Nicaragua: Äquidistanz zu Tätern und Opfern staatlicher Gewalt?
30. August 2018 | Matthias Schindler
Seit Ende April ist aus Nicaragua, der »ruhigen Oase Mittelamerikas«, ein Hexenkessel mit hunderten von Toten geworden. Die weit überwiegende Mehrheit der Opfer ist durch staatliche und paramilitärische Gewalt zu Tode gekommen.
Langsam formt sich in Deutschland und auch international eine Bewegung, die sich mit den Opfern solidarisiert, das sofortige Ende der staatlichen Repression fordert, die grundlegenden demokratischen Rechte auf freie Meinungsäußerung verteidigt und die Einhaltung der Menschenrechte in Nicaragua verlangt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch vereinzelte Vertreter linker Gruppierungen, die eine einseitige Verurteilung des Regimes Ortega-Murillo ablehnen und sich für einen Friedensprozess aussprechen, an dem gleichermaßen die Protestbewegung, wie auch die Regierung Nicaraguas beteiligt sind. (Ein wichtiger Teil der lateinamerikanischen Linken verteidigt sogar offen die Regierung Ortega und deren Politik.)
Beide Seiten – die Regierung und die Protestierenden – für die Gewalt verantwortlich zu machen, ist jedoch nicht nur faktisch falsch, sondern auch ein schlimmes politisches Signal. Wer wäre jemals auf den Gedanken gekommen, die studentischen Proteste 1967 in Berlin für den Tod von Benno Ohnesorg mitverantwortlich zu machen? Wer hätte jemals die Demonstrationen gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg für die Verletzten mitverantwortlich gemacht? Und jetzt, bei über 300 Toten in Nicaragua, soll es richtig sein, sich nicht eindeutig mit den Protestierenden in ihrem Recht auf Kritik und freie Meinungsäußerung zu solidarisieren und sich gegen die staatliche Gewaltmaschinerie zu wenden?
Im Folgenden seien zwei der wichtigsten Argumente der mehr oder weniger kritischen Verteidiger Ortegas genannt und kommentiert. Ich beziehe mich in diesem Artikel auf Aussagen, die mir im persönlichen Meinungsaustausch begegnet sind, sowie unter anderem auf die im Anhang der unten verlinkten Langfassung genannten Quellen.
1. Es ist alles ganz unklar
Nicaragua ist sehr kompliziert, es hat eine tief sitzende gewalttätige politische Kultur, es gab immer Oligarchien und Volksaufstände, Diktaturen und Rebellionen, das Volk ist gespalten, im Untergrund brodelte es immer, die aktuellen Konfrontationen sind gewalttätig auf beiden Seiten, die Verantwortlichen sind nicht klar auszumachen, die einzige Lösung besteht in Aussöhnung und Dialog.
Wenn es schon nicht mehr möglich ist, die Gewaltsamkeit der staatlichen und paramilitärischen Kräfte zu leugnen, dann besteht der letzte Versuch, die Regierung Ortega nicht für die Gewalt verantwortlich zu machen, darin, alles als ein großes, undurchsichtiges Chaos darzustellen, wo die Verantwortung für die Gewaltmaßnahmen niemandem klar zuzuordnen ist, wo alle Seiten Dreck am Stecken haben und wo sich folgerichtig die erhitzten Gemüter wieder beruhigen, an eine Tisch setzen und eine Friedensvereinbarung treffen sollen.
Es mag diverse Situationen gegeben haben, in denen es zu unkontrollierten Gewaltaktionen gekommen ist. Aber das große Bild der Proteste und der Gewalt zeigt, dass die Opfer auf Seiten der Studenten und Jugendlichen mindestens fünfmal so hoch sind, wie auf Seiten der Polizei und der anderen eingesetzten Repressionskräfte.
Es ist absolut unpolitisch und diskriminierend, das Volk Nicaraguas als endemisch gewalttätig hinzustellen. Spätestens seit Marx ist bekannt, dass politische Bewegungen und Rebellionen ganz konkrete gesellschaftliche Ursachen haben. Eine der entscheidenden Ursachen für die Unzufriedenheit vieler Menschen in Nicaragua besteht darin, dass sie bis 2016 zwar leichte Verbesserungen ihrer materiellen Lebenssituation verspürt haben, dass auf der anderen Seite aber auch eine offen sichtbare, nicht legitime Bereicherung der sandinistischen und nicht- sandinistischen Oberschicht stattgefunden hat und die politischen Freiheiten und Rechte des Volkes immer weiter eingeschränkt wurden.
Es ist nicht so, dass das latent gewalttätige Volk, seiner angeblichen Natur entsprechend, immer mit seinen Caudillos und Rebellionen leben muss, sondern aktuell gibt es einen Caudillo, der jedes Maß verloren und damit die Proteste des Volkes selbst heraufbeschworen hat.
In jedem Falle hat der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols grundsätzlich die Verpflichtung und auch die Verantwortung, Gewalt nach innen nur ausnahmsweise und unter Einhaltung der Prinzipien der Legalität, ihrer Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit anzuwenden. Der Staat ist daher der Hauptverantwortliche dafür, die Repressionsmaßnahmen zu stoppen.
2. Die Gewalt der Protestierenden
Viele Artikel der mehr oder weniger kritischen Unterstützer Ortegas sprechen von »von Anbeginn an gewaltsam verlaufenden Protesten« ( ▸https://de.indymedia.org/node/20217 ) und geben damit der Protestbewegung die Schuld für die Gewalt und die Toten.
Diesen Darstellungen muss ich in aller Deutlichkeit widersprechen. Die Proteste begannen am 10. April 2018. Ich habe mich bis zum 14. April in Nicaragua (Managua) aufgehalten und die ersten Demonstrationen selbst miterlebt. Es handelte sich um bescheidene und völlig friedliche Kundgebungen von vielleicht einigen hundert Teilnehmer/innen.
Diese Demonstrationen drückten die Sorge der Studenten um den Erhalt des Naturreservats Indio MaÃz aus, das tagelang in Flammen stand, ohne dass die Regierung das Feuer bekämpfte und Hilfe aus Costa Rica sogar abgelehnt hatte. Die Studenten forderten – fernab von einem Sturz Ortegas – das sofortige Eingreifen der Regierung gegen diese Katastrophe, eine Untersuchung der Brandursachen, Unterstützung der Regierung für Umweltinitiativen und einen Dialog mit den staatlichen Verantwortlichen für den Umweltschutz.
Diese Demonstrationen waren kaum organisiert, es gab einige handgemalte Schilder, die Teilnehmer/innen waren sommerlich leicht bekleidet, es gab keinerlei Maskierungen (»pasamontañas«), sie haben den Straßenverkehr nur geringfügig gestört.
Die Antwort der Regierung Ortega war jedoch – wie gewohnt, und wie ich es schon bei anderen Gelegenheiten mehrfach persönlich miterlebt habe – dass genau dort, wo eine Demonstration stattfinden sollte, zu einer Gegendemonstration der »Sandinistischen Jugend« mobilisiert wird, um die eigentliche Demo zu verhindern. Dann beginnen die regierungstreuen Demonstranten, mit Beschimpfungen, Drohungen und Schlägen mehr oder weniger gewaltsam gegen die ursprüngliche Demo vorzugehen. Die dabei immer anwesende Polizei schützt die Demonstranten dabei nicht vor den Übergriffen der Regierungsanhänger. Die Anwesenheit und der Einsatz von Polizei und Aufstandsbekämpfungskräften variiert dabei nach nicht klar erkennbaren Regeln. An einem der folgenden Tage, häufig am Wochenende, werden dann die Beschäftigten verschiedener Ministerien mobilisiert, um an den diversen Kreisverkehren (»Rotondas«) der Hauptstadt durch ihre Anwesenheit, Fahnen, Transparente und laute Revolutionsmusik aus den 1980er Jahren ihre Unterstützung für die Regierung Ortega zu demonstrieren. In diesem Fall dauerte die Beschallung über 24 Stunden und ließ mich in der Nacht kein Auge schließen. Im Volksmund wird diese Übung als »rotondear« bezeichnet (ein unter Ortega neu entstandenes Wort, das wörtlich auf Deutsch übersetzt »kreisverkehren« heißen würde). Wer nicht an diesen Zwangsmobilisierungen teilnimmt, riskiert seinen Arbeitsplatz. Bei wichtigeren Anlässen wird dann noch irgendwo in der Stadt ein zentrales Event mit großer Bühne, Musik und Getränken organisiert, dieses Mal am 12. April auf der Avenida Bolivar.
Diese Art von Propaganda ist nicht neu. Bereits im Jahr 2008 habe ich nach den Gemeinderatswahlen solche Kundgebungen auf den Kreisverkehren Managuas erlebt. Diese Wahlen waren durch gewaltsame Demonstrationen der FSLN und durch massive Wahlfälschungen geprägt. Demonstrationen von oppositionellen Kräften wurden mit Gewalt unterdrückt. Hierbei fiel auf, dass viele der Ortega-Anhänger T-Shirts mit Aufdrucken der FSLN trugen und Andersdenkende oder Presseleute mit nagelneuen Macheten bedrohten oder sogar schlugen. Die Situation war derart mit Gewaltdrohungen aufgeladen, dass ich – nach 29 Jahren aktiver Nicaragua-Solidarität! – aus Angst um meine körperliche Unversehrtheit nicht zur zentralen Siegeskundgebung der FSLN gegangen bin.
Zurück zur aktuellen Situation: Die Studenten zeigten die gewaltsamen Störungen und Angriffe bei der Menschenrechtsorganisation CENIDH an und setzten ihre Kundgebungen fort.
Als die Studenten ab dem 18. April begannen, ihre Ablehnung der Rentenreform auf die Straße zu bringen, antwortet die Regierung mit großer Gewalt, was zu erneuten Demonstrationen und dem verschärften Einsatz von Polizei und Paramilitärs führt. Im Verlauf bis zum 23. April werden mindestens 44 Menschen getötet, in ihrer großen Mehrheit junge Leute, die tatsächlich oder auch nur angeblich an den studentischen Protesten teilgenommen hatten und vielfach tödliche Schussverletzungen aufweisen.
In der Folge dieser schockierenden Ereignisse ist es teilweise auch von Seiten der Protestierenden zu brutalen Übergriffen und Morden an Kräften der Polizei und der Paramilitärs gekommen, die unter keinen Umständen gerechtfertigt werden dürfen. Dennoch ist es für deren Erklärung – nicht deren Rechtfertigung! – wichtig, auf das enorme Ungleichgewicht der Kräfte in Bezug auf Organisation und Bewaffnung zwischen den Protestierenden und den Regierungskräften zu verwiesen.
Eine ausführliche Argumentation des Autors für eine Solidarität mit den Opfern der staatlichen Repression und gegen die staatliche Repression in Nicaragua findet sich unter: ▸https://gewerkschaftslinke.hamburg/2018/07/25/nicaragua-und-die-linke-unterdrueckung-kritik-sozialismus-und-demokratie/ .
Matthias Schindler ist Aktivist der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua seit 1979, Mitbegründer des Nicaragua Vereins Hamburg und der Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und León (Nicaragua).