Interview
Nick Kratzer: »Was von den Beschäftigten erwartet wird, ist mit normaler Anstrengung immer weniger zu schaffen!«
29. März 2021 | ver.di Bereich Innovation und Gute Arbeit
Nick Kratzer über das Zusammenwirken von Digitalisierung und indirekten Formen der Unternehmenssteuerung. Kratzer ist Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München.
Mit dem DGB-Index Gute Arbeit Befragte berichten von hoher und steigender Arbeitsbelastung. Die Befragung erfasst »nur« die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen. Wie aussagekräftig ist das eigentlich?
Zur Frage der Arbeitsintensität gibt es zwei Zugänge. Wie mit dem DGB-Index Gute Arbeit kann man die Menschen nach ihrer subjektiven Einschätzung fragen, wie sie ihre Arbeit und deren Veränderungen erleben. Viele Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass die Beschäftigten eine Intensivierung und Beschleunigung ihrer Arbeit wahrnehmen. Demnach muss immer mehr Leistung in der gleichen oder sogar weniger Zeit erbracht werden. Der zweite Zugang ist der Versuch, die Arbeitsintensität objektiv zu messen. Das ist aber gar nicht so einfach und hat seine Tücken. Die Behauptung, die subjektiven Äußerungen von Beschäftigten hätten keine Aussagekraft, teile ich nicht. Solche Befragungen liefern durchaus ein realistisches Bild der Veränderungen in der Arbeitswelt. Die Befunde zeigen eindeutig ein Leistungsproblem: Das, was von den Beschäftigten erwartet wird und was sie auch selbst von ihrer Arbeit erwarten, ist mit normaler Anstrengung immer weniger zu schaffen.
Seit Anbeginn des Kapitalismus versuchen Unternehmen, mehr aus ihren Beschäftigten herauszuholen, indem sie die Arbeitszeiten verlängern oder mehr Leistung in derselben Zeit verlangen. Was ist das Neue daran?
Zwei Dinge kommen neu ins Spiel. Das ist zum einen die Digitalisierung. Wie immer bei der Einführung neuer Technologien kann man nicht eindeutig sagen, welche Wirkungen sie in Bezug auf die Arbeitsintensität hat. Sie kann zu Entlastung beitragen – eine Erfahrung, die manche auch während der Corona-Pandemie machen. Zum Beispiel, weil sie weniger reisen oder pendeln müssen. Es gibt aber auch eine Reihe von Befunden, die darauf hindeuten, dass die Digitalisierung mit einer zunehmenden Intensivierung von Arbeit verbunden ist. Hinzu kommt zweitens, dass diese neuen Technologien auf neue Steuerungsformen treffen, die die Eigenleistung der Subjekte ins Zentrum stellen. Entscheidend ist, dass die Beschäftigten bestimmte Ergebnisse erreichen – wie sie das tun, bleibt ihnen mehr oder weniger selbst überlassen.
Welche Folgen hat das?
Die Schere zwischen Anforderungen und Ressourcen geht auseinander. Wenn Beschäftigte diese Situation in Eigenregie bewältigen müssen, ist Arbeitsintensivierung nicht mehr ein klassischer Rationalisierungseffekt, bei dem Arbeitgeber von oben versuchen, mehr aus den Leuten herauszuholen. Stattdessen sind es die Beschäftigten selbst, die ihre Arbeit verdichten oder entgrenzen, indem sie ihre Pausen nicht nehmen oder länger und an Wochenenden arbeiten.
Es geht also um die Kombination aus neuen Technologien und neuen Steuerungsformen. Heißt das, die Digitalisierung führt nicht automatisch zu Arbeitsverdichtung?
Genau. Beides ist möglich und findet statt: Digitale Technik kann entlasten, sie kann aber auch zu weiterer Arbeitsverdichtung beitragen. Oder sie kann Prozesse der Extensivierung befördern, indem sie zum Beispiel ermöglicht, dass Beschäftigte auch abends und am Wochenende ihre Mails bearbeiten und sich Arbeitszeiten dadurch entgrenzen.
Wenn Beschäftigte stärker selbst entscheiden können, wie und wann sie arbeiten, bedeutet das auch mehr Selbstbestimmung. Das ist doch etwas Positives?
Ja, das wird von dem meisten auch so wahrgenommen. Das Problematische ist, dass dies innerhalb eines Rahmens stattfindet, der sich der Selbstbestimmung entzieht. Nämlich dann, wenn die Anforderungen steigen, die Ressourcen aber gleich bleiben. Diesem Leistungsproblem sind zunächst einmal die Unternehmen ausgesetzt. Aufgrund der scharfen Konkurrenz müssen sie oft mehr Leistung zu gleichen oder geringeren Kosten bereitstellen. Das Leistungsproblem wird auf die Beschäftigten übertragen und führt dazu, dass die Selbstbestimmung oft auf ein Selbstmanagement von Überlastung hinausläuft.
Manche Beschäftigte berichten auch davon, dass sie weniger, nicht mehr Selbstbestimmung haben, etwa wenn Maschinen oder Kund*innen ihnen die Arbeit zuweisen.
Deshalb wird auch darüber diskutiert, ob wir mit der Digitalisierung eine Art Wiederkehr des Taylorismus erleben. Dafür gibt es tatsächlich einige Anhaltspunkte, zum Beispiel Berichte über die extreme Taktung und Fremdbestimmung von Tätigkeiten in den Amazon-Versandzentren. Ich meine aber, dass das nur bei ganz bestimmten Tätigkeiten überhaupt geht und es sich nicht um eine Trendumkehr handelt. Wie es nie nur den Taylorismus gab, so gibt es jetzt nicht nur eine Digitalisierung, die zu mehr Autonomie führt. Beides geschieht nebeneinander. Die Unternehmen probieren natürlich alles: Dort, wo klassische Rationalisierung nach tayloristischem Muster mit digitalen Mitteln funktioniert, wird es gemacht. Das ist aber begrenzt. Nahezu alle Tätigkeiten basieren mittlerweile darauf, dass die Menschen mitdenken. Deshalb glaube ich, dass die tayloristischen Ansätze zur Umsetzung der Digitalisierung zwar eine Rolle spielen, aber nicht die entscheidende.
Bislang reden wir darüber, wie die Unternehmen mit der Digitalisierung umgehen. Welche Handlungsmöglichkeiten haben denn die Beschäftigten? Sind sie den Entwicklungen hilflos ausgesetzt?
Es gibt unterschiedliche Formen des Umgangs damit. Die eine nennen wir Perfektionismus, die andere Pragmatismus. In beiden Fällen gehen wir aufgrund unserer Studienergebnisse davon aus, dass sich die Beschäftigten mit dem Problem steigender Anforderungen und begrenzter Ressourcen konfrontiert sehen. Darauf gibt es idealtypisch zwei Reaktionsmuster. Die eine ist, zu sagen: »Die Anforderungen sind gesetzt, ich muss versuchen, entsprechende Ressourcen aufzubringen.« Das machen Beschäftigte entweder über Selbstintensivierung – indem sie besser arbeiten, priorisieren, Seminare besuchen, um noch effektiver zu werden. Oder sie extensivieren ihre Arbeit, bleiben länger oder arbeiten am Wochenende. Diese Perfektionist*innen wollen trotz der unzureichenden Rahmenbedingungen gute Ergebnisse abliefern.
Die entgegengesetzte Reaktion ist es, zu sagen: »Meine Ressourcen sind begrenzt, ich habe nur eine bestimmte Zeit, in der ich arbeiten kann.« Diese Beschäftigten machen bei den Anforderungen Abstriche. Zwischen diesen idealtypischen Polen pendelt das Verhalten – sowohl der Beschäftigten als auch von Unternehmen. Natürlich wird in Unternehmen immer gesagt: Es geht um Perfektion, alle Anforderungen werden erfüllt. In der Praxis ist man aber doch pragmatisch und schaut, was geht. Zu bestimmen, wie man mit steigenden Anforderungen und begrenzten Ressourcen umgeht, sollte nicht nur ein individuelles Thema sein, sondern auch eine Managementaufgabe.
Im Moment werden Beschäftigte mit der Entscheidung oft allein gelassen, ob sie Abstriche bei sich oder an der Arbeitsqualität machen. Zum Beispiel in der Pflege. Ist das nur ein Managementfehler? Oder eher eine Strategie, die Beschäftigten mit diesem Dilemma allein zu lassen, in der Hoffnung, dass sie ihre eigenen Belange ignorieren?
Es ist ein Managementfehler, aber der Fehler hat System. Die Überlastung ist aus Unternehmenssicht Teil der Lösung. Mit der Hoffnung, dass Beschäftigte motiviert genug sind und genug Solidarität untereinander haben, das doch alles hinzukriegen. Die neuen indirekten Steuerungsformen versuchen, ein (reales) unternehmerisches Problem zum Problem der Beschäftigten zu machen.
Sie haben die beiden individuellen Reaktionsmuster auf Überforderung beschrieben: die eigene Gesundheit hinten anzustellen oder Abstriche an der Arbeitsqualität zu machen. Gibt es nicht auch kollektive Handlungsmöglichkeiten? Was können Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertretungen tun?
Die Interessenvertretungen müssen klar machen: Es geht nicht nur um das Erreichen der Ziele, die Ressourcen – also Arbeit, Zeit, Qualifikationen – müssen dazu passen. Diese Leistungspolitik in der Praxis durchzusetzen ist schwer. Hierbei spielt der Arbeits- und Gesundheitsschutz eine große Rolle, zum Beispiel Gefährdungsbeurteilungen. Es ist der Versuch, dafür zu sorgen, dass Arbeit nicht übermäßig belastet. Das ist eine kollektive Aufgabe. Hinzu kommen kulturelle Fragen: Werde ich schräg angeschaut, wenn ich »schon« um fünf oder sechs nach Hause gehe oder meinen geplanten Urlaub nehme, obwohl gerade viel los ist? Oder ist das legitim? Auch das wird kollektiv verhandelt.
Ein weiterer Aspekt ist, dass sich die Einstellung von Beschäftigten zu diesen Fragen im Laufe ihrer Berufsbiographie verändert. Beschäftigte berichten davon, dass sie heute anders arbeiten als früher, als sie jünger waren. Dahinter stehen zum Teil unangenehme Erfahrungen wie gesundheitliche oder private Probleme. Oft entsteht daraus eine eher pragmatische Praxis, die recht gut funktioniert. Aber dann kommen Jüngere in die Firma und beschweren sich, dass die Alten nicht mehr so schnell arbeiten, pünktlich Feierabend machen oder auf Pausen achten. Dass sie das tun, ist Ergebnis von Erfahrungen. Und diese sollten eine höhere Legitimität genießen.
Wie können solche betrieblichen und auch gesellschaftlichen Kulturen beeinflusst werden?
Es gibt zwei Ebenen, die eng miteinander zusammenhängen: Zum einen die Frage des Bewusstseins, zum anderen die der Regulierung. Gesellschaftlich wird vermehrt über Burnout, psychische Belastungen und Arbeitsintensivierung gesprochen und darüber, welche Anforderungen legitim sind. Und es gibt die Auseinandersetzungen um gesetzliche Regulierung. Zum Beispiel das Arbeitszeitgesetz, das manche gerne verwässern wollen. Doch die darin enthaltenen Regelungen sind nicht nur Ergebnis politischer Kämpfe, sondern auch wissenschaftlicher Analysen. Man weiß, was mit Menschen passiert, die dauerhaft über acht Stunden am Tag arbeiten. Arbeit muss reguliert werden, sonst regiert allein der Markt und die Menschen bleiben auf der Strecke.
Das Interview erschien zuerst in der ▸ver.di-Studie »Leistungssteuerung und Arbeitsintensität«. Wir danken für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.