Ohnmächtiger Antifaschismus und gegenmächtiger Antifaschismus
20. Oktober 2015 | Ingar Solty
Antifaschismus greift zu kurz, wenn er subjektive Ohnmacht als Ursache rechten Denkens nicht in den Blick nimmt: Wer Rechtsextremismus bekämpfen will, muss (auch) gegen Sozial- und Demokratieabbau eintreten.
Nachdem das Attentat auf die OB-Kandidatin Henriette Reker in Köln sich als die Tat eines Rechtsextremisten herausgestellt hat, weisen viele Kommentatoren in der linksliberalen Presse auf den Zusammenhang zwischen Biedermännern und Brandstiftern hin. Die rund dreihundert körperlichen Angriffe und Brandanschläge auf bewohnte und noch unbewohnte Asylbewerberheime und der zweite rechtsterroristische Mordanschlag auf eine Politikerin – der erste war der Sprengstoffanschlag auf den Freitaler Linke-Politiker Michael Richter – kommen, wie der taz-Inlandsredakteur Pascal Beucker richtig schreibt, »nicht aus heiterem Himmel«. Sie sind vielmehr »die Folge einer immer lauter und widerwärtiger werdenden fremdenfeindlichen Hetze.« Die »Grenze zwischen Rechtspopulismus und Rechtsterrorismus«, so Beucker, sei »allzu offen«.
Im Interview mit dem »Kölner Stadtanzeiger« hat auch der bedeutende Sozialpsychologe Andreas Zick, der mit Wilhelm Heitmeyer zehn Jahre lang im Forschungsprojekt »Deutsche Zustände« die Entwicklung von rechtsextremen Einstellungen in Deutschland, die sie unter dem Begriff »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« fassen, untersucht hat, darauf hingewiesen, dass der Täter zwar ein Einzeltäter, der Anschlag jedoch ein Symptom eines zunehmenden Rechtsextremismus in der Gesellschaft sei.
Analytisch ist dabei das, was er sagt, erwartungsgemäß fundiert und differenziert. Politisch allerdings ist Zicks vorgeschlagene Gegenstrategie erstaunlich hilflos, wenn er vorschlägt, man müsse »die Zivilgesellschaft stärken, die hoch ideologisierte und gewaltorientierte Personen in ihrem Umfeld erkennt«. Und man solle »daran denken, dass massive Anteile von Nichtwählern radikale Einstellungen« hätten. Wer »mit Vorurteilen« spiele, beflügle sie.
Zick scheint also – ins Konkrete übersetzt – für eine Mischung aus Zivilcourage, einen Ausbau der Förderung von »mobilen Beratungen gegen Rechtsextremismus« zu plädieren und appelliert scheinbar ferner an die CSU, die AfD und andere Konservative, auf rechtspopulistische »Das-Boot-ist-voll«-Hetze zu verzichten, nicht die »race card« zu spielen (wie man es in Großbritannien sagt).
Natürlich sind diese Initiativen essentiell; und natürlich ist es wichtig, das eigene Umfeld für rechte Diskursstrategien zu sensibilisieren – auch nicht wegzuschauen, sondern zu intervenieren und rechte Argumentationsmuster zu entlarven, wenn sie einem in der Schule, am Arbeitsplatz oder auf Facebook begegnen. Nur, da wir ja alle schon einmal mit Leuten, die zu rechtsextremen Einstellungen neigen, diskutiert haben, wissen wir nur zu genau, dass es da häufig nicht um Argumente geht, dass nicht nur Menschen mit einem »geschlossenen rechten Weltbild«, sondern auch andere Rechtstendierende auf leise Kritik oft äußerst aggressiv reagieren und für rationale Argumente nicht zugänglich sind. Ja hierfür auch nicht offen sein können, weil ihre Vorurteile und Ressentiments häufig eine spezifische sozialpsychologische Funktion in ihrer Lebensführung erfüllen – nämlich als Rechtfertigungen dafür zu dienen, sich an Schwächeren wie Flüchtlingen, Langzeitarbeitslosen, Obdachlosen oder Zugezogenen schadlos halten zu können, indem man nach unten tretend Dampf ablässt, während ein individuelles Sich-Wehren gegen Stärkere, das Kämpfen gegen die Mächtigen oben große Gefahren in sich birgt.
Entsprechend ist Zicks zivilgesellschaftliche Sensibilisierung letztlich nichts Anderes als ein wirkungsloser Eliten-Antifaschismus oder – wie ich es im Anschluss an Wolfgang Fritz Haug und in Bezug auf die Tea Party einmal genannt habe – der »hilflose Antifaschismus des Blocks an der Macht«. Er versucht das politische Problem »Rechtsextremismus« auf der Symptomebene zu bekämpfen, nicht aber seine gesellschaftlichen Wurzeln.
Aber was sind die gesellschaftlichen Ursachen? Es ist das Gefühl gesellschaftlicher und politischer Ohnmacht: Das Gefühl, sein Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben; das Gefühl, dass Wahlen nichts ändern; das Gefühl, dass die Welt um einen herum gefährlich geworden ist und sich subjektiv zum Negativen hin verändert, man selber aber keinerlei Einfluss darauf zu haben scheint.
Als jahrelanger Rechtsextremismusforscher kennt und benennt Zick diese Wurzeln des Rechtsextremismus natürlich auch, wenn er vom »Frust und Hass« bei Menschen spricht, »die sich ohnmächtig und unfair behandelt fühlen« und deshalb »durch Propaganda in einen Zustand überführt werden, indem sie die Art und Weise, wie der Staat Konflikte reguliert, infrage stellen«. Frust, so Zick, sei »Folge von fehlendem sozialem Einfluss«.
Tatsächlich haben Zicks »Deutsche Zustände« ja immer wieder auf den Zusammenhang zwischen dieser subjektiven (Massen-)Ohnmacht und jenem rechtsextremen Denken hingewiesen, das auf (»Deutsche-zuerst«-)»Etabliertenvorrechten«, d.h. Wohlstandschauvinismus, und »Abwertung von Langzeitarbeitslosen/Obdachlosen«, d.h. dem sozialdarwinistisch motivierten Hass auf vermeintlich »Unproduktive«, beruht. Ein Denken, das dann - wie auf Utøya oder in Köln - ein Handeln hervorbringen kann, bei dem Gewalt als subjektive Notwehr erscheinen mag. (Denn Terrorismus war, wie wir aus der Geschichte des Terrorismus – und linken Anarchismus in Russland und anderen osteuropäischen Staaten – wissen, i.d.R. immer ein Ausdruck von Ohnmacht und eine sich für subjektiv erlittenes Unrecht rächende Selbstermächtigung. Dabei kann sich der Terrorismus – nicht nur der rechte, auch der gegen die Mächtigen gerichtete linke – oft auf eine wahrgenommene populare Legitimität stützen, die im Fall des Frank S., der sich als Märtyrer und Vollstrecker eines geheimen Volkswillens inszeniert hat, aus der Verbreitung von rechtsextremen Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft resultiert.)
Was hieße es aber, den Rechtsextremismus nachhaltig zu bekämpfen? Der Rechtspopulismus und sein Umschlagen in rechtsterroristisches Gewalthandeln – organisiert wie bei der NSU oder individuell wie bei den »Einsamen Wölfen« Anders Behring Breivik und Frank S. – lassen sich tatsächlich nur dann wirksam bekämpfen, wenn man an eben an seiner Wurzel, der subjektiven Ohnmacht, ansetzt. Eigentlich weiß das auch Zick. Die Frage stellt sich also, warum Zicks Praxisvorschläge dennoch so harmlos sind. Denn natürlich ist es wichtig, individuell Zivilcourage zu zeigen, zivilgesellschaftliche Initiativen gegen rechts zu fördern und den Zusammenhang zwischen populistisch-konservativer Antiflüchtlingsrhetorik und rechter Gewalt aufzuzeigen. Die Ursachen und nicht die Symptome des Rechtsextremismus zu bekämpfen, würde aber heißen, politisch Haltung einzunehmen und den Sozial- und Demokratieabbau als die zentralen Triebkräfte des Rechtsextremismus zu erkennen und zu benennen. Dies gilt umso mehr, weil der sozialdarwinistische Rechtsextremismus ja letztlich auch nur die radikale Konsequenzziehung des herrschenden wirtschaftsliberalen (»neoliberalen«) Effizienz-Denkens und Ökonomismus ist, wie wir durch die Rechtsextremismusforschung von Franz Neumann über Reinhard Kühnl bis Herbert Schui (»Wollt ihr den totalen Markt?«) schon lange wissen.
Konkret heißt das: Wer Rechtsextremismus nachhaltig bekämpfen will, muss für reale Gegenmachterfahrungen bei den »kleinen Männern (und seltener Frauen)« sorgen – für die Erfahrung, dass man nicht immer nur das Opfer der Geschichte sein muss, nicht immer nur Amboss ist, sondern auch Hammer sein kann. In diesem Sinne ist jeder Streik, der zu Lohnerhöhungen oder besseren Arbeitsbedingungen führt, jeder Massenprotest, der die Erhöhung von Hartz-IV-Sätzen oder die Abschaffung von Studiengebühren erzwingt (denn Geld ist, wie die Bankenrettungen gezeigt haben, immer genug da), antifaschistisch. Ja, eigentlich ist nur das auch ein wirklich nachhaltiger, nicht-hilfloser Antifaschismus, der dem ohnmächtigen Antifaschismus der Eliten einen gegenmächtigen Antifaschismus der Massen entgegenstellt.
Ein solcher antifaschistischer Politikansatz heißt dabei im Übrigen nicht, dass jetzt Nazidemoblockaden sinnlos seien, im Gegenteil. Und er impliziert auch nicht, dass das Bündnis mit den bürgerlichen Antifaschistinnen und Antifaschisten liberaler oder konservativer Provenienz nicht wichtig wäre. Bei allen fließenden Übergängen zwischen (wirtschaftsliberalem) Konservatismus und Faschismus gibt es eine Trennlinie an jenem Punkt, wo die Faschisten mit dem Humanismus gänzlich brechen wollen (etwa bei Eugenik und Euthanasie, Pogrom-Mobgewalt oder staatlich organisiertem Völkermord an Juden oder Muslimen etc.) und Konservative diesen Weg – trotz ihrer an Sozialdarwinismus grenzenden Leistungsideologie, trotz ihrer Islamfeindlichkeit, trotz ihrer Abschiebe- und Antiflüchtlingspolitik etc. – nicht mitzugehen bereit sind. Und an dieser Stelle waren sie historisch und bleiben sie bis heute ein Bündnispartner gegen die totale völkische Barbarei.
Aber fatal wäre es zugleich, keinen klaren Unterschied zu sehen zwischen dem eigenen linken und sozial(istisch)en Antifaschismus der Gegenmacht einerseits und andererseits dem ohnmächtigen Antifaschismus der Eliten, die erst die Rente oder Stütze kürzen und für prekäre Beschäftigungsverhältnisse sorgen (welche dann die Ohnmacht und die Angst vor sozialem Abstieg als wichtigste Triebkräfte der extremen Rechten in der Mitte der Gesellschaft verankern) und die dann den Zeigefinger moralisch erheben, wenn die subjektiv Ohnmächtigen in ihrer Wut über diese Ungerechtigkeit zu rechtem Gedankengut neigen – und zum Schluss aus ihrer subjektiven Ohnmacht heraus rechtsterroristisch handeln.
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Ingar Solty ist Mitarbeiter des Forschungsprojekts "Die europäische Frage in einer Zeit der ökonomischen und politischen Krisen" an der York University in Toronto und Fellow des Berliner Instituts für kritische Theorie. Er lebt derzeit in Berlin.