Neoliberale und die "Nation": Wie Rainer Hank versucht, abgeschottete Grenzen zu begründen
9. November 2015 | Patrick Schreiner
In der gestrigen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) fand sich ein Artikel, der geradezu beispielhaft einen der grundlegenden Widersprüche der Neoliberalen offenbart: Einerseits wollen sie gesellschaftliche Institutionen und kollektive Regeln aus individuellen Rechten ableiten. Andererseits aber berufen sie sich dennoch auf "Nation" und Nationalstaat. Im konkreten Fall versucht FAS-Redakteur Rainer Hank zu begründen, warum ein Nationalstaat Einwanderung ablehnen dürfe, obwohl aus liberaler Sicht jeder Mensch das Recht auf Migration habe. An seinem widersprüchlichen Versuch wird deutlich, wie neoliberales Denken letztlich Anknüpfungspunkte für ausgrenzendes und nationalistisches Denken aufweisen kann.
Hanks argumentativer Ausgangspunkt in dem Artikel "Recht auf Einwanderung?" (bislang nicht im Internet verfügbar) in Kürze:
- Einerseits habe aus liberaler Sicht jeder Mensch das persönliche und individuelle Recht, ein Land (auch sein eigenes) zu verlassen. Dies sei nicht zuletzt auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 niedergeschrieben. Durchaus schlüssig argumentiert Hank, dass man schlecht für Freihandel, also für die freie Bewegung von Kapital, Waren und Dienstleistungen sein könne, während man gleichzeitig die freie Bewegung von Menschen ablehne.
- Andererseits aber könne aus dem individuellen Recht auf Auswanderung kein Recht auf Einwanderung abgeleitet werden, denn dieses würde "die Freiheitsrechte anderer beschneiden".
Genau letzteres aber ist für (Neo-) Liberale schwierig zu begründen, denn es müssten ja individuelle Freiheitsrechte sein, die durch Einwanderung beschnitten werden. Kollektive Rechte gibt es in einem konsequenten Liberalismus (und mehr noch im Neoliberalismus) schließlich nicht – genauer: Es gibt sie nur dann, wenn sie aus individuellen Rechten abgeleitet werden. Um dies am Beispiel des Themas der Migration zu veranschaulichen: Selbst wenn dauerhaft viele Millionen Menschen unkontrolliert nach Deutschland kämen, würde die Einwanderung als solche individuelle Freiheitsrechte nicht direkt beschneiden. Weder stellt sie das individuelle Recht auf Eigentum infrage, noch das Recht auf körperliche Unversehrtheit, noch sonst irgendein Recht. Sie verpflichtet die Einzelnen zu nichts. Zwar mag es indirekt negative Folgen geben, aber die sind (aus liberaler bzw. neoliberaler Sicht!)
- entweder marktgegeben und damit nicht kritisierbar (wie sinkende Löhne, steigende Güterpreise, sinkende Immobilienwerte), Marktergebnisse gelten den (Neo-) Liberalen ja stets als effizient und gerecht,
- oder als eigenständige Eingriffe in individuelle Rechte anzusehen (wie etwa Handlungen, die aus einem vermeintlichen öffentlichen Chaos oder aus einer immer wieder behaupteten, angeblich höheren Kriminalität von Migrantinnen und Migranten resultieren), die als solche zwar unrechtmäßig wären, aber es als eigenständige Handlungen von eigenständigen Individuen nicht rechtfertigen, das individuelle Recht anderer Individuen auf Einwanderung einzuschränken.
Soweit eine (neo-) liberale Argumentation, wie sie eigentlich aussehen müsste, wenn sie konsequent wäre. Was aber, wenn man als (Neo-) Liberaler das Recht auf Einwanderung dennoch einschränken möchte? Etwa, weil man selbst an eine Unterscheidung zwischen "Wir" und "Sie" bzw. an das "Eigene" und das "Fremde" ebenso glaubt wie an negative Folgen für das "Wir" bzw. das "Eigene"? Oder wenn man einer Bevölkerung / Wählerschaft / Leserschaft entgegenkommen möchte, die an all das glaubt? Dann behauptet man sogar als (Neo-) Liberaler, dass es ein Kollektiv gebe, dem eigenständige Rechte zukämen, denen individuelle Rechte der Einwandernden entgegenstünden. Dieses Kollektiv ist der Nationalstaat. Hank:
Dem Recht auf freie Wanderung steht ein Recht auf Ausschluss der Wandernden entgegen. Beide Rechte gründen in der individuellen Autonomie, was freilich voraussetzt, dass man eine Nation im Sinne der Volkssouveränität als kollektive Willensbekundung ihrer Individuen versteht und das Gebiet dieser Nation als eine Art Eigentum seiner Bewohner betrachtet. Der Schutz dieses Eigentums ist ebenfalls ein Freiheitsrecht.
Hank interpretiert also den Nationalstaat als kollektive Willensbekundung seiner Bürgerinnen und Bürger. Das Staatsgebiet wird bei ihm zu "eine[r] Art Eigentum" derer, die es bewohnen. Hier gibt es offensichtlich ein argumentatives Problem: Ein tatsächliches Eigentumsrecht am Staatsgebiet, das aus individuellen Eigentumsrechten hervorginge, gibt es nämlich nicht. Und ein Kollektiv ist im (Neo-) Liberalismus zudem nur als freiwilliger Zusammenschluss denkbar – Individuen schließen sich aus freiem Willen und durch eine rationale Entscheidung mit anderen Individuen zusammen.
Hank führt dies selbst aus, wenn er schreibt:
Die ökonomische Theorie des Clubs erklärt die Entwicklung von Kollektiven, zu denen sich rational kalkulierende[] Individuen zusammenschließen. Clubs bieten ihren Mitgliedern "Clubgüter", also Güter, die unter den Vereinsmitgliedern ohne (oder nur mit geringer) Rivalität gemeinsam konsumiert werden können, von deren Konsum Nicht-Mitglieder allerdings ausgeschlossen werden.
"Clubs", also kollektive Zusammenschlüsse von Individuen, setzen demnach rationale und individuelle Entscheidungen voraus, einen Club gründen bzw. ihm angehören zu wollen. Ein Nationalstaat entspricht diesem Kriterium gerade nicht: Seine Mitglieder werden weit überwiegend qua Geburt zu solchen. Eine "Nation" kann damit kein "Club" sein, und ein Staatsgebiet kein Eigentum, das aus individuellem Eigentum hervorgeht. Hank hält dies nicht davon ab, zu behaupten, Nationalstaaten könnten wie Clubs angesehen und aus (neo-) liberaler Sicht gerechtfertigt werden. Er schreibt ohne weitere Begründung, Staaten könne man "Clubs" gleichsetzen:
Staaten kann man als Clubs verstehen. Mitglied wird man durch Geburt oder durch Einbürgerung. […] Ein Verein ist nicht verpflichtet, neue Mitglieder aufzunehmen. […]
Hier liegt ein Widerspruch vor, der geradezu typischerweise auftaucht, wann immer (Neo-) Liberale sich positiv auf den Staat berufen. Denn ein Nationalstaat ist eben gerade kein rationaler Zusammenschluss, der auf freien Entscheidungen von Individuen beruht. Dies zu glauben, ist aber eine notwendige Illusion, wann immer (Neo-) Liberale für abgeschottete Grenzen argumentieren (wollen oder müssen). Dann wird so getan, als seien Nationalstaaten Manifestationen des Rechts von Individuen, sich zusammenzuschließen. Und nur dank dieser Illusion lässt sich mit (neo-) liberaler Begründung behaupten, es gebe einen Widerspruch zwischen dem Recht auf Auswanderung und dem "Recht", Menschen nicht in den eigenen Nationalstaat aufzunehmen – ein Widerspruch, der es wiederum erlaube, das Recht auf Auswanderung einzuschränken:
Ist das Recht zu wandern höher zu bewerten als das Recht der Menschen, sich zum Club und zur Nation zusammenzuschließen?
Ein solches Denken ist nicht nur widersprüchlich, sondern auch gefährlich. "Nation" und Nationalstaat sind schließlich geschichtliche und soziale Institutionen, die eben gerade nicht auf rationale individuelle Entscheidungen zurückgehen, sondern auf den irrationalen nationalistischen Glauben an Mythen und angebliche "kulturelle" Unterschiede. Ebenso irrational können folglich Äußerungen und Handlungen sein, die "Nation" und Nationalstaat zur eigenen Rechtfertigung und Begründung heranziehen – von eher zurückhaltender Fremdenangst über hetzende Schreibtischtäterei bis zum Anzünden von Flüchtlingswohnheimen. Diesen Irrationalismus sollte es eigentlich zu hinterfragen gelten. Die Augen vor ihm zu verschließen, ihn im Hank'schen Sinne gar pseudo-individualistisch fundieren zu wollen, bestärkt ihn hingegen. Die (neo-) liberale Illusion vom Nationalstaat als rationalem Zusammenschluss von Individuen setzt faktisch den irrationalen Glauben an Mythen und angebliche "kulturelle" Unterschiede voraus.
Hier zeigt sich einmal mehr: Offenbar ist es auch für (Neo-) Liberale notwendig oder wünschenswert, "Nation" und Nationalstaat in der beschriebenen Weise hochzuhalten. Trotz allem Individualismus und trotz der angeblichen Gleichheit der Menschen am Markt bestärkt auch der (Neo-) Liberalismus immer wieder den Glauben an angeblich natürliche "nationale" und "kulturelle" Unterschiede zwischen den Menschen. Auch wenn Hank selbst nicht ausgrenzend argumentiert, so stellt sein Denken damit doch Einfallstore für ausgrenzendes Denken bereit.
Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.