Nachruf: Kämpfen und lernen
12. Juli 2017 | Sebastian Friedrich
Der Lehrer und linke Publizist Fritz Güde ist am 5. Juli 2017 im Alter von 81 Jahren gestorben.
Nach Schulabbruch, Gelegenheitsjobs und anschließendem Dann-Doch-Noch-Schule-Nachholen habe ich ab Sommer 2006 den Zivildienst in Karlsruhe absolviert. Bei der Suche nach politischer Betätigung drückte mir ein enger Freund eine Ausgabe der Stattzeitung für Südbaden in die Hand. Es ging darin um linke Geschichte, lokale Kultur und konkrete Kämpfe vor Ort. Ich fand gut, was ich las, und besuchte einen von der Stattzeitung organisierten Vortrag in Offenburg. Kurze Zeit später schrieb ich meine erste Rezension für stattweb.de, der Online-Ausgabe der Stattzeitung [und eine Art Vorläuferprojekt von annotazioni.de, Red.] Wenig später war ich als Redakteur dabei. Den Vortrag in Offenburg hielt Fritz Güde. Er wurde mir von meinem Sitznachbarn als „so etwas wie der theoretische Kopf der Stattzeitung“ vorgestellt. Fritz, ein rundlich-älterer Herr mit ein wenig wirrem weißen Haar und lustiger Stimme, brachte den Anwesenden mit badischem Dialekt die guten und weniger guten Stellen in Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ näher.
Fritz wurde am 22. August 1935 in Wolfach/Baden geboren, wo sein Vater – der spätere Generalbundesanwalt und danach noch CDU-Bundestagsabgeordnete Max Güde – Amtsrichter war. Nach einem Studium der Germanistik, Romanistik und der Geschichtswissenschaften wurde Fritz Lehrer. Im Zuge der 68er Jahre politisiert, trat er in den frühen 1970er Jahren dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) bei. 1974 war er als einer der ersten von Berufsverboten betroffen. Das Stuttgarter Kultusministerium suspendierte ihn nicht nur vom Schuldienst an öffentlichen Schulen, sondern verstand es auch, eine Anstellung an Privatschulen in Baden-Württemberg zu hintertreiben. Vorgeworfen wurden Fritz die Mitgliedschaft im KBW, die Mitarbeit im Komitee gegen die Berufsverbote und die politische Entrechtung im öffentlichen Dienst sowie der Verkauf der KBW-Publikation Kommunistische Volkszeitung. Sein Fall sorgte bundesweit für Aufsehen. 1977 beurteilte das Verwaltungsgericht Karlsruhe das Berufsverbot als rechtens und verfügte die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis, obwohl Fritz schon nach wenigen Monaten wieder aus dem KBW ausgetreten war. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hob jedoch dieses Urteil ein Jahr später auf und erkannte lediglich auf eine Gehaltskürzung für seine Zeit der KBW-Mitgliedschaft. Obwohl ihm damit der Weg zurück an die staatlichen Schulen in Baden-Württemberg wieder geebnet war, blieb er zunächst aus freien Stücken Lehrer an der Hermann-Lietz-Schule in Hohenwerda/Hessen, die ihn im Jahr 1977 eingestellt hatte. Danach war Fritz für einige Zeit Lehrer an einem staatlichen Gymnasium im baden-württembergischen Freudenstadt. Schließlich war er bis zu seiner Pensionierung noch mehrere Jahre an der katholischen Heimschule Lender in Sasbach/Baden tätig.
Der Wille zum Weitermachen
Fritz blieb immer politisch aktiv, auch als sich der KBW 1985 auflöste. Anders als viele andere ehemalige KBW-Mitglieder ging Fritz nicht zu den Grünen. Allerdings begann er seit deren Erstausgabe für die Kommune zu schreiben, die 1983 – also noch zu KBW-Zeiten – als Nachfolge-Publikation der Kommunistischen Volkszeitung gegründet wurde. Er beendete dieses Engagement 1987 und ließ es 1992 nur kurzzeitig nochmals aufleben. Im Laufe der Zeit hatte sich die Kommune zu einem Organ des Realo-Flügels der Grünen entwickelt – eine Entwicklung, die Fritz ablehnte. 1995 wurde er Redaktionsmitglied der Stattzeitung für Südbaden beziehungsweise von stattweb.de, wo wir schließlich ab Ende 2006 zusammenarbeiteten.
Schnell entwickelte sich ein enges Verhältnis zwischen uns. Er, fast auf den Tag genau ein halbes Jahrhundert älter als ich, wurde mir eine Art politischer Mentor. Lange Telefonate und Mailkorrespondenzen über Lenin, Gramsci, vor allem über Tucholsky, Brecht und Benjamin, aber auch über Foucault waren an der Tagesordnung. Es gab keine Frage, die ich ihm nicht stellen konnte, keine, auf die er Ad-hoc mit einem fundierten Beitrag ragierte. Andersrum berichtete ich ihm von Debatten, Organisierungsversuchen und Aktionen an den Unis und auf den Straßen in Berlin, wo ich ab 2007 lebte.
Gemeinsam mit den anderen Redaktionsmitgliedern entschieden wir, stattweb.de im Juli 2010 einzustellen. Am Schluss waren wir einfach zu wenige, um die globalen Widersprüche bis auf den Grund des gelebten Lebens in der Region Südbaden durchsichtig zu machen, wie wir in unserer Auflösungserklärung schrieben.
Fritz und ich beschlossen, eine linke Seite für Buchrezensionen aufzubauen. Die Idee von kritisch-lesen.de kursierte bereits zu stattweb.de-Zeiten in unseren Köpfen. Mit dem Ende der Seite sammelten wir weitere Redakteur_innen und gingen das Projekt an. Wir fanden uns im Februar 2011 in einen eiskalten Raum am Stadtrand von Frankfurt am Main wieder. Sechs Menschen saßen an einem Tisch und diskutierten über Sinn und Form von kritisch-lesen.de, das einen Monat später online gehen sollte. Fünf der Anwesenden waren unter 30 Jahre alt, einer, Fritz, feierte ein paar Monate zuvor seinen 75. Geburtstag. Seine Sehkraft war zwar eingeschränkt, doch Geist und Wille, weiterzumachen, waren fit und ungebrochen.
Dieser Wille zum Weitermachen zog sich durch sein politisches Leben. Trotz der Repression, trotz der vielen Genoss_innen, die sich nach den erlittenen Niederlagen abwandten vom Versuch der Umwälzung, trotz des Siegeszugs der Dystopie auf Kosten der Utopie im Bewusstsein ehemals revolutionäre Aktivist_innen ab Ende der 1970er Jahre, trotz massivem Klassenkampf von oben und trotz geschichtlicher Entwicklungen, die die Ausgangslage für Linke weltweit und vor allem in Europa immens erschwerten, blieb Fritz seinen politischen Überzeugungen treu − ohne allerdings dogmatisch an ihnen festzuhalten. Viele seiner einstigen Mitstreiter_innen zogen sich aus − persönlich durchaus verständlichen − Gründen zurück oder machten während ihres Marsches durch die Institutionen zu lange Rast. Auf der Suche nach Erkenntnis wälzte sich Fritz indes durch Schutt und Scherben der Revolutionsversuche, schob sie hin und her. Es ging ihm darum, die begangenen Fehler und Niederlagen im besten Sinne des Wortes zu überdenken. Er war der Ansicht: Das Material, aus dem etwas Neues geschaffen werden kann, besteht weitgehend aus Trümmerstücken.
Diese Trümmerstücke aufzubereiten, darin sah er seine publizistische Aufgabe. Anlässlich seines 80. Geburtstages brachten Patrick Schreiner, Thomas Trüten und ich gemeinsam das Buch „Umwälzungen“ heraus. Darin versammelten wir 26 Beiträge, die Fritz zwischen 1984 und 2012 in den Zeitschriften Kommune und Stattzeitung für Südbaden sowie auf den Webseiten trueten.de, stattweb.de und kritisch-lesen.de veröffentlicht hatte. Das Buch zeigt die enorme Bandbreite der Themen auf, mit denen sich Fritz beschäftigt hat. Es geht in den Aufsätzen um Kurt Tucholsky, Erich Fried, Gottfried Benn, Christa Wolf, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, um Auseinandersetzungen mit Faschismus- und Imperialismustheorien, französischem Rap und erzkonservativen Familienserien aus den USA.
Die Kämpfe nicht zweimal verlieren
Ich erinnere mich an einen Satz, der häufig fiel, wenn ich mich mit Fritz über Grundsätzliches unterhielt. Sinngemäß lautet er: „Wir dürfen die Kämpfe nicht zweimal verlieren”. So richtig habe ich die Tragweite dieses Leitsatzes erst verstanden, als ich mich für „Umwälzungen“ noch einmal intensiv mit Fritz’ Texten und mit Walter Benjamin auseinandersetze. Denn Fritz’ Blick auf Geschichte und Gegenwart orientiert sich an den Überlegungen des Philosophen und Literaturkritikers. Im Mittelpunkt für Fritz steht Benjamins letzter großer Aufsatz: „Über den Begriff der Geschichte“, den dieser in den Jahren 1939 und 1940 niederschrieb. Bruchstückhaft reflektiert Benjamin darin nicht nur seine politischen Überzeugungen, sondern die Desillusionen und die Niederlagen der Linken. Benjamin wendet sich gegen ein Geschichtsverständnis, das nur Fortschritt kennt. Damit konnte Fritz viel anfangen.
Wie viele Genoss_innen seiner Generation war es der Verfall der DDR, der sich einbrannte. Bei aller Kritik am Arbeiter- und Bauernstaat, sahen viele Linke in ihm zumindest einen Versuch des Sozialismus − und damit einen Bezugspunkt. Für Fritz geriet ein lineares Verständnis von Fortschritt und Geschichte allerdings schon vor 1989 ins Wanken. Mit Blick auf die 1970er schrieb er einmal, man habe mit vollem Mund das Fortschrittsbrot in der Mundhöhle gewälzt − „damit nur ja keine einzige Erkenntnis herauskommt“. Es war die Zeit, als der KBW die Proteste gegen Atomkraftwerke entdeckte und sich den zum Teil konservativen Bäuerinnen und Bauern anschloss. Die Genoss_innen damals kämpften, so entnehmen wir es Fritz Ausführungen, in Hoffnung auf einen roten Garten Eden. Fritz schreibt in einer Rezension zu Henning Bökes Maoismus-Buch: „Beim KBW war die subjektive Anstrengung, so nötig sie war, so überwältigend, dass sie nur ertragen werden konnte im Licht der Voraussage: In soundsoviel Jahren, zuletzt wohl zehn, hat die Revolution gesiegt”. Als sich die Ernüchterung einstellte, ging der Glaube an das nahende Paradies verloren. Manchen öffnete dies die Augen und einen Weg zur Erkenntnis, bei anderen führte die Ernüchterung dazu, die Augen für immer zu verschließen und sich von allen Umwälzungsversuchen zu verabschieden. Nicht so Fritz, mit Blick auf seine Erfahrungen als Aktivist schrieb er in der Maoismus-Rezension:
„Es muss im Bewusstsein der Niederlagen der Kampf angetreten werden, im schärfsten Blick auf die Entstellungen, die bisherige Revolutionäre sich antaten, um ein Jahr oder fünf Jahre oder gar zehn weitermachen zu können. Gerade nicht im fahlen Schein der guten Vorsätze, wir würden im Neujahrs-Schnee anders an die Sache herangehen. Nein, in der Gewissheit, dass unsere Züge nicht weniger entstellt, unsere Hände nicht weniger schmutzig sein werden als die jener, die uns vorangegangen. Aber mit dem kleinen Unterschied, dass wir aufeinander achten wollen, aufpassen, wann es mit uns so weit ist, dann die Narben und Wunden nicht verstecken und zudecken, sondern offen ins Licht halten. Licht der Diskussion, der Überlegung, unter Umständen sogar in der Konsequenz der Notwendigkeit des Rückzugs, ja des Aufhörens”.
Die Narben und Wunden ersetzen die Gebrauchsanleitung zur Revolution: Wir haben sie, die uns Vorausgegangenen haben sie − und auch die, die uns nachfolgen, werden welche haben. Wir müssen sie offenlegen und zur Sprache bringen, nicht verdecken und verschweigen. Wir müssen auch über den Schmerz reden, darüber, wie es sich mit ihnen lebt.
In Eingedenken der Geschundenen, Gedemütigten, Geschlagenen
Das Zentrale, das ich von Fritz lernen durfte: Wenn wir nach den Ursachen der Wunden fragen, können wir aus ihnen lernen. Voraussetzung dafür ist es, sich in Beziehung zu setzen, aber nicht zu einem noch nicht einmal in groben Linien am Horizont erkennbarem El Dorado, sondern in Beziehung zu den Geschundenen, Gedemütigten, Geschlagenen.
Dabei reicht es nicht, sich zu erinnern, vielmehr geht es um das Eingedenken, wie Benjamin es nennt, darum, sich unversöhnlich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sie als unabgeschlossen zu begreifen. Doch das Vorausgegangene ist weit weg. Ein historisierender Zugriff vermag vielleicht die Ursachen der Narben und Wunden einigermaßen zu ergründen, doch der Schmerz ist dadurch kaum fühlbar, der Weg zur wirklichen Erkenntnis damit versperrt. Wie das Vorausgegangene begriffen und erfahren werden kann, hat Fritz Mitte der 1980er Jahre in einem Aufsatz skizziert. In seinem Beitrag „Ort, Weg, Bewegung“ führt er aus, wie sich nicht nur zeitlich, sondern auch örtlich auf das Unabgegoltene und Unerfüllte bezogen werden kann:
„Aufmerksamkeit auf die Spuren, die die einstmals Lebenden in den Orten unserer augenblicklichen Tätigkeit gezogen haben. Es käme weiterhin darauf an, Handlungen zu erfinden, die Verbindung mit den Taten der Toten erlaubten, selbst wenn diese sich in ihnen nicht notwendig wiedererkennen könnten”.
Hier kommt der Begriff Heimat ins Spiel. Heimat verstand Fritz keineswegs als Ort, in den man hineingeboren wird. Vielmehr kann Heimat begriffen werden als ein Ort, über den wir an das Geschehene anknüpfen können. Mit dem Bezug auf Heimat dürften nicht die bestehenden Unterschiede und Antagonismen derjenigen, die an diesem Ort leben, verdeckt werden. Heimat ist, wie Fritz in dem Aufsatz verdeutlichte, kein Ort, der den Streit ausspart. „Es ist vielmehr der einzige, wo er unmittelbar erfahren werden kann”. Heimat heißt auch, die Orte nicht aus ihrem Zusammenhang zu reißen, wie Fritz deutlich macht: „Sollte es Kommune überhaupt einmal geben, wird sie dann aber auch inmitten der ‚schon bewohnten’ Gegenden entstehen müssen: innerhalb, nicht außerhalb der alten Gemeinschaften, als Fortführung der Geschichte, nicht als Losreißung von ihr”.
Aussicht schaffen
Eine kritische Beschäftigung mit der Tradition, der Geschichte der Bewegung, in der man sich verortet, heißt auch anzuerkennen, genau Teil dieser Tradition zu sein. Es hilft nicht weiter, wie innerhalb der hiesigen Linken weit verbreitet, alle Verbindungen zu kappen und abzuschlagen, sich auf einen Mythos weniger Heiliger zurückziehen, die scheinbar widerspruchsfrei gehandelt haben und diejenigen zu verdammen, die geschlagen wurden − und geschlagen haben. Was wir von Fritz’ Ausführungen lernen: Auch wenn uns ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit zum Eingedenken gewiss keinen Masterplan zur Verfügung stellt, so können wir gewiss Spuren ausfindig machen, denen wir nachgehen können.
Was wir auch lernen könnten, hat Fritz als Mitautor im Gründungsmanifest von kritisch-lesen.de auf den Punkt gebracht. Was bedeutet mit all dem Ausgeführten „Kritik“? Es bedeutet kritisch-sein im Bewusstsein des Zeitverlaufs. Im Selbstverständnis des Online-Magazins vom März 2010 heißt es dazu:
„In diesem Sinne wollen wir uns zwar auf die vielen Annahmen von früheren Analysen beziehen, jedoch keine davon schlicht auf heute anwenden, ohne die Veränderungen zu beachten und mitzudenken. Die Vorstellung, im Schnellzug der Geschichte zu sitzen, die Zukunft gewiss in der Hand zu haben, führte und führt ins Elend. Wer meint, im Voraus zu wissen was sein wird, ergibt sich! ‚Kritisch’ erhält somit einen entscheidenden weiteren Sinn: Die Erfahrungen aus den Niederlagen der Vergangenheit sind zu bewahren, zu reflektieren – und weiterzugeben. Wir wollen nicht auf einem Gleis ohne Weichen eingreifen, sondern im Rundgang durch das Umfeld von herrschenden und linken Begriffen und Deutungen. Auf diese Weise wollen wir das Trümmerfeld der Gegenwart offenbaren als eines, in welchem die Produktionen und Überreste von Gewiss- und Sicherheiten zerstört werden müssen, um den Blick ins Freie zu schaffen. Somit wollen wir dem Begriff Kritik den Geschmack des Nörgelns, des grämlichen Sofahockertums nehmen, das sich mit nichts abfinden mag. Kritik in diesem Sinn verstehen wir als Breschenschlagen, als Aussicht schaffen, als Sich-Umblicken in einer Gegend, die altbekannt und doch völlig neu auftreten kann”.
Daraus ergab sich für Fritz in der Praxis, sich mit neuen Diskussionen auseinanderzusetzen, anstatt allzu schnell müde abzuwinken. So ist eine Debatte, auf die sich Fritz von Anfang an eingelassen hat, die um den „kommenden Aufstand“, der 2010 erschien und selbst in den bürgerlichen Feuilletons für einiges Aufsehen gesorgt hat. Vor allem die Betonung, es gebe keinen linearen Verlauf der Geschichte, imponierte Fritz ebenso wie die optimistische und kämpferische Perspektive. Dagegen kritisierte er eine entscheidende Auslassung bei der Schrift des „Unsichtbaren Komitees“:
„Der gegenwärtige Aussichtspunkt in der Höhe muss aber als einer verstanden werden, der einen unendlichen Scherbenhaufen zur Grundlage hat. Die einzig wahre Erkenntnis der verschiedenen Postmodernen muss auch hier festgehalten werden. Es gibt keinen linearen Fortschritt. ‚Es hat erst angefangen / wir werden immer mehr’ bleibt kurz flackernde Empfindung, keine Erkenntnis”.
Nicht nur an dieser Stelle, sondern auch in vielen Rezensionen, in denen er sich mit dem französischen Poststrukturalismus befasst, würdigt er die französische Denkrichtung für den Bruch mit dem linearen Geschichtsbild. Doch dies allein reicht nicht aus. Das Vergangene reicht in Gegenwart und Zukunft. Die Kontinuität macht vor dem Bruch nicht halt. Sich den Brüchen zu stellen, forderte Fritz, denn sie erlaubten den Blick „auf den trotz allem noch sprechenden Mund, den schmerzenden Leib, alles Stöhnen und Geschrei des lebendigen Lebens“, wie er einmal schrieb.
Fritz' Werk verweist darauf, die lange Liste der linken Niederlagen als eine Liste anstehender Aufgaben zu verstehen. Noch schlimmer als die Niederlagen selbst wäre es, diese Niederlagen und ihre Erfahrungen zu vergessen. Zum einen muss sachlich aus den Fehlern gelernt werden. Aber nicht nur das: Eingedenken bedeutet nicht nur, eine auf Verständnis und Erkenntnis abzielende Analyse zu betreiben, sondern die Kämpfe der Vorausgegangen zu erfahren. „Die Kämpfe nicht zweimal verlieren“ bedeutet: Erkennen, Begreifen und Nachempfinden.
Genau das, Kopf und Herz zusammenzubringen, zu kämpfen und zu lernen, standhaft und beweglich zu bleiben, habe ich von Fritz gelernt. Mein Genosse und Freund ist am 5. Juli im Alter von 81 Jahren gestorben.
Sebastian Friedrich ist Journalist und Publizist aus Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialstaatsdiskurse, Neue Rechte, AfD, Kritische Soziale Arbeit, Diskursanalyse sowie Klassenanalyse. Als @formelfriedrich twittert er regelmäßig. Seine Homepage: sebastian-friedrich.net.