wird nachhaltige Produktion daher nicht umhinkommen, Substitute oder Recycling-Möglichkeiten für bestimmte Ressourcen zu suchen und zu finden. Allerdings nicht, wie die schwache Nachhaltigkeit unterstellt, weil Wohlstand weitgehend beliebig von natürlichen Grundlagen abgekoppelt werden könne, sondern gerade weil Produktion stets an diese gebunden bleibt.
Ob nachhaltiges Wirtschaften in diesem Sinne allerdings unter den Bedingungen eines marktradikalen Laissez-faire gelingen kann, erscheint fraglich. Nun braucht man dabei zwar nicht so weit zu gehen, wie es einige Kritikerinnen und Kritiker des Nachhaltigkeitsdiskurses tun, die den Begriff der Nachhaltigkeit als ungenügend oder als Augenwischerei ablehnen. Für sie wäre alleine – wahlweise – das Ende der Globalisierung, des Kapitalismus oder der Industrieproduktion zielführend. Doch bei allen Vorbehalten gegenüber solchen Forderungen ist das dahinter stehende Grundanliegen durchaus ernst zu nehmen. In der Tat nämlich scheint eine kritische Bestandsaufnahme des Nachhaltigkeitsbegriffs im Allgemeinen und der drei Dimensionen von Nachhaltigkeit im Besonderen mehr als überfällig.
So ist festzuhalten, dass in den Diskussionen rund um Nachhaltigkeit an der – im Grunde durchaus angemessenen – Thematisierung ökonomischer Frage- und Problemstellungen eine Interessenpolitik ansetzen kann, die auf ein Fortführen auch offensichtlich nicht-nachhaltigen Produzierens drängt. Zumindest in einer radikalen Auslegung lässt sich mit dem Konzept der schwachen Nachhaltigkeit tatsächlich schlichtes Nichtstun legitimieren. Und schon bei einer weichen Auslegung verkommt Ökologie zu bloßer Kosteneinsparung oder Imagesteigerung, deren Legitimität sich vorwiegend aus der Profitabilität entsprechender Maßnahmen ergibt.
Eine ähnliche Verdrehung des Nachhaltigkeitsbegriffs lässt sich auch für soziale Nachhaltigkeit feststellen. Hier sei erneut auf den Bericht der Enquete-Kommission des Bundestags von 1998 verwiesen:
Das Leitbild [der Nachhaltigkeit, P.S.] verlangt in kürzester Form, nicht auf Kosten der Enkel und Urenkel zu leben. In dieser Forderung kommt der Zusammenhang der ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimension unmittelbar zum Ausdruck. Staatliche und private Verschuldung, denen keine Zukunftsinvestitionen gegenüberstehen, Egoismen politischer und wirtschaftlicher Machteliten, Verteidigung sozialer Besitzstände, mangelnde Anpassungsfähigkeit des Bildungs- und Ausbildungssystems verletzen das Nachhaltigkeitsgebot ebenso wie die Beeinträchtigung der natürlichen Lebensgrundlagen oder des Erdklimas. Alle genannten Beispiele belasten zukünftige Generationen.[6]
Der Topos der Generationengerechtigkeit, der hier im ersten Satz eingeführt wird, wird anschließend unmittelbar mit einer neoliberalen Auffassung von Wirtschaft und Gesellschaft verbunden. Wie selbstverständlich behauptet die Enquete-Kommission, dass unter anderem auch Folgendes die Generationengerechtigkeit verletze:
- Private und staatliche Verschuldung, sofern ihr keine "Zukunftsinvestitionen" gegenüberstünden. Hier wird unzulässigerweise so getan, als sei öffentliche Verschuldung in irgendeiner Form mit der Zerstörung von Natur und Umwelt gleichzusetzen. Die volkswirtschaftliche Funktion und Sinnhaftigkeit öffentlicher Verschuldung wird völlig ausgeblendet. Ebenso werden die verteilungspolitischen Implikationen des Themas verschwiegen. Diese fragwürdige und verkürzte Verknüpfung der Diskussion um Staatsverschuldung mit dem Topos der Generationengerechtigkeit fand leider auch bei Umweltbewegten einigen Widerhall.
- Die Verteidigung sozialer Besitzstände. Hier erscheint ein Blick zurück auf die späten 1990er Jahre sinnvoll, als der Text geschrieben wurde: In jene Zeit fielen intensive Debatten um die angeblich mangelnde Finanzierbarkeit des Sozialstaats und die schlechte Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, die nach 2000 schließlich zu den drastischen Angriffen auf "soziale Besitzstände" durch die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder führten. Wenn hier also behauptet wird, das Verteidigen sozialer Besitzstände würde nachfolgende Generationen schaden, dann dürften damit in erster Linie hohe Löhne und ein ausreichendes Niveau der sozialen Sicherung gemeint gewesen sein. Folgerichtig verweist der Bericht auch wiederholt auf das angeblich wachsende Missverhältnis zwischen jenen, die in soziale Sicherungssysteme einzahlen, und jenen, die daraus Mittel erhalten.
Ähnliche Beispiele neoliberalen Denkens finden sich im Bericht der Enquete-Kommission noch zuhauf. Als Beispiele seien etwa die Forderung nach einer Senkung der Staatsquote bzw. nach weniger Interventionen des Staates in die Wirtschaft und das Warnen vor einer zu hohen Steuer- und Abgabenbelastung genannt. Sie alle seien gefährlich, weil sie die ökonomische Nachhaltigkeit gefährdeten. Hier wird ein bestimmtes wirtschaftspolitisches Konzept, nämlich der auf einen Rückzug des Staates setzende neoliberale Marktradikalismus, in selbstverständliche Analogie zum Begriff der Nachhaltigkeit gesetzt. Generationengerechtigkeit wird als Vorwand genommen, um altes neoliberales und konservatives Gedankengut in neuer Form zu präsentieren.
Wenn angebliche Verletzungen von Nachhaltigkeit – wie etwa öffentliche Verschuldung oder eine hohe Staatsquote – mit der Zerstörung von Natur und Umwelt oder des globalen Klimas gleichgesetzt werden, dann spielt dies auch die Bedeutung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit herunter. Trotz aller denkbaren technischen Fortschritte bleibt der Mensch schließlich an die grundsätzliche Unumkehrbarkeit etwa von Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung gebunden. Hier besteht ein grundlegender Unterschied zwischen der ökologischen Nachhaltigkeit auf der einen und der ökonomischen Nachhaltigkeit auf der anderen Seite.
"Ökonomische Nachhaltigkeit" erweist sich damit zunehmend als neoliberale Abwehrargumentation gegen eine egalitärere Gesellschaft sowie eine stärkere ökologische Ausrichtung des Wirtschaftens. Hieraus nun allerdings zu schlussfolgern, auf das Konzept der ökonomischen Nachhaltigkeit könne oder solle gänzlich verzichtet werden, wäre kurzsichtig. Es käme vielmehr darauf an, diesen Begriff im Sinne eines tatsächlich sozialeren und ökologischeren Wirtschaftens neu zu besetzen. Schließlich gibt es ja durchaus eine ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit: Der ökologische Wandel der Industriegesellschaft, die Umstellung auf eine CO2-neutrale Produktion, die Entwicklung zukunftsfähiger Mobilitätssysteme, die Reduktion des Ressourcenverbrauchs, der Ausbau des Recyclings und die verstärkte Nutzung nachwachsender Rohstoffe sowie erneuerbarer Energien sind aus ökologischer Sicht dringend anzustreben und betreffen die Ökonomie unmittelbar. Ebenso stellen sich ökonomische Frage- und Problemstellungen, führt man sich die wachsende soziale Ungleichheit und die Ausgrenzung immer größerer Bevölkerungsgruppen vor Augen. Hierfür sind gleichfalls Antworten und Lösungen notwendig, die eben auch ökonomische Implikationen haben.
Es braucht daher einen Begriff ökonomischer Nachhaltigkeit, für den Mensch, Natur und Umwelt an erster Stelle stehen. Und für ihn braucht es wiederum die politische Konfrontation mit neoliberalen und marktradikalen Ideologemen in der Nachhaltigkeitsdebatte.
Der Text erschien zuerst in Forum Wissenschaft 2/2012. Er ist von der CC-Lizenz gemäß Impressum ausgeschlossen; das Zitieren und das Verlinken des Textes ist erlaubt, nicht aber das Vervielfältigen/Kopieren.
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[1] World Commission on Environment and Development (1987): Our Common Future. Report of the World Commission on Environment and Development. <http://www.bne-portal.de/coremedia/generator/unesco/de/Downloads/Hintergrundmaterial__international/Brundtlandbericht.pdf> (08.04.2012). S. 51.
[2] Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung. <http://www.un.org/depts/german/conf/agenda21/rio.pdf> (11.4.2012). Grundsatz 3.
[3] Siehe für die Ausführungen zu starker und schwacher Nachhaltigkeit Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" (1998): Konzept Nachhaltigkeit. Vom Leitbild zur Umsetzung. Abschlussbericht. In: Bundestags-Drucksache 13/11200. S. 17-29.
[4] Vgl. für die Ausführungen hierzu Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (2002): Für eine neue Vorreiterrolle. Umweltgutachten 2002. In: Bundestags-Drucksache 14/8792. S. 57-69.
[5] Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" (1998): Konzept Nachhaltigkeit. Vom Leitbild zur Umsetzung. Abschlussbericht. In: Bundestags-Drucksache 13/11200. S. 21.
[6] Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" (1998): Konzept Nachhaltigkeit. Vom Leitbild zur Umsetzung. Abschlussbericht. In: Bundestags-Drucksache 13/11200. S. 24.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.